Kapitel 13

 

  • 13

 

»Wow!« Atemlos schüttelte Annika den Kopf. Ihre Mutter hatte mit ihr noch nie so ausführlich über ihre Gefühle gesprochen. Annika wusste, wie sich ihre Eltern kennengelernt hatten, aber ihr Vater hatte immer nur von der Fete eines gemeinsamen Freundes geredet. »Und Papa hat nie gewusst, dass sein bester Freund dich eigentlich für sich haben wollte?«

Kerstins Mundwinkel zuckten. Annika stellte fest, dass sie sich auf die Entfernung und über den Computerweg besser unterhalten konnten als von Angesicht zu Angesicht. Ihre Mutter war mitteilsamer als jemals zuvor. Vielleicht tat es ihr gut, die Vergangenheit offenzulegen.

»Ich sah keinen Sinn darin, es ihm zu sagen. Ich hatte nie romantische Gefühle für Morten, also betraf es unsere Ehe nicht. Aber vielleicht hätte es die Freundschaft der Männer zerstört. Das wollte ich nicht.«

»Habt ihr euch noch oft gesehen?«

»Nein. Morten hat sich komplett zurückgezogen. Er und Papa schrieben sich gelegentlich, aber sie waren beide keine großen Briefeschreiber. Und um sich anzurufen, waren sie zu geizig.« Kerstin schmunzelte.

»Wenn es damals schon Handys gegeben hätte, wäre es sicher anders gelaufen.«

»Vermutlich.« Kerstin sah sinnierend in die Ferne. »Ich glaube, ich bin ganz froh, dass der Kontakt so eingeschränkt war.«

»Aber wir waren alle gemeinsam hier in Åraksbø, nicht wahr? Sogar in diesem Haus.«

»Stimmt. Morten hat uns eingeladen. Wir wollten hier unseren Urlaub verbringen.«

Plötzlich fiel in Annikas Kopf ein Puzzleteilchen an seinen Platz. »Natürlich. Dieser Freund, der dabei war, als Dennis ertrunken ist. Das war Morten.«

Sie konnte sehen, wie sich Kerstin wieder in sich zurückzog. Ihre Miene versteinerte. Annika bereute es, das sensible Thema angesprochen zu haben, das ihrer Mutter auch nach so vielen Jahren noch solche Schmerzen bereitete. »Es tut mir leid, Mama, aber irgendwann müssen wir darüber reden.«

»Nein, müssen wir nicht. Das ist längst vorbei.«

»Gerade deshalb.«

»Wir haben lange genug gesprochen. Ich habe zu tun. Hab einen schönen Tag.«

Und damit war die Verbindung unterbrochen. Seufzend klappte Annika den Laptop zu. Sie war froh, dass ihre Mutter sich ihr gegenüber ein wenig öffnete. Sie hatte in der letzten Stunde viel über sie erfahren. Dinge, die ihr halfen, sie besser zu verstehen. Und doch war die Geschichte nicht vollständig, das fühlte sie. Das Kapitel Morten war noch lange nicht beendet.



Sie steckte den Laptop in die Tasche und stellte ihn beiseite. Es war Zeit, nach Erik zu sehen. Vorsichtig schob sie die Tür zum Schlafzimmer auf und lugte hinein.

»Komm rein.«

»Du bist ja wach.«

»Ja, seit einer Weile.«

»Wie geht es dir?«

»Deutlich besser. Das verdanke ich deiner guten Pflege.«

Annika setzte sich auf das andere Bett und musterte ihn. Die Schramme auf seiner Wange war fast nicht mehr zu sehen und der Riss über dem Auge war nur noch ein dünner Strich. Er schien sich tatsächlich gut erholt zu haben. »Jan lässt dich grüßen. Es tut ihm leid.«

»Das darf es auch.« Erik grinste sie an und Annikas Herz begann aufgeregt zu klopfen. Nein, es kam nicht infrage, diesen dummen Gefühlen nachzugeben.

»Bist du ihm böse?«

Er blies die Luft aus den Backen und zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Irgendwie bin ich schon sauer, andererseits verstehe ich, dass er einfach überreagiert hat. Er rechnet sich bestimmt Chancen bei dir aus.«

»Ich habe ihm gesagt, dass daraus nichts wird. Gibt es in Norwegen keine Mädchen, die ihm gefallen?«

»Er ist ein bisschen schüchtern, was das angeht. Und zu dir hat er wirklich einen guten Draht.«

»Das bedeutet ja nicht, dass wir uns gleich ineinander verlieben müssen. Ich will hier nur Urlaub machen, ohne irgendwelche Komplikationen.«

»Der Plan ist gut.« Erik grinste. »Wer ist dieser Morten?«

»Was?« Sie wurde abrupt aus ihren Gedanken gerissen.

»Es war nicht zu überhören. Ich hätte vermutlich aufstehen und die Tür schließen sollen, aber es war eine interessante Geschichte.«

»Die Tür lässt sich nicht schließen, in der Hinsicht bist du entschuldigt. Wie viel hast du gehört?«

»Nur den Schluss. Ab der Hochzeit. War das deine Mutter?«

»Ja.«

»Erzählst du mir, was es mit diesem Morten auf sich hat? Du bist mir sowieso noch die Geschichte deines Bruders schuldig.«

Annika zuckte mit den Schultern. »Da gibt es nicht so viel zu erzählen. Morten war in meine Mutter verliebt, sie aber nicht in ihn.«

»Traurig für ihn. Morten ist ein norwegischer Name.«

»Er ist sogar ein Verwandter von dir. Meine Mutter machte mit einer Freundin hier im Haus in den achtziger Jahren Urlaub. Hier hat sie ihn kennengelernt. Das Haus gehörte einem Cousin seines Vaters, wie er sagte. Das müsste demzufolge dein Großvater gewesen sein.«



»Der Name passt auf jeden Fall.« Erik schwang die Beine aus dem Bett und stand vorsichtig auf. »In unserer Familie gibt es mehr Mortens als Sandkörner am Meer.«

Annika lachte. »Warum das denn?«

»Weiß nicht. Aber der erste Sohn jedes Familienzweigs heißt Morten und das schon seit ewigen Zeiten.«

»Und warum du dann nicht?«

Erik trat vorsichtig auf und schien mit dem Ergebnis zufrieden zu sein. »Ich bin froh, dass mein Vater mit dieser Tradition gebrochen hat.« Er betastete seine Schulter und ließ den Arm kreisen. »Es gibt schon zu viele Morten Sørensens, ich will nicht auch noch einer sein. Und was ist mit deinem Bruder?«

Annika erzählte ihm die mageren Fakten, die sie zu Dennis’ Tod zu bieten hatte.

»Du weißt es erst seit ein paar Wochen? Das ist krass.«

»Ich versuche, meine Mutter so weit zu bringen, mir zu sagen, was genau da passiert ist. Aber bisher blockt sie immer ab.«

»Es ist auch ein schwieriges Thema. Ein Kind zu verlieren stelle ich mir furchtbar vor. Das verfolgt dich das ganze Leben.«

Annika nickte. Erik war so einfühlsam. Am liebsten hätte sie ihn umarmt. Oder wenigstens das Gesicht in seinen blonden Haaren vergraben. Es war bestimmt am besten, wenn er so schnell wie möglich wieder nach Kristiansand fuhr, um ihre Gefühle nicht noch mehr in Aufruhr zu bringen. Aber das wollte sie eigentlich nicht.

»Er ist hier auf dem Friedhof beerdigt. Ich hatte bisher nicht den Mut, hinzugehen. Willst du mich begleiten?«

Erik sah sie ernst an. Dann nickte er. »Gerne.«

 

Getrennt suchten sie die Grabreihen ab. Der Friedhof war klein und überschaubar, trotzdem war ein einzelnes Grab nicht leicht zu finden, wenn man gar keinen Anhaltspunkt hatte, wo man suchen sollte. Die Inschriften waren zum Teil verwittert und schwer lesbar und Annika befürchtete bald, das Grab überhaupt nicht entdecken zu können.

Immer wieder warf sie einen Blick zu Erik. Sie hatte seinen Fuß bandagiert, bevor sie das Haus verlassen hatten. Er hinkte zwar noch, die Schmerzen schienen sich jedoch in Grenzen zu halten.

Sie war froh, dass er sie begleitet hatte. Der Gedanke, sich dem Grab ihres Bruders alleine zu stellen, hatte ihr den Mut genommen, hierherzukommen. Doch zusammen mit Erik würde sie es schaffen.



»Ich glaube, ich habe es«, rief er drei Reihen weiter.

Aufgeregt lief Annika hinüber. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber nicht einfach ein Stück Gras mit einem schlichten Grabstein. Aber wer sollte das Grab denn pflegen? Es war niemand da, der sich für Dennis Rauner interessierte. Sie schluckte, als sie den Namen auf dem Stein sah. Unter den Geburts- und Sterbedaten standen einige norwegische Worte. Fragend sah sie Erik an.

»Von seinen Eltern geliebt«, übersetzte er mit belegter Stimme.

Annika sank zu Boden. Langsam strich sie über das kurze Gras. Vielleicht gab es einen Friedhofsgärtner, der ab und zu mit dem Rasenmäher darüber ging. Sie hätte Blumen mitbringen sollen. Aber Åraksbø hatte nicht einmal einen Lebensmittelladen, geschweige denn ein Blumengeschäft. Ihre Gedanken verloren sich. Hier lag ihr Bruder. Dennis. Wie bereits am See versuchte sie, eine Verbindung zu ihm aufzubauen, bemühte sich mit aller Macht, ihn zu fühlen. Doch es gelang ihr nicht.

Erik kniete sich hinter sie und schlang seine Arme um sie. Annika lehnte sich in die Umarmung und fühlte sich geborgen.

»Es tut mir leid«, flüsterte er rau.

»Danke.« Sie strich über seine Arme. »Ich kann mich überhaupt nicht an ihn erinnern und doch weiß meine Seele, dass ein Teil von ihr fehlt.« Sie grinste schief. »Es hört sich doof an, aber ich kann es nicht anders erklären. In mir ist eine tiefe Leere, die jede Beziehung boykottiert. Ich suche nach etwas, das ich in keinem Mann finde.«

»Die Nähe zu deinem Zwillingsbruder.«

Sie nickte.

»Dadurch, dass deine Eltern dir nichts von ihm erzählt haben, hattest du nie die Möglichkeit, seinen Tod aktiv zu verarbeiten. Du hast damals vermutlich einen Schock erlitten, als er so plötzlich verschwunden war und nur, weil dein Verstand ihn mit der Zeit vergessen hat, bedeutet das nicht, dass das Trauma auch verschwunden ist.«

»Bist du sicher, dass du Chemiker bist und kein Philosoph?« Annika lächelte.

»Ich habe mich auch ein wenig mit diesen Fragen beschäftigt. Verlustängste und so. Vielleicht hilft es dir, dass du jetzt weißt, dass du einen Bruder hattest und was mit ihm passiert ist.«

»Ich weiß es nicht.« Hilflos zuckte Annika mit den Schultern. »Das muss die Zeit zeigen.«



»Deshalb willst du dich auf keine Beziehung mehr einlassen?«

»Es ist besser so.«

»Aber sehr einsam.« Erik legte das Kinn auf ihre Schulter und schmiegte seine Wange an ihre. »Ich glaube, Jan mag dich wirklich.«

»Ich mag ihn auch.«

»Dachte ich mir.« Erik löste sich von ihr und stand auf. »Und trotzdem hast du mich über Nacht bei dir aufgenommen.«

Annika biss sich auf die Lippe. Sie konnte ihm nicht sagen, dass er ihr besser gefiel. Es wäre beiden Männern gegenüber unfair. Außerdem sollte sie die Brüder ganz schnell aus ihren Gedanken verdrängen, sonst schlitterte sie noch in die gleiche Situation wie ihre Mutter.

»Du warst verletzt. In dem Zustand hättest du unmöglich nach Hause fahren können. Außerdem mag ich dich auch. Ich freue mich, dass ich hier zwei Freunde gefunden habe.«

»Schön zu hören, dass du mich magst.« Er grinste sie an und löste damit ein Schmetterlingsbeben in ihrem Bauch aus. Sie ließ sich von ihm hochziehen. Seine Hände waren trocken und warm und hatten einen festen, verlässlichen Griff. Am liebsten hätte Annika sie gar nicht mehr losgelassen.

»Wir könnten ja in Kontakt bleiben«, schlug Erik vor.

»Gerne.« Sie nickte und hoffte, dass ihr Gesichtsausdruck ihre Gefühle nicht verriet. Sie fühlte sich bei beiden Brüdern so wohl, dass sie die Freundschaft sehr gern vertiefen wollte. Sie musste nur aufpassen, dass keiner der Männer mehr darin sah, als genau das: Freundschaft.

Versonnen sah Erik über den Friedhof. »Es wäre eine gute Gelegenheit, das Grab meiner Mutter zu besuchen«, murmelte er zaghaft. »Würdest du mich begleiten?«

»Nach Kristiansand?«

»Nein, sie liegt in Bygland. Der nächste größere Ort. Sie wurde im Grab ihrer Eltern beigesetzt, die dort wohnten. Es hat sich vermutlich angeboten. Ich weiß gar nicht, ob meine Familie in Kristiansand irgendwo ein Grab hat.«

»Was ist mit deinen Großeltern?«

»Meine Mutter hat ihre Eltern verloren, als sie Mitte zwanzig war. Meine Oma väterlicherseits ist auch schon lange tot und mein Opa starb bei einem Unfall kurz vor meiner Geburt. Eigentlich müssten sie beide in Kristiansand beerdigt sein, aber ich war noch nie dort. Mein Vater ist kein religiöser Mensch, es kam schlichtweg nie zur Sprache.«



»Tut mir leid.«

»Wie ist das bei dir? Hast du noch Großeltern?«

»Nur die Eltern meines Vaters. Aber die wohnen in Bayern und ich habe sie seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.«

Er legte ihr den Arm um die Schultern. »Was sind wir nur für arme kleine Waisenkinder«, scherzte er.

Annika lächelte. »Ich begleite dich gern zum Grab deiner Mutter.«

»Danke. Das bedeutet mir viel. Ich war schon länger nicht mehr dort. Mir ist die Strecke normalerweise zu weit. Außerdem bin ich ja nur noch selten hier.«

»Dann komm.«

Während der zwanzig Minuten, die sie nach Bygland brauchten, sah Annika immer wieder wie zufällig zu Erik hinüber. Sie fragte sich, wie es wäre, ihn zu küssen. Innerlich schnitt sie sich selbst eine Grimasse. Sie musste diese Gedanken verdrängen, sie führten zu nichts. Die Trennung von Sven lag erst einige Wochen zurück. Vielleicht würde sie sich irgendwann in der Zukunft wieder verlieben, doch noch brauchte sie Zeit. Hoffentlich würde ihre Seele mit dem neuen Wissen über Dennis tatsächlich heilen und sie konnte sich mit Haut und Haaren auf eine Liebe einlassen. Irgendwann einmal.

 

Der Friedhof in Bygland war deutlich größer als der in Åraksbø. Annika folgte Erik zum Familiengrab seiner Mutter. Zwei Plätze weiter war eine ältere Frau damit beschäftigt, das Grab zu säubern. Sie sah auf und nicke ihnen freundlich zu, bevor sie sich wieder ihrer Arbeit widmete.

Während Erik einen Blumenstrauß niederlegte, den er unterwegs gekauft hatte, wanderten Annikas Gedanken zu dem Brand, bei dem seine Mutter ihr Leben verloren hatte. Sie hatte keine Sekunde gezögert, durch ein Feuer zu laufen, um ihren kleinen Sohn zu retten.

»Woran denkst du?« Erik musterte sie lächelnd.

»Ich frage mich, ob ich das Gleiche getan hätte wie sie.«

»Dein Leben aufs Spiel setzen, um dein Kind zu retten?«

Annika nickte.

»Vermutlich. In dem Moment denkst du nicht an die Gefahr für dich selbst, nur an das Wohl deines Kindes.« Er legte ihr den Arm um die Schultern. »Ich hoffe, dass ich auch so selbstlos handeln würde, wenn es um meine Familie geht, aber so richtig weiß man das vermutlich erst, wenn es hart auf hart kommt.«

Annika legte ihre Hand auf seine, als sie aus den Augenwinkeln die ältere Frau näherkommen sah.



»Ich höre, Sie sprechen Deutsch«, sagte sie mit starkem Akzent und lächelte freundlich. »Sind Sie Touristen?«

»Ich schon«, entgegnete Annika bereitwillig. »Mein Freund ist von hier.«

Erik warf ihr bei dem Wort einen amüsierten Blick zu, doch Annika konzentrierte sich auf die Frau. Ihr Deutsch war gut, aber schwer zu verstehen.

Sie sah auf das Grab. »Eine Tragödie«, sagte sie leise. »Die Mutter starb beim Versuch, ihr Kind zu retten.«

»Sie kennen die Geschichte?«, erkundigte sich Annika.

»Sie ist in Bygland aufgewachsen. Ich kannte sie als kleines Mädchen. So ein grausamer Tod. Und so sinnlos.«

Annika glaubte, sich verhört zu haben. »Wieso sinnlos? Sie hat ihrem Kind das Leben gerettet.«

»Nein. Es starb auf dem Weg ins Krankenhaus an der Rauchvergiftung. Es liegt auch hier, zusammen mit seiner Mutter.«

Erik schüttelte nur ungläubig den Kopf.

Annika sah auf den Grabstein, auf dem die Namen von Eriks Mutter und ihren Eltern eingemeißelt waren. Die ältere Frau folgte ihrem Blick.

»Ich weiß nicht, warum der Name nicht auf dem Grabstein steht. Vermutlich war es für den Vater zu schmerzhaft.«

»Täuschen Sie sich vielleicht?«, fragte Erik auf Deutsch. Er schien seine Identität nicht preisgeben zu wollen.

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf und verabschiedete sich. »Es war nett, mit Ihnen zu sprechen. Ich habe nur wenig Gelegenheit, mein Deutsch zu benutzen.«

»Ich habe mich auch gefreut.« Annika lächelte, während ihre Gedanken rasten. Nachdenklich sah sie der Frau nach. »Was hältst du davon?«, fragte sie Erik.

»Keine Ahnung. Sie muss sich irren. Jan ist ja ziemlich lebendig, wie du bestätigen kannst.«

»Aber sie schien sich so sicher zu sein.«

»Sie ist nicht mehr die Jüngste. Vermutlich liegt eine Verwechslung vor. Oder sie hat etwas falsch verstanden. Sie kann von dem Brand unseres Hauses nur über Dritte erfahren haben. Kristiansand ist über hundert Kilometer von hier weg.«

»Vielleicht war sie auf der Beerdigung? Wenn sie die Familie deiner Mutter so gut kannte.«

»Möglich«, gab Erik zögernd zu. »Trotzdem bringt sie da was durcheinander.«

»Oder du hattest noch einen Bruder. Oder eine Schwester. Sie hat das Geschlecht des Kindes nicht erwähnt.«



Er sah sie perplex an. »Das wüsste ich aber.«

»Wirklich? Schau, wie es mir mit Dennis ging. Ich habe ihn komplett vergessen.«

»Du warst gerade mal zwei. Ich schon fünf. Da erinnert man sich besser.«

»Der Brand war ein traumatisches Erlebnis. Vielleicht hast du es verdrängt. Vielleicht war Jan ein Zwilling, so wie ich. Oder deine Eltern hatten noch ein Baby.«

Erik schüttelte den Kopf. »Meine Mutter sprach damals nur davon, Jan zu holen.«

»Vielleicht erinnerst du dich falsch. Das Gedächtnis spielt uns manchmal Streiche.«

»Aber unser Vater hätte uns davon erzählt. Meinst du nicht?«

Annika zuckte mit den Schultern. »Möglicherweise wollte er euch den Schmerz ersparen. So wie meine Eltern mir. Er litt bestimmt sehr darunter, seine Frau verloren zu haben. Und dann noch ein kleines Kind. Vielleicht wollte er sich selbst nicht der Qual der Erinnerung aussetzen. Deshalb hat er auch den Namen nicht auf den Grabstein schreiben lassen.«

»Du scheinst ziemlich überzeugt zu sein.«

»Die Frau schien zu wissen, wovon sie spricht. Ich halte es durchaus für möglich.«

Erik starrte auf das Grab und biss sich auf die Unterlippe.

»Du nicht?«

Er verzog die Mundwinkel. »Es würde mein ganzes Leben auf den Kopf stellen.«

»Also besser nicht daran rühren?«

»Ich weiß nicht. Der Einzige, der uns verlässlich Auskunft geben kann, ist sowieso mein Vater.«

»Denkst du, er wird es nicht tun?«

»Nachdem er so lange geschwiegen hat? Ich nehme an, er hat seine Gründe. Oder es gibt nichts. Es ist bestimmt nichts dran. Ich würde mich doch erinnern.«

»Aber wir könnten ihn fragen.«

»Könnten wir.« Erik schien zu zweifeln, dann zuckte er mit den Schultern. »Können wir«, stimmte er zu und sah auf seine Uhr. »Mit etwas Glück erwischen wir ihn noch in der Mittagspause. Aber glaub nicht, dass du einem weiteren Familiengeheimnis auf die Spur kommen kannst. Es gibt mit Sicherheit eine ganz einfache Erklärung.«

Annika erging sich während der Fahrt in weiteren Spekulationen, bis sie sogar selbst zugeben musste, dass die Fantasie mit ihr durchging. Sie wusste nicht, was sie hoffen sollte. Der Gedanke, dass Erik und Jan ebenfalls ein Geschwisterchen verloren hatten, von dem sie nichts ahnten, war aufregend. Andererseits würde es bedeuten, dass ein kleines Kind bei dem Brand qualvoll sein Leben gelassen hatte, und das stimmte sie traurig. Darauf wollte sie sicher nicht hoffen. Trotzdem war sie sehr gespannt auf die erneute Begegnung mit Eriks Vater.



 

Herr Sørensen kam gerade aus dem Haus, als sie ausstiegen. Neugierig sah er ihnen entgegen. Er reichte Annika die Hand und begrüßte sie freundlich auf norwegisch.

»Guten Tag«, entgegnete sie höflich. »Ich hoffe, es stört Sie nicht, dass ich schon wieder hier bin.«

Erik ergriff das Wort und schien schnell zum Kern ihres Besuchs zu kommen. Annika beobachtete, wie die Augen seines Vaters groß wurden und sein Kinn herunterklappte. Dann begann er schallend zu lachen. Kurz darauf verfinsterte sich sein Gesicht und er redete schnell auf Erik ein. Annika verfluchte sich dafür, dass sie kein Wort verstand und warten musste, bis er dolmetschte. Er schien mit seinem Vater zu argumentieren. Schließlich sah Herr Sørensen auf die Uhr, machte eine entschuldigende Geste in Annikas Richtung und lief nach einigen weiteren Worten zur Garage neben dem Haus.

»Er muss wieder zur Arbeit«, erklärte Erik. »Wenn du willst, kann ich dich noch hereinbitten.«

»Muss nicht sein, aber du kannst mir übersetzen, was er gesagt hat.«

Er lehnte sich an die Hauswand. Er verlagerte sein Gewicht auf den gesunden Fuß und hob den verletzten etwas an. »Alles bestens«, lächelte er, als er Annikas besorgte Miene sah. »Es tut nur gut, den Fuß ab und zu etwas zu entlasten.«

»Hast du Schmerzen?«

»Er pocht ein wenig. Es war klar, dass über Nacht keine wundersame Heilung stattfindet. Aber es ist schon okay.«

»Dann spuck endlich aus, was dein Vater zu sagen hatte.«

 Erik sah dem Volvo seines Vaters nach, der gerade auf die Straße einbog. »Du hast ja gehört, wie er über die These gelacht hat. Er sagte, die Leute sollen sich um ihren eigenen Kram kümmern, anstatt solche Gerüchte in die Welt zu setzen. Er hätte keinen Grund, ein weiteres Kind zu verschweigen. Jan und ich wären seine einzigen Nachkommen und ich solle bloß keinen dermaßen abstrusen Blödsinn glauben.«

»Du hast ja nichts anderes erwartet.«

»Ja«, dehnte Erik und zog nachdenklich die Unterlippe durch die Zähne.

»Aber?«

»Sein rechtes Augenlid hat gezuckt. Er weiß es vermutlich selbst nicht, aber das ist ein untrügliches Zeichen, dass er gelogen hat.«

»Wer hat gelogen?«, hörten sie eine bekannte Stimme, noch bevor Annika sich auf Eriks Worte einstellen konnte. Jan kam um die Ecke. »Und was macht ihr hier?«



Kommentare