Kapitel 11

 

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Auf dem Weg nach Hause schwand ihr Ärger über Iris. Sie wunderte sich immer noch, was die Freundin geritten hatte, sich heimlich davonzumachen, doch sie genoss die Fahrt mit Stefan zu sehr, um ihr böse zu sein. Sie fühlte sich wohl in seiner Gesellschaft und als er sie fragte, ob sie ihn wiedersehen wollte, sagte sie voller Freude zu.

Am nächsten Morgen rief sie bei Iris an und es war ihr egal, dass sie die Freundin vermutlich aus dem Bett klingelte.

»Was war denn das für eine Aktion?«, wollte sie wissen. »Du kannst mich doch nicht einfach bei Morten lassen und abhauen.«

»Warum nicht?« Sie hatte erwartet, dass Iris eher verschlafen klingen würde. Der aggressive Ton verwunderte und erschreckte sie. »Du warst doch bestens versorgt.«

»Hör mal, wenn das immer noch wegen Morten ist, du weißt doch, wie er drauf ist. Du hast mich selbst …«

»Morten ist Geschichte, nach dem kräht kein alter Hahn mehr.«

»Dann verstehe ich dich nicht. Hat Uwe irgendetwas getan oder gesagt, das dich geärgert hat?«

»Uwe? Wieso Uwe? Was hat er damit zu tun?«

»Er ist doch Mortens Mitbewohner. Der, in den du dich verknallt hast.«

»Nein. Die wohnen dort zu dritt. Verknallt habe ich mich in Stefan. Aber den musstest du mir sofort wegnehmen, bevor ich überhaupt eine Chance hatte, ihn auf mich aufmerksam zu machen. So, wie du es immer tust. So, wie es schon bei Morten war. Du kannst es einfach nicht haben, dass mir ein Mann gefällt. Sofort musst du ihn dir unter den Nagel reißen. Und ich bin es absolut leid, dass du mir ständig alles zerstörst.«

Es klickte in der Leitung. Iris hatte aufgelegt. Wie betäubt starrte Kerstin den Telefonhörer an. Was war da gerade passiert? Hatte ihre beste Freundin sie beschuldigt, sie würde ihr die Männer wegnehmen? Sie fuhr sich über das Gesicht. Sie hatte doch nicht wissen können, dass sich Iris für Stefan interessierte. Dann hätte sie eben etwas genauer sein müssen und ihr seinen Namen verraten. Natürlich hatte sie angenommen, dass Uwe der Auserwählte war, als er sich als Mitbewohner vorgestellt hatte.

Kerstin fühlte sich mies. Doch was sollte sie tun? Stefan erzählen, dass sie nicht mit ihm ausgehen wollte, weil ihre Freundin ihn mochte? Wenn sie sein Typ wäre, hätte er sie beachtet. Kerstin seufzte. Iris’ Schwärmereien waren immer von relativ kurzer Dauer. Sie würde sich schon wieder einkriegen.



 

Eine Woche später hielt sie es nicht mehr aus. Sie hatte sich zwar vorgenommen, zu warten, bis Iris den ersten Schritt machte, aber sie hatte Angst, ihrer Freundschaft dauerhaften Schaden zuzufügen. So stand sie eines Abends vor dem Appartementhaus in Neumünster, in dem Iris eine kleine Wohnung bezogen hatte, und klingelte.

Nervös trat sie von einem Bein aufs andere, bis die Sprechanlage ansprang. »Ja, bitte?«

»Ich bin es«, sagte sie nur.

»Was willst du?« Iris klang deutlich unterkühlt.

»Reden.«

»Ich glaube nicht, dass es was zu reden gibt.«

»Es war doch nur ein Missverständnis, Iris. Ich dachte echt, dass du auf Uwe stehst. Und müssen wir das wirklich an der Sprechanlage klären?«

Einen Moment herrschte Stille, dann klickte die Haustür. Erleichtert schob Kerstin sie auf und lief in den ersten Stock, wo Iris sie an der Wohnungstür erwartete. Ihr Gesichtsausdruck war unergründlich und sie unternahm keinerlei Anstalten, Kerstin zu umarmen, wie sie es normalerweise tat. Immerhin machte sie eine einladende Geste.

»Es tut mir leid, Iris«, begann Kerstin, während sie Platz nahm. »Uwe stellte sich mir als Mortens Mitbewohner vor und obwohl er nicht ganz deinem Beuteschema entspricht, dachte ich …«

»Was weißt du denn von meinem Beuteschema?«, unterbrach Iris sie aggressiv.

Sie holte tief Luft. »Ich hatte keine Ahnung, dass du auf Stefan stehst. Ehrlich.«

»Hast du ihn wiedergesehen?«, fragte Iris kalt.

Kerstin biss sich auf die Lippe, entschloss sich jedoch zur Ehrlichkeit. »Wir waren im Café und im Kino. Nächste Woche wollen wir zusammen essen gehen.«

»Zumindest lässt du ihn nicht gleich wieder fallen, nachdem du ihn mir ausgespannt hast, so wie du es mit Morten gemacht hast.«

Kerstin traute ihren Ohren kaum. »Ich habe dir Morten nicht ausgespannt«, begehrte sie auf. »Ich hatte nie ein Interesse an ihm. Ich dachte, das wäre immer klar gewesen.«

»Lüg doch nicht. Ich habe gesehen, wie ihr euch geküsst habt.«

»Wann?«

»Bei eurem Abschied in Åraksbø.«

»Er hat mich geküsst. Und mir hat es nicht sonderlich gefallen.« Kerstin stutzte. Das konnte Iris eigentlich gar nicht wissen, außer … »Bist du uns nachgeschlichen?«



»Ich wollte sehen, was ihr treibt. Ich hatte den Verdacht, dass du deine Beziehung zu ihm herunterspielst, damit ich denke, du willst nichts von ihm.«

»Du dachtest, ich lüge dich an?« Kerstin war fassungslos.

Iris zuckte mit den Schultern. »Ist das so abwegig? Als wir uns verabschiedet haben, hat Morten mir erzählt, dass ihr zusammen nackt gebadet habt. Bis heute frage ich mich, warum du das getan hast, wenn er dich nicht interessiert.«

»Das stimmt überhaupt nicht«, rief Kerstin aus. »Er wollte es und er hat es auch gemacht, aber ich habe nicht mitgespielt.«

»Warum sollte er es dann behaupten?«

»Keine Ahnung. Um bei dir Eindruck zu schinden? Oder um sich die Szene schöner zu reden, als sie war? Ich weiß es nicht. Er hat dir ja auch erzählt, dass wir miteinander gehen. Er hat einfach gelogen. Ich dachte, wir hätten das damals klargestellt.« Langsam schüttelte Kerstin den Kopf. Sie erinnerte sich an den argwöhnischen Schimmer in Iris’ Augen. »Du hast mir die ganze Zeit misstraut, nicht wahr?«, stellte sie erschüttert fest. »Du benahmst dich, als wäre alles in Ordnung, obwohl du mir zutraust, dich so zu hintergehen. Und du bist nie auf die Idee gekommen, mich auf deine Zweifel anzusprechen? Ich dachte, wir können über alles reden.«

»Anscheinend wohl doch nicht.«

»Anscheinend, ja.« Kerstin erhob sich und wandte sich zum Gehen. Sie war erschüttert, aber es gab nichts weiter zu sagen. Ihre beste Freundin war ihr plötzlich völlig fremd geworden.

 

»Begleitest du mich zur Hochzeit meines Bruders?«

Überrascht sah Kerstin von ihrem Kaffee auf. Stefan hatte sie an diesem Sonntagmorgen zu sich eingeladen. Uwe und ihr neuer Mitbewohner waren beide ausgeflogen, so hatten sie die Wohnung für sich. Stefan hatte ein fürstliches Frühstück vorbereitet, das sich nun schon zwei Stunden lang hinzog. »Nach Bayern?«, fragte sie in einer Mischung aus Entsetzen und Neugier.

Er lachte. »Du klingst, als wäre es hinterm Mond.«

Verlegen wandte sich Kerstin ab. »Wann ist das?«, murmelte sie mehr zu ihrem Brot als zu Stefan.

»Übernächsten Samstag. Wir könnten am Freitag hinfahren, wenn du frei nehmen kannst, und am Sonntag wieder zurück.« Er drehte sie zu sich um und küsste sie. »Es wird Zeit für deinen ersten Besuch im feindlichen Ausland«, spottete er an ihrem Mund.



Kerstin genoss den Kuss. Seine Bartstoppeln kratzten an ihrer Wange und sie fühlte ein tiefes Prickeln, das bis in ihre Zehen zu gehen schien. »Ich weiß nicht«, zögerte sie. Sie würde gerne drei Tage mit ihm verbringen, zweifelte aber, ob dieses Zusammensein im Rahmen seiner Familie stattfinden sollte.

»Wovor hast du Angst? Meine Verwandtschaft oder Bayern allgemein?«

Stefan liebte es, sie damit aufzuziehen, dass sie in südlicher Richtung noch nicht über den Rand Norddeutschlands hinaus gekommen war. Vielleicht war es wirklich an der Zeit, ihren Horizont zu erweitern.

»Erzähl mir mehr von deinen Geschwistern«, forderte sie ihn auf.

»Na ja, da ist also Fabian. Er ist vier Jahre älter als ich und hat ganz brav in München BWL studiert. Er ist mit achtundzwanzig schon ein ziemlich hohes Tier in einer Firma in Kempten. Vor einigen Jahren hat er Andrea kennengelernt, ein sehr nettes Mädchen, wenn ich das von den paar Malen, die ich sie getroffen habe, überhaupt beurteilen kann. Die Älteste von uns ist Susanne. Sie hat sieben Jahre mehr als ich auf dem Buckel und meinte früher immer, sie müsse mich erziehen. Du kannst dir vielleicht vorstellen, dass das bei mir nicht allzu gut ankam. Wir hatten ziemlich oft Streit. Aber seitdem ich erwachsen bin, verstehen wir uns recht gut. Sie hat mich auch in meinem Entschluss, in Hamburg zu studieren, bestärkt und den Eltern gegenüber verteidigt. Sie meinte, es wäre gut für mich, mir ein wenig frischen Wind um die Nase wehen zu lassen.«

»Hast du dich schon entschieden, was du nach dem Studium machst?«, fragte Kerstin und wunderte sich, warum die Frage ihr so einen Druck im Herzen verursachte.

»Du meinst, ob der reumütige Sohn nach Bayern zurückkehrt?« Stefan grinste und sah sie herausfordernd an. »Das hatte ich ursprünglich vor, aber die Chancen, dass ich hierbleibe, sind in letzter Zeit beträchtlich gestiegen. Es gibt hier etwas, das ich nicht zurücklassen will.«

Kerstin verschlug es vor Freude den Atem. »Du meinst mich?«

»Natürlich meine ich dich.« Er nahm sie in die Arme. »Ich nehme nicht an, dass ich dich dauerhaft mit nach Bayern verschleppen kann.«

Kerstin zuckte nur vage mit den Schultern. Sie wollte Norddeutschland definitiv nicht verlassen, aber als sie in Stefans Gesicht sah, war der Gedanke, nach Bayern umzuziehen, plötzlich nicht mehr ganz so erschreckend.



 

Bereits seit vier Stunden fuhren sie schnurstracks über die A7. Stefan hatte Kerstin im Morgengrauen daheim abgeholt. Ihre Mutter war extra aufgestanden, um ihr etwas Wegzehrung herzurichten. Lachend hatte sie ihre Tochter zum Abschied umarmt. »Lass dich von den Bayern nicht unterkriegen«, schmunzelte sie und legte Stefan eindringlich ans Herz, auf Kerstin aufzupassen.

»Bleiben wir die ganze Zeit nur auf dieser Autobahn?«, fragte sie ungläubig.

»Fast.« Stefan lächelte ihr zu. »In Baden-Württemberg müssen wir ausweichen, weil die Straße noch nicht fertig gestellt ist. Da ist man schon ewig beschäftigt, zwei Tunnel zu bauen.« Er lachte. »Jedes Mal, wenn ich heimfahre, hoffe ich, dass sie endlich für den Verkehr freigegeben worden sind, aber bisher hatte ich Pech.« Er streckte den Rücken durch. »Magst du mich nach der nächsten Pause ablösen?«

»Gern.« Kerstin nickte eifrig. Sie fuhr gern Auto, hatte aber bislang nur wenig Gelegenheit gehabt, auf der Autobahn zu üben.

Stefans Ford Fiesta sagte ihr zu. Sie kam sofort mit dem Auto zurecht und hatte Spaß am Fahren. Stefan sah ihr einige Minuten lang zu, dann stützte er den Ellenbogen am Fensterrahmen ab, legte den Kopf in seine Hand und schloss die Augen.

Kerstin lächelte über sein Vertrauensvotum und konzentrierte sich auf den Verkehr.

Trotz einiger Staus kamen sie gut voran und waren am frühen Nachmittag kurz vor Kempten. Es war ein schöner klarer Tag und plötzlich tat sich vor ihnen ein prächtiges Alpenpanorama auf. Kerstin konnte sich nicht sattsehen. »Das ist eine herrliche Gegend«, schwärmte sie.

»Herrlich genug, um hierher umzuziehen?«, zog Stefan sie auf.

»Weiß nicht.« Sie hing an ihrer Heimatstadt und an ihren Eltern. Es wäre ihr deutlich lieber, wenn er einfach in Hamburg bliebe.

Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als ihr Freund in eine lange Hofeinfahrt einbog, an deren Ende ein weißes Einfamilienhaus stand. Der Garten, der es umgab, war perfekt gepflegt und aufgeräumt. Nichts lag herum, wie es bei ihren Eltern gern mal passierte.

Er legte seinen Arm um ihre Schultern und drückte sie an sich. »Keine Bange, meine Familie ist eigentlich ganz nett.«

»Und wenn ich sie nicht verstehe?« Kerstin biss sich auf die Lippe. »Ich habe mir mal den Oktoberfestanstich im Fernsehen angeschaut, da habe ich kaum ein Wort begriffen.«



Stefan lachte laut. »Wir sind hier nicht in Oberbayern, sondern in Schwaben. Da spricht man wieder ganz anders. Außerdem wird in meiner Familie ziemlicher Wert auf ein vernünftiges Deutsch gelegt. Du wirst keine Probleme haben.«

Nur wenig beruhigt folgte sie ihm ins Haus.

»Stefan, wie schön, dass du endlich da bist.« Eine mittelgroße, schlanke Frau umarmte ihn fest, dann wandte sie sich lächelnd an Kerstin und gab ihr die Hand. »Grüß Gott und herzlich willkommen bei uns. Ich hoffe, du fühlst dich wohl.«

»Guten Tag, Frau Rauner«, murmelte sie verlegen. »Danke, dass ich kommen durfte.«

»Ich habe deiner Freundin Susannes altes Zimmer hergerichtet«, wandte sich Frau Rauner wieder an Stefan. »Zeig es ihr doch und kommt dann in die Küche. Die anderen sollten auch bald eintreffen.«

Kerstin war froh über die kurze Auszeit und die Minuten, die sie noch mit Stefan allein verbringen konnte. Dem Zimmer, das als Gästezimmer mit nur wenigen Möbelstücken eingerichtet worden war, schenkte sie kaum Beachtung. Seufzend lehnte sie sich an ihn und genoss seine Nähe.

»Bereust du es, mitgefahren zu sein?«, wollte er wissen.

»Nein«, sagte sie ehrlich. »Ich freue mich darauf, deine Familie kennenzulernen.«

Stefans Geschwister und deren Partner nahmen Kerstin schnell die Befangenheit. Als sie alle gemeinsam an dem großen Tisch in der geräumigen Wohnküche Kuchen aßen und Tee und Kaffee dazu tranken, floss das Gespräch heiter dahin. Obwohl Fabian und Susanne in der Umgebung wohnten, schienen sie nicht allzu oft bei den Eltern zusammenzutreffen und es gab eine Menge zu erzählen. Natürlich war auch die bevorstehende Hochzeit ein großes Thema. Fabians Verlobte Andrea war Kerstin sehr sympathisch. Sie war viel quirliger und ausgelassener als der ruhige Fabian und behandelte sie wie eine langjährige Freundin.

»Du gehst heute Abend doch auch mit, oder?«, fragte sie.

»Wohin?« Kerstin zog die Augenbrauen hoch.

»Wir Mädels machen einen drauf. Wir suchen uns eine Bar zum Abhängen und lassen die Jungs in irgendeinen Stripclub gehen, um Fabians Junggesellenabschied zu feiern.«

»Spinnst du?« Fabian sah sie grinsend an. »Ich brauche keinen Stripclub. Du genügst mir vollkommen.«



»Na, mal sehen.« Susannes Mann Torsten zwinkerte Stefan verschwörerisch zu. »Ich hab das alles im Griff.«

Fabian hob abwehrend die Hände. »Kein Stripclub. Der Typ bin ich nicht. Dann bleibe ich lieber daheim, oder gehe mit den Mädels mit.«

»Kommt nicht in Frage.« Andrea küsste ihn auf die Wange. »Du kannst ab morgen überall mit hingehen, wo ich hingehe. Aber auf meinem Junggesellinnenabschied hast du absolut nichts zu suchen.«

Kerstin lehnte sich zurück. Sie fühlte sich wohl in der Familie. Nur der kritische Blick, mit dem Stefans Eltern sie zuweilen musterten, machte sie leicht nervös.

Sie half nach dem Kaffeeklatsch dabei, den Tisch abzuräumen und das Geschirr zu spülen, was bei Stefans Mutter auf Wohlwollen stieß. Als sie alle den Raum verließen, wurde sie von seinem Vater zurückgerufen. Fragend sah sie das Ehepaar Rauner an und wünschte sich, dass Fabian und Torsten Stefan nicht mitgenommen hätten, um ihm etwas zu zeigen.

»Wir konnten noch gar nicht über dich sprechen«, begann Herr Rauner. »Erzähl uns doch ein wenig.«

Kerstin zuckte mit den Schultern. »Ich bin im April zwanzig geworden und wohne bei meinen Eltern in Neumünster. Ich habe leider keine Geschwister.« Sie lächelte. »Es hat mir gefallen, wie gut sich hier alle verstehen.«

»Du hast ernstes Interesse an unserem Sohn?«, erkundigte Frau Rauner sich.

»Was?« Wer fragte denn sowas? Wollte Stefans Mutter sie in Verlegenheit bringen? »Wir mögen uns sehr«, erklärte sie vage.

»Du weißt aber, dass er nach dem Studium nach Kempten zurückkommt.«

»Da ist er sich noch gar nicht so sicher.«

Böser Fehler. Kerstin sah es sofort an dem Blick, den sich seine Eltern zuwarfen.

»Natürlich kommt er zurück«, beharrte seine Mutter. »Mach dir keine Hoffnungen, dass er im Norden bleibt. Studierst du auch?«

Stefan schien daheim nicht allzu viel von ihr erzählt zu haben. »Nein, ich mache eine Ausbildung zur Arzthelferin.«

Herr Rauner verzog abschätzig die Miene. Doch seine Mutter nickte.

»Das ist ein guter Beruf. Damit kannst du auch hier Arbeit finden.«

»Hier?«

»Natürlich. Du willst ja wohl nicht in Norddeutschland bleiben, wenn Stefan nach Hause kommt, oder? Sofern es euch wirklich ernst mit eurer Beziehung ist.«



»Ich werde auf jeden Fall meine Ausbildung beenden.«

Frau Rauner strich ihr über den Arm. »Das ist gut. Ihr habt ja noch keine Eile. Trotzdem solltet ihr uns oft besuchen, damit du dich hier eingewöhnen kannst.«

Kerstin fühlte sich in eine Ecke gedrängt. Stefans Eltern schienen es als erwiesen anzusehen, dass er nach dem Studium in seine Heimatstadt zurückkam und sie selbstverständlich alles aufgab, was ihr lieb und teuer war, um ans andere Ende von Deutschland zu ziehen. Sie hatte keine Ahnung, was sie erwidern sollte, doch zum Glück kam Susanne herein. »Stefan sucht dich«, sagte sie lächelnd zu ihr. »Er will dir irgendetwas im Garten zeigen.«

Kerstin nickte erleichtert und verließ das Zimmer. Als sie die Tür schließen wollte, zögerte sie jedoch. »War das wirklich nötig?«, hörte sie Susanne. Sie lehnte die Tür nur an und drückte sich in die Ecke in der Hoffnung, dass niemand sie beim Lauschen erwischte.

»Was meinst du?«, fuhr Herr Rauner auf.

»Komm schon, Papa, was sollte dieses Verhör? Wollt ihr Kerstin vergraulen?«

»Warum muss Stefan ausgerechnet ein Mädchen aus Norddeutschland anschleppen? So eine passt doch bei uns nicht rein«, beschwerte sich Frau Rauner.

»Warum denn nicht? Seid froh, dass er ein nettes Mädchen gefunden hat. Er hätte sich ja auch in eine Italienerin verlieben können.«

»Das wäre näher«, konterte Susannes Vater.

»Kommt drauf an. Italien ist groß.« Die Stimme der jungen Frau wurde noch vorwurfsvoller. »Ich muss mich doch sehr über euch wundern. Wenn Stefan wüsste, wie ihr seine Freundin behandelt, würde er sofort seine Sachen packen und mit ihr nach Hause fahren.«

»Sein Zuhause ist hier.«

»Bestimmt nicht, wenn ihr beide so vehement darauf pocht, dass er zurückkommt. Ich weiß, er ist euer Nesthäkchen, aber auch er muss flügge werden. Und es gefällt ihm in Hamburg. Es könnte durchaus sein, dass er dortbleibt.«

»Kommt nicht infrage«, fuhr Frau Rauner auf.

»Ich glaube nicht, dass ihr das zu entscheiden habt. Aber das steht nicht zur Debatte. Ich möchte nur, dass ihr etwas freundlicher zu Kerstin seid und sie nicht behandelt, als würde sie euch den Sohn stehlen wollen.«

»Das tun wir doch gar nicht.« Frau Rauner hörte sich defensiv an. »Sie ist ein nettes Mädchen. Aber Stefan sollte sich eine aus der Gegend suchen. Sie wird ihn überreden, im Norden zu bleiben.«



»Nein, das wird sie nicht«, bekräftigte Herr Rauner. »Der Junge kommt nach dem Studium heim und damit basta.«

Kerstin hatte genug gehört. Mit schwerem Herzen schlich sie hinaus und machte sich auf die Suche nach Stefan. Ihr Besuch hier hatte plötzlich einen faden Beigeschmack bekommen. Seine Eltern verurteilten sie, weil sie aus Norddeutschland kam. Was würde er tun, wenn sie von ihm verlangten, sich zwischen ihnen und ihr zu entscheiden?

Das Gespräch, das sie belauscht hatte, ging ihr den ganzen Abend nicht aus dem Kopf. Ungewollt sprach sie dem Wein, der auf dem Tisch stand, stärker zu als beabsichtigt, und tanzte ausgelassen mit den Mädchen. »Du solltest dich beim Alkohol vielleicht etwas zurückhalten«, riet Susanne ihr flüsternd zu später Stunde.

War das ein Vorwurf? Kerstin erinnerte sich an Stefans Worte, dass seine Schwester ihn gern bevormundet hatte. Versuchte sie das jetzt bei ihr auch?

Doch Susanne legte ihr den Arm um die Schultern. »Nimm dir die Worte meiner Eltern nicht so sehr zu Herzen. Es war unhöflich, wie sie dich ausgefragt haben. Sie haben eine irrationale Angst, ihren Kleinen zu verlieren, gerade so, als würde Stefan nach Südamerika auswandern wollen. Sie begreifen nicht, dass sie ihn mit dieser Klammerei erst recht forttreiben. Und das hat überhaupt nichts mit dir zu tun.«

»Danke.« Kerstin lächelte. Susanne schien sie zu verstehen und das machte ihr das Herz tatsächlich etwas leichter.

 

Kerstin vergrub ihren Brummschädel im Kissen. Sie hätte auf Susanne hören sollen. Der viele Wein hatte ihr wirklich nicht gutgetan. Aber es war lustig gewesen. Sie hatte sich gut unterhalten und niemand hatte sie schief angesehen, weil sie einen anderen Dialekt sprach. Sie hatten getanzt und gefeiert und sie hatte sich im Kreis von Andreas Freundinnen sehr wohl gefühlt.

Sie schielte auf den Wecker. Zwei Uhr nachts. Sie sollte schnell schlafen, um zur Hochzeit am nächsten Tag einigermaßen ausgeruht zu sein.

Da klopfte es an der Tür. Sie hielt den Atem an und befürchtete schon, dass Frau Rauner sie kontrollierte. Aber es war Stefan, der, nur mit einem T-Shirt und einer Pyjamahose bekleidet, hereinschlich.

»Störe ich dich?«



»Natürlich nicht.« Sie sah ihm erwartungsvoll entgegen, als er sich auf die Bettkante setzte.

»Wie war euer Ausflug?«, erkundigte er sich gähnend.

»Lustig. Und eurer? Wart ihr im Stripclub?«

»Natürlich. Auch wenn Fabian sich mit Händen und Füßen gewehrt hat. War aber nicht so prickelnd. Ich finde dich hübscher als alle Frauen, die dort unterwegs waren.«

»Wirklich?«

»Ja, wirklich.« Er beugte sich zu ihr, um sie zu küssen, und Kerstin war froh, dass sie dem Impuls, mit ungeputzten Zähnen ins Bett zu fallen, widerstanden hatte. Stefan schmeckte leicht nach Alkohol, doch sein Kuss war warm und weich. Ihr Magen schlug Purzelbäume, als sie die Arme um ihn schlang. Er verlor das Gleichgewicht und fiel mit einem unterdrückten Lachen über sie. Kerstin kicherte.

»Leise«, mahnte er. »Meine Eltern schlafen nur zwei Zimmer weiter. Wäre blöd, wenn sie merken, dass ich bei dir bin.«

»Ich dachte, wir sind beide erwachsen.«

»Ja, nur sind sie furchtbar altmodisch. Sie würden zwar nichts sagen, aber sie sind hervorragend darin, mit nur einem Blick eine ganze Strafpredigt zu halten.«

»Glaube ich.«

»Wirklich?« Er sah sie prüfend an. »Susanne hat erwähnt, dass sie dir auf den Zahn gefühlt haben. Das wollte ich nicht. Ich hätte dich nicht alleinlassen sollen.«

»War nicht so schlimm«, winkte Kerstin ab. »Natürlich wollen sie wissen, wen du ins Haus bringst.«

»Das lässt sich auch erreichen, indem man einfach mich fragt.« Er seufzte. »Meine Eltern sind gute Leute, aber sie haben sich in die Idee verrannt, dass alle ihre Kinder in der Umgebung bleiben werden.«

»Du tust aber auch nicht viel, um sie vom Gegenteil zu überzeugen.«

Er seufzte. »Ich weiß. Ich will sie nicht enttäuschen, aber ich mag nicht hier versauern. Sogar, wenn ich zurückkomme, bleibe ich nicht in Kempten. Dann gehe ich nach München oder Augsburg.«

»Das scheinen sie noch nicht zu wissen.«

»Stimmt. Dieser Diskussion bin ich bisher aus dem Weg gegangen. Aber ich will jetzt nicht über meine Eltern reden.« Er sah sie verschmitzt an. »Du bist hübsch, wenn du einen Schwips hast.«

»Das ist schon ein Kater«, stöhnte sie. »Und hübsch macht er mich bestimmt nicht.«

»Ich finde dich einfach immer hübsch.« Stefan strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich würde gern …« Er stockte.



»Was denn?«, hakte sie nach und schob ihre Hand unter sein T-Shirt. Seine Bauchmuskeln zogen sich bei der Berührung zusammen und er sog die Luft ein.

»Ich würde gern mit dir schlafen«, bekannte er.

»Hier?« Kerstins Augen wurden groß. »Mit deinen Eltern nebenan?«

»Trotzdem sind wir hier ungestört. In meiner Wohnung geht es nicht wegen der zwei anderen Jungs und bei dir auch nicht. Ich will mit dir nicht in irgendein Stundenhotel gehen, nur weil ich mit dir zusammen sein will.« Er kicherte, doch Kerstin sah die Unsicherheit in seinen Augen.

»Ich nehme aber keine Pille.«

»Macht nichts. Ich bin vorbereitet. Du kannst auch nein sagen, wenn es dir noch zu früh ist.«

Kerstin hatte keine Ahnung, was sie tun sollte. Der Gedanke, mit Stefan zu schlafen, war furchtbar aufregend. War sie denn schon so weit? Sie dachte daran, wie sie sich vor Mortens intimen Berührungen geekelt hatte. Aber Stefan war nicht Morten. Sie fuhr durch seine unordentlichen Haare, die im Schein ihrer Nachttischlampe schimmerten, und zog langsam seinen Kopf zu sich heran. Als ihre Lippen sich berührten, wusste sie die Antwort.

 

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