Kapitel 10
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»Was machst du denn heute Abend?«, wollte Iris wissen.
Kerstin zögerte. Sie war gerade durch die Haustür getreten, als das Telefon geklingelt hatte, und trug noch Mantel und Stiefel. Es war ein langer Tag gewesen. Pünktlich zum Dienstschluss war ein Notfall hereingekommen, ein Kind, das sich beim Spielen verletzt hatte. Sie hatte assistieren dürfen, doch die Versorgung hatte fast eine Stunde gedauert. Nun war sie rechtschaffen müde und freute sich aufs Wochenende.
»Nichts Besonderes. Vermutlich hänge ich mich einfach vor die Glotze.«
»Ach komm schon, es ist Freitag. Sei nicht so langweilig. Wie wäre es mit einer kleinen Party bei Freunden?«
»Freunde von dir, nehme ich an.«
»Ja, natürlich.«
»Sei mir nicht böse, aber viel Lust habe ich nicht. Ich hatte einen langen Tag.«
»Aber ich kann da nicht allein aufkreuzen. Es ist eine Abschiedsparty in Hamburg. Da ist einer mit dem Studium fertig und verlässt nächste Woche die Stadt. Ich habe mich in seinen Mitbewohner verknallt. Du, der ist vielleicht süß, ich muss ihn unbedingt wiedersehen. Nur wie gesagt, will ich nicht allein hin. Du musst mitkommen.«
Kerstin lachte. Iris hatte sich seit ihrem Norwegenurlaub letzten Sommer bestimmt schon drei Mal unsterblich verliebt. Leider hatte es nie so geklappt, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie seufzte. Natürlich würde sie ihre Freundin nicht hängenlassen. »Na gut, ich gehe mit.«
»Ich hole dich in einer Stunde ab. Ist das okay? Es gibt auch was zu essen.«
Kerstin machte sich nicht besonders schick. Für eine Studentenfete reichten Jeans und Pulli. Sie fröstelte, als sie an der Straße wartete. Dieser Februar war eisig kalt und sie sehnte sich nach dem Frühling.
Iris kam pünktlich. Während sie nach Hamburg fuhren, hatte Kerstin das Gefühl, dass ihre Freundin nervös war. Sie vermutete, dass die Aussicht, ihren Schwarm wieder zu treffen, dahintersteckte, und lächelte in sich hinein. Doch Iris seufzte unbehaglich, als sie vor einem Hochhaus parkte. »Ich muss dir etwas sagen, Kerstin. Ich kann dich nicht einfach so da reingehen lassen. Bitte sei mir nicht böse.«
»Wieso?« Verwundert sah sie ihre Freundin an. »Was ist denn los?«
»Dieser Student, der jetzt fertig ist und wieder heimfährt, das ist Morten.«
»Was?« Mit offenem Mund starrte Kerstin Iris an. »Morten?«
Iris nickte kläglich.
»Wieso habt ihr noch Kontakt? Ich dachte, du warst so sauer auf ihn, weil er dich hat abblitzen lassen.«
»War ich auch. Aber das ist über ein halbes Jahr her. Er hat mich nach Weihnachten angerufen.«
»Hatte er deine Telefonnummer?«
»Ja, die musste ich bei dem Vertragsabschluss für unser Ferienhäuschen angeben. Er hat den Besitzer danach gefragt. Er hat sich entschuldigt und gemeint, es wäre nicht sehr fair gewesen, wie er mich behandelt hat, und er würde mich als Wiedergutmachung gern zum Kaffee einladen.«
»Davon hast du mir überhaupt nichts erzählt.«
»Ich wusste nicht, wie du darauf reagierst. Denn Morten wollte natürlich wissen, wie es dir geht. Ich vermute, die ganze Einladung war eher ein Vorwand. Er scheint noch sehr an dir zu hängen.«
»Hoffentlich nicht.«
»Auf jeden Fall habe ich ihn danach zu seiner Wohnung begleitet, weil er mir etwas schenken wollte. Ein Poster von dem Haus als Erinnerung. Es waren zwei, auch eins für dich. Ich habe mich nur noch nicht getraut, es dir zu geben.« Iris lächelte entschuldigend. »Und bei der Gelegenheit habe ich seinen Mitbewohner kennengelernt. Ein Schnuckelchen, wie es im Buch steht. Ich muss ihn einfach wiedersehen. Als Morten uns für seine Party eingeladen hat, war mir ziemlich klar, dass es ihm nur um dich geht, aber er war wirklich nett. Also bitte tu mir den Gefallen und geh mit rein.«
Kerstin zögerte. War es eine gute Idee, Morten wiederzusehen? Iris’ Behauptung, dass er noch sehr an ihr hing, weckte gemischte Gefühle in ihr. Wenn er sie nun wieder bedrängte? Andererseits waren sie nicht allein. Sie musste nur darauf achten, immer in der Nähe anderer Menschen zu sein, dann konnte nichts passieren. Sie hatte ja nichts gegen Morten und es würde durchaus nett sein, ihre Bekanntschaft zu erneuern. »Mach dir keine Gedanken«, sagte sie. »Natürlich komme ich mit.«
Erleichtert atmete Iris auf. »Da bin ich echt froh. Komm.«
Morten wohnte im zweiten Stock des Hochhauses. Kaum hatten sie geklingelt, als die Tür von einem freundlich lächelnden jungen Mann geöffnet wurde. »Hallo«, begrüßte er sie. »Ich bin Uwe, Mortens Mitbewohner.«
Kerstin stellte sich vor und beäugte den jungen Mann genauer. Er hatte ein schmales, intelligent wirkendes Gesicht und dunkle Haare. Unüblich für Iris, die ebenso wie sie eher auf blonde Männer stand. Aber die Haarfarbe war ja nicht ausschlaggebend. Uwe sah sehr sympathisch aus und Kerstin hoffte von Herzen, dass sich die Hoffnungen ihrer Freundin endlich einmal erfüllen würden.
Sie trat in einen großen Aufenthaltsraum, der voller Menschen war. Dem Anschein nach waren alle Studenten, die sich untereinander kannten. Plötzlich fühlte sie sich wie ein Fremdkörper.
Da hob Morten, den sie in einer kleinen Gruppe ausmachte, den Kopf. Er strahlte übers ganze Gesicht, als er sie sah, und kam sofort auf sie zu. Gut sah er aus. Die blonden Haare waren ein wenig länger als im Sommer und er hatte sich einen Schnauzbart wachsen lassen, der ihm gut stand. Für einen Moment fragte sich Kerstin, ob mit ihr etwas nicht stimmte, dass sie so gar nicht auf diesen attraktiven Mann ansprang.
»Kerstin.« Er nahm sie in die Arme und drückte sie fest. »Ich freue mich so sehr, dich wiederzusehen. Wie geht es dir?«
»Gut, danke, ich mache eine Ausbildung bei einem Kinderarzt und das gefällt mir richtig gut.«
»Hast du einen Freund?«
»Nein, der Richtige hat meinen Weg noch nicht gekreuzt.«
»Dann kann ich mir noch Hoffnungen machen?« Er grinste spöttisch.
»Tut mir leid, Morten, an meinen Gefühlen hat sich nichts geändert.«
»Du bist nicht nächtelang wach gelegen und hast dich nach mir verzehrt?« Er zog ein ungläubiges Gesicht, doch die blauen Augen funkelten fröhlich. »Nicht zu fassen.«
Kerstin war erleichtert. Er schien seine große Liebe zu ihr überwunden zu haben. Darüber war sie froh. Auf freundschaftlicher Basis wollte sie durchaus mit Morten verkehren.
Jemand rief nach ihm. Er warf einen bedauernden Blick auf Kerstin. »Ich muss mich mal um meine Gäste kümmern. Lauf nicht wieder weg, ohne mit mir zu sprechen, ja?«
Sie fühlte einen schuldbewussten Stich in ihrem Inneren, als sie daran dachte, wie sie ihn an ihrem letzten Urlaubstag hatten auflaufen lassen. Das war wirklich nicht sehr nett von ihnen gewesen.
Sie sah sich um. Iris war nirgendwo zu sehen.
»Hallo, wer bist du denn?«, hörte sie plötzlich eine dunkle Stimme.
Sie drehte sich um. »Ich bin Kerstin«, sagte sie zu dem jungen Mann, der hinter ihr stand. »Eine Bekannte von Morten.«
»Ja, das sind sie hier alle.« Er grinste. »Magst du was trinken?«
»Gerne.« Kerstin folgte ihm zu einem Tisch mit Getränken und ließ sich ein Glas Wasser einschenken. »Hast du auch einen Namen?«, fragte sie ihn.
»Ja, meine Eltern haben sich die Mühe gemacht, mir einen zu geben.« Er schmunzelte. »Ich heiße Stefan.«
»Du bist aber nicht von hier, oder?«
Stefan zog den Kopf ein. »Merkt man es so deutlich?« Er verzog das Gesicht. »So ein Mist. Morten unterstellt man so etwas nie. Der würde problemlos als Hamburger durchgehen. Nur mich erkennt man auf den ersten Blick als Alien.«
Kerstin grinste. Sie mochte seine lockere Art. »Bist du Österreicher?«, schoss sie ins Blaue. Seine Aussprache klang danach.
Er seufzte. »Noch schlimmer«, sagte er mit todernster Miene. »Ich stamme aus Bayern.«
»Oh je. Und hast du schon mal einen Arzt gefragt, ob man da etwas dagegen tun kann?«
»Dutzende. Aber das ist ein Gendefizit, dagegen sind alle Medikamente machtlos.«
»So ein Pech.« Kerstin amüsierte sich köstlich. Stefan war nicht nur witzig, er war auch ein hübscher Kerl mit dunkelblonden Haaren und grau-blauen Augen in einem symmetrisch geschnittenen Gesicht. Die vergnügt blitzenden Augen hatten es ihr besonders angetan.
Doch bevor er etwas erwidern konnte, schob sich Iris zwischen sie. »Schenkst du mir auch was ein?«, fragte sie ihn.
»Gerne. Was magst du denn?«
»Cola, bitte.«
Während Stefan einschenkte, legte Iris Kerstin den Arm um die Schultern. »Wie ich sehe, hast du meine Freundin schon kennengelernt.«
»Stimmt.« Er reichte ihr das Glas mit einem freundlichen Lächeln. »Sie war die Einzige, die ich nicht kannte, das musste ich umgehend ändern.«
Weitere Gäste kamen zum Tisch, um ihre Getränke nachzufüllen, und sie wurden getrennt. Kerstin fand es schade, sie hätte sich gerne noch länger mit Stefan unterhalten. Sie sah sich in der Wohnung um, als sie plötzlich von hinten umfasst wurde und sich eine Wange an ihre schmiegte. »Ich habe dich vermisst«, murmelte Morten an ihrem Ohr. »Du weißt gar nicht, wie sehr.«
»Morten, bitte«, entgegnete sie gequält. »Das Thema hatten wir doch schon.«
Er nahm sie bei der Hand und zog sie in ein Schlafzimmer. Alles in Kerstin sträubte sich, mitzugehen, doch er ließ sie nicht los. »Keine Angst«, murmelte er bitter. »Ich falle nicht über dich her. Ich möchte nur an einem ruhigen Ort mit dir reden.«
»Okay«, dehnte sie vorsichtig.
Er schloss die Tür und sah sie traurig an. »Warum seid ihr damals so einfach verschwunden? Ich kam gegen Mittag, um euch zu verabschieden und ihr wart schon fort.«
»Das hatte ich dir doch geschrieben. Wir haben uns entschlossen, früher zu fahren, um noch etwas Puffer zu haben.«
»Blödsinn«, fuhr er auf. »Eure Fähre ging erst am Abend und der Weg dorthin beträgt gerade mal neunzig Minuten. Du hast mich angelogen, Kerstin. Ihr habt das geplant.«
Sie schüttelte ansatzweise den Kopf, sah jedoch, dass er ihr nicht glaubte. »Es tut mir leid, Morten, wir dachten, es wäre das Beste für uns alle. Iris war ziemlich verletzt durch deine Zurückweisung und sie wollte dich nicht mehr sehen. Und ich war mir sicher, dass du wieder versuchen würdest, mich zu einem Wiedersehen zu überreden.«
»Wäre das so schlimm gewesen? Was ist so furchtbar daran, in Kontakt zu bleiben?«
»Gar nichts. Ich kann nur deine Gefühle nicht erwidern und das bringt mich in eine unangenehme Lage.«
Er nahm sie in die Arme. »Ich habe alles verdorben, als wir in der Hütte am Reiårsvatn waren, nicht wahr? Es ging zu schnell für dich. Es tut mir so leid, Kerstin. Können wir nicht einfach wieder von vorn anfangen?«
»Als Freunde gerne. Aber nicht mehr. Du bist ein attraktiver Mann, Morten, ich mag dich auch sehr, aber ich liebe dich nicht und das wird sich nicht ändern.«
»Du hast keinen Freund.«
»Das liegt aber nicht daran, dass ich insgeheim mit dir zusammen sein will.« Zögernd lehnte sie sich an ihn. »Können wir nicht einfach Freunde bleiben?«
»Das scheint dann wohl meine einzige Option zu sein.« Sein enttäuschter Blick tat Kerstin weh. Am liebsten hätte sie ihm gesagt, er solle die Hoffnung nicht aufgeben, nur, um ihn nicht so niedergeschlagen zu sehen. Aber das hatte keinen Sinn. Sie wusste, dass sich an ihren Gefühlen nichts ändern würde. Ihn hinzuhalten wäre grausam gewesen.
»Bitte sei mir nicht böse«, flüsterte sie.
»Wie könnte ich?«, lächelte er traurig. »Ich liebe dich, Kerstin, du weißt gar nicht, wie sehr. Es hat so weh getan, dass ihr ohne Abschied gefahren seid, ich dachte, jemand reißt mir das Herz heraus.«
»Ach Morten«, murmelte Kerstin betroffen und zog seinen Kopf an ihre Schulter. »Das tut mir so leid, aber wir glaubten wirklich, es wäre das Beste.«
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie leer ich mich fühlte. Ich musste dich einfach wiedersehen. Es war so unfassbar für mich, dass du hier irgendwo in der Gegend lebst, gar nicht so weit von mir entfernt und doch so unerreichbar. Ich habe immer wieder versucht, eure Anmeldeinformationen zu bekommen, aber der Cousin meines Vaters rückte sie nicht heraus. Er sagte, es wäre eure Privatsphäre und er als Vermieter hätte die Pflicht, sie zu schützen.«
»Was hast du dann getan?«
»Etwas, worauf ich nicht sehr stolz bin«, gestand Morten leise. »Als ich zu Weihnachten daheim war, habe ich meinem Vater eingeredet, dass er sich unbedingt mal wieder mit seinem Cousin treffen müsse. Sie sind zusammen zum Eisfischen gefahren und in der Zeit habe ich mir Zugang zu seinem Haus verschafft. Ich bin die ganzen Mietunterlagen durchgegangen, bis ich Iris’ Anmeldung gefunden hatte.«
»Du bist eingebrochen?«
»Nicht wirklich.« Er wand sich unbehaglich. »Ich habe irgendwann mal in dem Haus in Åraksbø einen Zweitschlüssel zu seiner Wohnung in Kristiansand gefunden und behalten.«
Kerstin schloss die Augen. »Du bist trotzdem eingebrochen.«
Er grinste flapsig. »Nur die Liebe zu dir brachte mich dazu. Allerdings standen auf dem Formular nur Iris’ Angaben. Aber zumindest hatte ich einen Anhaltspunkt.«
»Es war also nur ein Vorwand, dass du dich bei Iris entschuldigt und ihr ein Poster vom Haus geschenkt hast?«
»Nein, die Entschuldigung war ehrlich. Es tut mir wirklich leid, wie ich sie behandelt habe. Und die Poster habe ich in der Vorfreude anfertigen lassen, euch wiederzusehen. Euch beide natürlich. Ich mag Iris. Aber dich liebe ich. Habe ich das nicht schon erwähnt?«
»Mehrmals. Und ich habe mehrmals gesagt, dass ich deine Gefühle nicht erwidern kann.« Kerstin sah zur Tür. »Lass uns zu den anderen zurückgehen, bevor Gerede aufkommt.«
Sie ließ ihm keine Gelegenheit, sie zurückzuhalten. Mit einem frischen Glas Wasser stellte sie sich im Wohnzimmer ans Fenster. Sie brauchte etwas Zeit, um sich zu sammeln. Was sie gerade erfahren hatte, verstörte sie zutiefst. Morten war sogar kriminell geworden, um sie aufzuspüren. Na ja, schwächte sie ab, kriminell war vielleicht zu viel gesagt. Nein, widersprach eine Stimme in ihr, es ist kriminell, in ein fremdes Haus einzubrechen, auch wenn man einen Schlüssel hat und nur ein Anmeldeformular sucht. Morten hatte niemandem geschadet, aber Kerstin war entsetzt, wie weit er gegangen war, um sie zu finden. Sie hatte seine Liebe zu ihr nicht wirklich ernst genommen. Es hatte ihr gereicht, dass sie nichts für ihn empfand, und hatte damit den Urlaubsflirt einfach abgehakt. Aber nun wusste Morten, wo sie zu finden war. Auch wenn es nur über Iris war, war sie in seine greifbare Nähe gerückt. Konnte sie wirklich darauf hoffen, dass er sie in Ruhe ließ, nur weil sie das wollte? Eine kalte Hand umklammerte ihr Herz und sie schluckte trocken.
»Zehn Pfennig für deine Gedanken.«
Lächelnd drehte sie sich zu Stefan um. »Glaubst du wirklich, dass sie so billig sind?«
»Ein Versuch war es wert.« Er deutete auf die andere Seite des Zimmers. »Schau, die Couch ist frei. Wir könnten uns setzen und du erzählst mir von dir. Gute Idee?«
»Zumindest eine Idee.« Kerstin ließ sich gerne ablenken.
Sie nahmen Platz und sie streckte die Beine aus. »Was studierst du?«
»Pharmazie, genauso wie Morten. Wir haben uns im Studium kennengelernt.«
»Bist du auch bald fertig?«
»Nein, ich habe noch eine Weile. Ich habe vorher meine Zeit bei der Bundeswehr abgeleistet. Abgesehen davon ist Morten zwei Jahre älter. Allerdings hat er sich ein Jahr Auszeit genommen.«
»Ich weiß. Er hat mir erzählt, dass er zuerst die Sprache lernen wollte.«
»Hätte ich vielleicht auch machen sollen«, schmunzelte Stefan.
Kerstin lachte. »Wieso ausgerechnet Hamburg? Bayern hat doch auch Universitäten.«
»Ich fand es eine gute Idee, mal aus dem Familienverband auszubrechen.«
»Hast du eine große Familie?«
»Einen Bruder und eine Schwester, die beide älter sind als ich.«
»Oh, das Nesthäkchen.«
»Genau. So sehe ich aus, oder?« Er wischte sich eine dunkelblonde Strähne aus der Stirn.
»Was machst du nach dem Studium? Gehst du zurück?«
»Wahrscheinlich. Meine Eltern würden es mir nie verzeihen, wenn nicht. Aber das hat ja noch Zeit. Mir gefällt es hier. Hamburg ist eine faszinierende Stadt. Es ist hier ganz anders als in München.«
Kerstin zuckte mit den Schultern. »Da kann ich nicht mitreden. So weit im Süden war ich noch nie.«
»Ja, man muss vorsichtig sein, wenn man den Weißwurstäquator überquert.«
»Den was?«
Stefan lachte, wurde jedoch einer Antwort enthoben, als sich zwei weitere Studenten zu ihnen gesellten und ihn in eine Diskussion verwickelten. Kerstin blickte sich um. Sie sah Iris im Gespräch mit Uwe und lächelte. Sie freute sich, dass der Abend für ihre Freundin erfolgreich zu sein schien.
Die Stunden vergingen wie im Flug. Sie versuchte zuerst, Morten aus dem Weg zu gehen, doch das gelang natürlich nicht. Da sie aber immer in Gesellschaft waren, entspannte sie sich schließlich und genoss die Zeit. Morten war witzig und konnte sie alle gut unterhalten und Kerstin sah nicht nur einen schmachtenden Blick der Studentinnen.
Gegen Mitternacht traf sie ihn allein in der Küche an. Sie trat einen Schritt zurück, als sie sah, dass er betrunken war. »Willst du vor mir fliehen?«, fragte er mit bitterer Miene.
»So ein Quatsch. Warum denn?« Bewusst trat Kerstin näher.
Morten musterte sie stumm. Sie fühlte sich ungemütlich unter seinem Blick, doch sie hielt ihm stand.
»Amüsierst du dich?«, fragte er schließlich.
Was sollte sie darauf erwidern? Am besten wäre es wohl, bei Small Talk zu bleiben. »Ja, es ist eine sehr nette Party. Vielen Dank für die Einladung.«
»Gern geschehen.«
Was konnte sie noch sagen? Es war einfach eine ungute Konstellation, dass sie seine Gefühle nicht erwiderte. Sie räusperte sich. »Iris sagte, du gehst nach Norwegen zurück. Was ist aus deinen Plänen geworden? Du wolltest doch in die USA in die Forschung.«
»Das läuft mir nicht weg. Ich erfülle zuerst mal den Wunsch meines Vaters und steige bei seiner Apotheke mit ein. Es geht ihm gerade nicht so gut und mir schadet die Praxis bestimmt auch nicht.« Er strich sich unsicher über das Kinn. »Darf ich dir schreiben und dich mal anrufen?«
Kerstin überlegte lange, bis sie sich entschied, ehrlich zu sein. »Du quälst dich doch nur, Morten. Lass diese Gefühle für mich los, du tust dir nur selbst damit weh. Und du blockierst dich für die wirklich große Liebe, die irgendwo auf dich wartet. Häng dich nicht an mich.«
»Das heißt also nein?«
Sein trauriger Ausdruck schnitt ihr ins Herz und sie hätte ihre Worte fast zurückgenommen. Sie ging auf ihn zu und umarmte ihn. »Ich würde gerne mit dir in Kontakt bleiben, Morten, aber ich denke wirklich, dass es dir nicht guttut. Du musst mich loslassen und es bringt dir absolut nichts, deinen Schmerz künstlich zu verlängern. Glaub mir, es tut mir leid, trotzdem ist es am besten so.«
Sie wandte sich ab, doch er hielt sie am Handgelenk fest und zog sie zu sich. Mit funkelnden Augen starrte er sie an. Kerstin versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien, doch er drückte noch weiter zu.
»Weißt du, was ich getan habe, als ich erkannte, dass du mich einfach sitzenlassen hast? Ich weiß nicht, wie oft ich diesen verdammten Brief gelesen habe und mir dachte, das kann nicht sein. Ich hatte gehofft, du nimmst mich auf den Arm und sitzt mit Iris im Schlafzimmer und lachst dich halbtot. Ich konnte es schlichtweg nicht glauben. Ich war sicher, dass du nicht so grausam sein würdest. Aber du warst es, nicht wahr? Du bist weggefahren, ohne einen weiteren Gedanken an mich zu verschwenden. Es war dir völlig gleichgültig, wie es mir dabei geht. Du glaubst vielleicht nicht an die Liebe auf den ersten Blick, aber mich hat der Blitz getroffen, als ich dich gesehen habe. Ich wusste sofort, dass da die Frau meines Lebens steht. Doch dir war das egal. Du hast mir mein verdammtes Herz gebrochen wie einen Ast auf dem Weg, den man zur Seite schleudert. Ich bin nach Ose hinüber gefahren und habe mir eine Flasche Whisky gekauft. Hast du eine Ahnung, was Schnaps in Norwegen kostet?« Er lachte meckernd und Kerstin bekam es langsam mit der Angst zu tun. Sie würde bestimmt blaue Flecken von seinem harten Griff bekommen, aber es war der irre Ausdruck in seinen Augen, der sie verstörte.
»Ich habe sie in einem Satz zur Hälfte getrunken«, fuhr er fort. »Und dann in die Büsche gekotzt. Und weitergesoffen, bis sie leer war. Und das war beileibe nicht die einzige Flasche, die ich deinetwegen gekippt habe, um mich auf andere Gedanken zu bringen. Ich wollte dich vergessen, aber das war unmöglich. Ich konnte an nichts anderes mehr denken als an dich. Ich habe mich gefragt, ob du auch in der Nacht wach liegst und dich nach mir verzehrst. Das ist nämlich genau das, was ich getan habe. Als das neue Semester anfing, bin ich stundenlang kreuz und quer durch Neumünster gefahren, einfach in der Hoffnung, dich zufällig irgendwo zu sehen. Zwei Wochen lang habe ich das durchgehalten, bis ich merkte, wie idiotisch das war.«
»Und da hast du dir Iris’ Adresse besorgt.« Kerstin war tief erschüttert, wie vehement Morten an ihr hing. Es war ja noch viel schlimmer, als sie gedacht hatte. Ein winziger Teil in ihrem Inneren fühlte sich immer noch geschmeichelt, dass er sich so unsterblich in sie verliebt hatte, aber ihr rationales Wesen sah das Problem dahinter. Sie wollte Morten nicht verletzen, doch ihm Hoffnungen zu machen, wäre noch viel grausamer gewesen.
Sie wand sich in seinem Griff. »Du tust mir weh.«
Sofort ließ er sie los. »Entschuldige, das war nicht meine Absicht.«
Kerstin rieb ihr Handgelenk und musterte ihn. Seine Augen waren gerötet und sein Atem stank widerlich nach Alkohol. In diesem Zustand stieß er sie ab. Sie würde nie Gefühle für ihn entwickeln können, so sehr er es sich auch wünschte.
»Es tut mir leid, Morten«, murmelte sie hilflos. »Was erwartest du von mir? Ich kann doch meine Liebe nicht einfach anknipsen. Ich mag dich, aber mehr ist nicht und wird nie sein. Bitte bedränge mich nicht weiter. Du musst mich vergessen. Du findest bestimmt bald deine wirklich große Liebe, ein Mädchen, das dich auch liebt. Ich bin das nicht.« Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und lief hinaus. Es war höchste Zeit, nach Hause zu fahren. Wo war Iris nur? Sie konnte die Freundin nirgendwo entdecken. Allerdings stand Uwe bei Stefan und einigen weiteren Studenten. Sie zupfte ihn am Ärmel. »Entschuldige bitte, aber weißt du, wo Iris ist?«
Er sah sie erstaunt an. »Sie ist nach Hause gefahren. Das ist bestimmt schon zwei Stunden her.«
»Was?« Mit offenem Mund starrte sie ihn an. Sie wusste nicht, welches Gefühl stärker war. Der Ärger, dass Iris sie im Stich gelassen hatte oder die Verwunderung, dass sie ihr Fehlen nicht bemerkt hatte. »Wieso denn das?«, stammelte sie.
»Weiß ich nicht. Sie war wohl über irgendetwas sauer. Ist das schlimm?«
»Nein, überhaupt nicht. Bis auf die Tatsache, dass ich über sechzig Kilometer von hier entfernt wohne und keine Ahnung habe, wie ich nach Hause kommen soll.«
»Ich fahre dich«, bot Stefan an und stellte seine Cola ab.
»Danke, aber das kann ich nicht verlangen.«
»Wer soll es denn sonst machen? Morten?« Er wies mit dem Kinn zu seinem Freund, der gerade ein gut gefülltes Whisky-Glas leerte, als würde es Wasser enthalten. »Ich bin zumindest noch nüchtern.«
»Macht es dir wirklich nichts aus?«
»Nein. Dir?«
Kerstin lächelte ihn an. »Absolut nicht.«
»Dann komm.«
Zögernd trat sie zu Morten, der gerade sein Glas wieder auffüllte. »Ich gehe jetzt. Ich wünsche dir alles Gute für die Zukunft.«
»Danke«, knurrte er und stürzte sein Getränk hinunter.
»Bitte Morten, lass uns nicht so auseinandergehen.«
Er atmete tief durch, schloss kurz die Augen und lächelte dann. »Du hast recht.« Er stellte das Glas zur Seite und umarmte sie. »Ich wünsche dir auch alles Gute, Kerstin. Vielleicht treffen wir uns ja doch mal wieder.«
»Wir werden sehen. Dem Schicksal kann man nicht trauen.« Sie gestattete ihm einen kurzen Kuss auf ihre Lippen. Er schmeckte nach Whisky und weckte absolut keine Empfindung in ihr. »Viel Glück, Morten.« Sie machte sich von ihm los und folgte Stefan nach draußen.





























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