Kapitel 25

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Manchmal führt der Schmerz uns dorthin, wo das Glück der Sterne schon lange auf uns wartet.

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Die nächsten Wochen waren sehr nervenaufreibend. Nicole gehörte zu einer Gruppe von Heilpraktikerinnen, die eng mit einem Frauenhaus zusammenarbeiteten und darum auch mit der Polizei. So bekamen Yasmin und Aisha eine neue Identität. Im Krankenhaus wurde Yasmin unter dem Namen Soraya Acar geführt. Um wirklich jeden Verdacht auszuräumen, wurde ich auf ihren Wunsch hin als ihre Lebenspartnerin eingetragen.

Ich – ihre Lebenspartnerin! Noch mehr Glück konnte ich gar nicht haben. Natürlich waren die Umstände schmerzerfüllt, die zu diesem Glück geführt hatten, aber wir dachten nicht an die Vergangenheit. All unsere Kraft richtete sich auf unsere Zukunft – unsere Zukunft mit Aisha.

In meiner Mittagspause fuhr ich zum Krankenhaus und besuchte unser süßes Mädchen auf der Intensivstation. Sie war so klein und zerbrechlich und doch so bezaubernd. Nach Feierabend besuchte ich gemeinsam mit Yasmin – Soraya – unsere Tochter. Wir fühlten uns wie eine richtige kleine Familie.

Aber dann fand ich im Postkasten einen Brief ohne Absender, auf dem nur „Yasmin“ stand. Gemeinsam mit meinen Eltern öffnete ich ihn, und wir stellten bestürzt fest, dass es ein Drohbrief war.

 

Du kannst deinen Namen ändern, so oft du willst, Soraya, ich werde dich finden und büßen lassen. Und dein Balg wird vom Antlitz der Erde gelöscht.

 

Ich starrte auf die krakelige Schrift. Die Buchstaben waren mit schwarzem Filzstift geschrieben. Meine Mutter hielt sich die Hand vor den Mund. „Das ist … Das ist Wahnsinn. Wer schreibt so etwas?“

„Ahmed“, flüsterte ich, und eisige Kälte durchströmte mich. Es war doch nicht vorbei. Was hatte ich übersehen?

Mein Vater nahm das Blatt in die Hand, dann das Kuvert. „Das ist kein leerer Drohbrief. Er weiß, dass sie jetzt Soraya heißt. Und dass Aisha lebt. Er hat schon einmal versucht, sie zu töten. Er wird es wieder tun.“

„Ich bin schuld“, murmelte ich bestürzt. „Ich hätte niemals als ihre Lebenspartnerin eingetragen werden dürfen.“

Meine Mutter schlug eine Hand vor ihren Mund, und mein Vater nickte zustimmend. „Da gebe ich dir recht, Verena. Der Mann geht davon aus, dass deine neue Lebenspartnerin niemand anders als seine Frau Yasmin sein kann.“



„Ich glaube, ich weiß jetzt auch, wie er uns beim ersten Mal gefunden hat.“ Ich blickte meine Eltern an. „Ich hatte Yasmin auf einem Zettel meine Adresse und Telefonnummer aufgeschrieben. Er wird sie gefunden haben.“

Mein Vater sprang auf. „Wenn das wahr ist, dann hat er dich vielleicht die ganze Zeit beobachten lassen. Jetzt der Drohbrief. Die beiden sind in ernsthafter Gefahr!“

„Ich muss zu ihr“, rief ich und stand auf. „Jetzt gleich.“

„Warte.“ Meine Mutter fasste nach meiner Hand. „Nicht alleine. Dein Vater bringt dich. Und wir rufen Nicole an. Vielleicht weiß sie, was zu tun ist.“

Nicole. Natürlich. Ich griff nach meinem Handy und rief sie an. Zum Glück ging sie sofort ran. Als ich ihr den Brief vorlas, hörte sie schweigend zu. Dann sagte sie nur: „Kommt ins Krankenhaus. Ich informiere das Frauenhaus und die Polizei. Es wird niemandem gelingen, Soraya zu finden. Nicht, solange ich lebe.“

 

Als wir in der Klinik ankamen, wurde meine Unruhe größer. Ein Polizeiauto parkte direkt vor der Eingangstür. Mein Vater ließ mich aussteigen. „Geh schon vor, ich suche einen Parkplatz.“ Ich nickte und eilte ins Gebäude. Zwei Polizisten standen am Empfang, einer sprach gerade mit einer der Krankenschwestern.

Mein Herz raste, als ich an ihnen vorbeilief zu den Fahrstühlen. Sollte ich zuerst zu Aisha fahren und nachsehen, ob alles in Ordnung war – oder sollte ich zu Yasmin fahren und ihr alles erzählen, um dann gemeinsam mit ihr nach unserer süßen Tochter zu sehen?

Als der Fahrstuhl hielt, zögerte ich kurz, dann wählte ich die Station von Yasmin. Sie war die Mutter, sie musste von dem Brief erfahren. Kaum trat ich aus dem Fahrstuhl, kam Nicole mir entgegen. „Verena. Gut, dass du da bist.“

„Ist Aisha in Sicherheit?“

„Ja. Sie wurde in einen geschützten Teil der Station verlegt. Aber du musst jetzt stark sein. Neben dem Drohbrief gab es noch einen Vorfall.“

„Ein Vorfall?“ Panik flutete mich. Hatte ich die letzten Wochen in einer glückseligen Traumblase verbracht, die jetzt auf schmerzhafte Weise zerplatzte?

„Jemand hat versucht, sich Zutritt zur Intensivstation zu verschaffen. Ein Mann mit einer falschen Besuchermarke. Er sagte, er sei der Onkel eines Neugeborenen. Doch als man ihn nach einem Namen fragte, wurde er nervös und lief davon.“



Ich taumelte und stützte mich an der Wand ab. „Ahmed – er war also auch hier.“

„Wir gehen davon aus.“ Nicole berührte mich sanft an der Schulter. „Verena, Männer wie er werden immer Wege finden, sich an ihren Frauen zu rächen für vermeintliches Versagen.“ Ihre Stimme wurde leiser. „Wenn Yasmin jetzt bereit ist … Das Sternenland ist es.“

Ich nickte, denn ich verstand, was sie mir damit sagen wollte. Wenn wir ganz sicher sein wollten, mussten Yasmin und Aisha diese Welt verlassen, und zwar so lange, wie es nötig war. Ich schluckte, denn ich war nicht sicher, ob ich schon dazu bereit war. Bereit, die beiden gehen zu lassen.

Mit hängenden Schultern schritt ich zu Yasmins Zimmer. Für sehr kurze Zeit war ich ihre Lebenspartnerin gewesen – wenn auch nur auf dem Papier. Wir waren Mütter einer bezaubernden Tochter gewesen. Für mich war dieser Traum bald vorüber.

Ich öffnete die Tür und setzte ein Lächeln auf. Yasmin hob den Kopf und lächelte zurück. „Hallo“, sagte ich, trat ein und schloss die Tür hinter mir.

„Verena, wie schön“, sagte sie. „Wie geht es Aisha?“

„Gut“, murmelte ich. Zögernd trat ich zu ihr ans Bett, ergriff ihre Hand und streichelte sie. „Ihr gehts gut. Aber, Yasmin …“

„Yasmin?“, stieß sie leise hervor. „Wieso nennst du mich Yasmin?“

Ich holte tief Luft. „Wir haben einen Drohbrief bekommen. Und es gab einen Zwischenfall hier im Krankenhaus. Ahmed weiß, dass du deinen Namen geändert hast. Die Polizei ist bereits hier. Und Nicole …“ Ich schluckte. Es fiel mir so schwer, es auszusprechen. „Nicole sagte … Das Sternenland ist bereit für dich und Aisha.“

„Aisha kann das Krankenhaus nicht verlassen, sie ist noch viel zu klein“, widersprach Yasmin. „Sie muss beatmet werden. Und sie kann nicht allein trinken.“

„Im Sternenland gelten andere Gesetze“, erklang Nicoles Stimme von der Tür. Ich zuckte zusammen und schaute zu ihr. Ich hatte gar nicht gehört, wie die Tür geöffnet worden war. „Yasmin, wenn du den Schutz der Sterne anrufst, werden sie ihn dir gewähren. Denn du bist so wie Verena eine Schwester.“

„Eine Schwester?“ Yasmin sah verwirrt zwischen Nicole und mir hin und her.

„Erinnerst du dich an das Sternenzimmer?“, fragte Nicole mit sanfter Stimme und trat ans Bett. Yasmin nickte zögerlich. „Ich hatte den Sternenpfad geöffnet, doch du warst noch nicht bereit, ihn zu betreten.“



Yasmin sah mich an. Ihre Finger verkrampften sich um meine. „Verena, was bedeutet das? Verlässt du uns, mich und Aisha?“

„Vielleicht“, sagte ich vorsichtig. „Aber du kannst nicht länger warten. Du musst gehen. Ahmed wird dich immer wieder finden.“

Yasmins Augen füllten sich mit Tränen. „Ich habe Angst.“

„Du musst keine Angst haben.“ Ich streichelte ihre Hand. „Bei Nicole, im Sternenland, da seid ihr sicher. Dahin kann Ahmed niemals gelangen.“

„Und wenn doch?“, stieß Yasmin schluchzend hervor. „Dann bin ich ganz allein, niemand ist da, der mich kennt und mich beschützt.“

„Der Weg ins Sternenland ist für Männer wie Ahmed verschlossen“, erklärte Nicole mit fester Stimme. „Die Sterne haben das Land zum Schutz für bedrohte Wesen erschaffen. Sie werden den Pfad nicht für Ahmed öffnen.“

„Kannst du denn nicht mitkommen?“, fragte Yasmin mit brüchiger Stimme und drückte wieder schmerzvoll meine Hand.

„Wohin mitkommen?“, erklang die Stimme meines Vaters von der Tür her. Ich zuckte erneut zusammen. Wieso konnten sich plötzlich alle anschleichen, und ich bemerkte es gar nicht?

„Yasmin muss mit Aisha von hier fortgebracht werden“, erklärte Nicole mit ruhiger Stimme. „Ein neuer Name allein reicht nicht aus.“

„Wieso, was ist denn noch passiert?“ Mein Vater kam näher und runzelte besorgt die Stirn.

„Ein Mann hat sich Zutritt zur Intensivstation der Neugeborenen verschaffen wollen. Die Polizei geht davon aus, dass es sich bei dem Mann um Ahmed gehandelt hat.“

Mein Vater wurde blass. Er taumelte und musste sich am Bettgestell festhalten. „Wie geht es Aisha? Ist sie gesund?“

„Ja, es geht ihr gut. Ein Pfleger hat dem Mann den Zutritt verweigert.“ Nicole berührte meinen Vater am Arm. „Soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen?“

„Nein, nein, es geht schon“, wehrte er ab. „Aber was ist das nun mit dem Mitkommen? Darf Verena denn ihre Frau und ihr Kind nicht begleiten?“

„Papa, ich kann doch …“

„Natürlich kannst du!“, unterbrach er mich. „Du liebst Yasmin. Wie kannst du sie da allein gehen lassen. Wenn du sie begleiten darfst, dann bist du verpflichtet, bei ihr zu bleiben.“ Er schüttelte den Kopf. „So eine Frage hätte sich mir nie gestellt. Ich wäre deiner Mutter überallhin gefolgt. Sogar zu den Sternen, wenn sie dahin gewollt hätte.“



Ich starrte ihn verblüfft an. Wenn er wüsste, wie nah er mit seinen Worten der Wahrheit kam. Aber es machte mich froh, dass er mir Mut zusprach.

„Also“, fragte Yasmin zaghaft, „wirst du mitkommen?“

Ich blickte zu Nicole, und sie nickte. Lächelnd neigte ich meinen Kopf und lehnte meine Stirn gegen Yasmins. „Ich komme gern mit, von Herzen gern.“

„Wahrscheinlich wird das jetzt alles sehr schnell gehen und wir werden nicht erfahren, wohin es genau geht?“, fragte mein Vater. Nicole bejahte es, und mein Vater atmete tief durch. Dann zog er mich in seine Arme, drückte mich und sprach mir liebevoll ins Ohr: „Pass gut auf dich auf, mein Schatz, und auf deine Frau und euer Kind. Und vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder.“ Er gab mir noch einen Kuss auf Stirn. Ich flüsterte: „Ich hab dich lieb, Papa.“ Schon drehte er sich um und verließ mit raschen Schritten das Zimmer.

„Und wie machen wir das mit dem Sternenzimmer?“, fragte ich unsicher. „Wie sollen wir Yasmin und Aisha dorthin bringen?“

Nicole lächelte sanft. „Wir drei gehen hinüber zu Aisha. Und die Sterne werden uns dort einen Weg hinlenken.“

„Auf der Intensivstation?“ Ich blickte ungläubig.

„Auf der Intensivstation“, wiederholte Nicole. „Der Sternenpfad kann überall leuchten. Wir Töchter müssen ihn nur rufen.“

Gemeinsam gingen wir zum Fahrstuhl und fuhren hinunter. Der Weg zur Intensivstation der Neugeborenen erschien mir dieses Mal endlos weit entfernt, aber irgendwann waren wir da. Eine Schwester holte uns Aisha aus dem Brutkasten und legte sie Yasmin in die Arme. Vorsichtig deckte ich die Kleine zu, strich zart über das Köpfchen und spürte unendlich viel Liebe in mir für dieses unschuldige Wesen.

Wir gingen ins Stillzimmer, das ruhig und leer auf uns wartete. Nicole reichte uns die Hände und sagte die Verse auf. Um uns herum verschwand der Klinikraum, dunkelblaue Nacht hüllte uns ein, während Millionen von Sternen glitzerten. Direkt vor uns tauchte der Sternenpfad auf.

Yasmin atmete tief ein. Sie sah zu mir. „Ich bin bereit.“ Sie drückte meine Hand ein wenig fester, dann machte sie einen Schritt nach vorn, auf den leuchtenden Pfad. Ich folgte ihr und unserer Tochter.

Vor uns lag ein Neubeginn, eine Welt voller Magie und Frieden.



Und Liebe.

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