Kapitel 14
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Er trug eine mit Sägemehl bedeckte Arbeitshose und ein kariertes Hemd mit hochgerollten Ärmeln. Ein Pflaster klebte auf seinem linken Handballen.
»Was hast du denn angestellt?«, fragte Annika.
»Kleiner Arbeitsunfall. Kommt öfter vor.« Er atmete tief durch. »Kann ich mal mit dir sprechen?«
Sie warf einen Blick auf Erik, der mit den Schultern zuckte. »Nur zu. Ich warte im Garten auf euch.«
Als er an Jan vorbeilief, hielt der ihn am Arm fest und sagte einige norwegische Worte. Erik nickte nur, blieb aber nicht stehen.
Jan sah ihm nach. »Er ist richtig sauer auf mich, was?«
»Ein bisschen«, stimmte Annika zu. »Es war auch ziemlich heftig, so auf ihn loszugehen. Warum hast du das getan?«
Jan zögerte lange. »Mir hast du erklärt, dass du nicht an einem Freund interessiert bist«, sagte er dann. »Aber an ihm anscheinend schon.«
»Ich habe ihm genau das Gleiche gesagt. Meine letzte Beziehung ist noch nicht so lange her, ich will im Moment keine neue.«
»Warum haben deine Augen dann geleuchtet, als ihr da so in trauter Zweisamkeit um die Ecke kamt?«
»Das bildest du dir ein.« Annika wunderte sich immer wieder, welche Ausdrücke Jan kannte. Sein Deutsch war absolut perfekt. Zugleich war sie erschrocken über seine gute Beobachtungsgabe. Sollte er bemerkt haben, was sie sich selbst gegenüber nicht zugeben wollte? Sie wollte bestimmt nicht der Anlass sein, dass sich die Brüder zerstritten. »Wir verstehen uns gut, das ist alles«, tat sie den Vorwurf ab.
»Wenn du das sagst.«
Sie nahm seinen Arm. »Komm schon, Jan, sei nicht beleidigt. Ich mag euch beide und ich freue mich, dass ich hier so gute Freunde gefunden habe. Ich will mich nicht ständig rechtfertigen, wenn ich mit einem von euch rede. Und ich will ganz sicher nicht zwischen euch stehen. Außerdem war Erik gestern nur zufällig da.«
»Zufällig?«, echote Jan mit deutlichem Unglauben in der Stimme.
»Das kann er dir selber erklären. Wir haben uns einfach nur unterhalten. Hätte ich ihn wegschicken sollen?«
Jan ließ die Schultern sinken. »Nein, natürlich nicht. Ich vermute, der Empfang daheim war nicht besonders herzlich. Und viele gute Freunde hat er in der Gegend auch nicht mehr. Dafür ist er schon zu lange weg.« Jan warf einen Blick zu Erik hinüber, der auf einer Gartenbank saß, seinen Fuß hochgelegt hatte und sein Gesicht in die Sonne hielt. »Ich wundere mich sowieso, warum er immer noch kommt. Unser Vater macht es ihm mit Sicherheit nicht leicht und unser Verhältnis ist auch nicht mehr so, wie es früher war.«
»Vielleicht solltest du ihn einfach fragen.«
»Würde ich, wenn er ehrlich zu mir wäre.«
»Wie kommst du auf die Idee, dass er es nicht ist?«
»Weil er uns immer noch vorspielt, dass er Jura studiert.«
»Vorspielt?«
Jan verlagerte sein Gewicht auf den anderen Fuß. »Ich habe dir erzählt, dass ich mal im Sommer für eine Weile bei Erik in Kiel gewohnt habe. Irgendwann ist mir aufgefallen, dass er ständig alles, was mit seinem Studium zu tun hatte, sorgfältig weggeräumt hat. Ich wurde misstrauisch.« Er sah Annika entschuldigend an. »Ich spioniere normalerweise niemandem nach, aber ich hatte schon länger den Verdacht, dass er uns anlügt. Erik ist nicht der Typ für Jura. Unser Vater konnte ihn zu dem Studium drängen, doch er gab ihm keinen Anlass, es durchzuhalten. Also habe ich mir Gewissheit verschafft. Irgendwann, als er nicht daheim war, habe ich sein Zimmer durchsucht. Er hatte seine Bücher und Arbeitsmaterialien unter seinen Wintersachen in einer Kiste versteckt. Keine Jurabücher. Chemie. Weißt du, was ich glaube? Erik hat sein Studium längst beendet und sich in Deutschland sein Leben eingerichtet. Er hat nicht die Absicht, wieder nach Norwegen zu ziehen.«
Annika sah betreten zu Boden.
»Du weißt es«, rief Jan aus. »Er hat es dir erzählt.«
»Gestern Abend«, gab sie zu.
»Und du meinst wirklich, dass zwischen euch nichts ist? Wenn er dir schon so intime Dinge anvertraut?«
»Das ist nichts Intimes. Es kam einfach zur Sprache.« Beinahe trotzig begegnete Annika Jans Blick. »Warum wolltest du eigentlich mit mir allein sprechen?«, wechselte sie das Thema.
»Ich wollte mich bei dir für meinen Auftritt entschuldigen.«
»Hast du doch schon.«
»Ja, kurz per WhatsApp. Das gilt nicht. Ich möchte nicht, dass du den Eindruck bekommst, dass ich meine Probleme mit den Fäusten löse.«
Nein, der Typ war er nicht. Annika betrachtete ihn. Seine Gesichtszüge waren deutlich weicher als Eriks und seine Haare etwas länger. Er sah nicht wie ein Kämpfer aus und insgeheim musste sie zugeben, dass sie bewunderte, wie er sich behauptet hatte. Auch wenn der Grund völlig daneben gewesen war.
»Was wolltest du überhaupt bei mir?«
Er lachte. »Die Betten sind gekommen. Ich wollte sie dir bringen. Und seitdem fahre ich sie durch die Gegend.«
»Du weißt doch, dass ich mein eigenes Bettzeug dabei habe.«
»Dann war es vielleicht nur ein Vorwand, dich wiederzusehen.«
Sie hängte sich bei ihm ein. »Und findest deinen Bruder bei mir«, stichelte sie. »Kein Wunder, dass du ausgerastet bist.«
Gemeinsam gingen sie zu Erik.
»Na, was für ein hübsches Paar«, spottete er mit einem gutmütigen Grinsen, doch Annika hörte den leicht bissigen Unterton.
Sie löste sich von Jan und stemmte die Hände in die Hüften. »So, um jetzt ein für alle Mal Klarheit zu schaffen: Ich fühle mich ausgesprochen geschmeichelt, dass ihr anscheinend beide Interesse an mir habt. Keine Ahnung, wie ich zu dieser Ehre komme, aber schlagt euch das aus dem Kopf. Ich werde mich ganz bestimmt nicht zwischen euch stellen. Also vertragt euch wieder, damit wir einfach Freunde sein können. Und im Übrigen, Erik, hat Jan dich schon längst durchschaut, was dein Studium angeht. Du solltest ihm sagen, warum du immer noch nach Hause kommst. Ich laufe jetzt hier ein bisschen auf und ab und suche ein paar Blumen, die ich mir anschauen kann, während ihr euch vernünftig aussprecht. Sagt Bescheid, wenn ihr fertig seid.«
Annika wandte sich ab und grinste über die überraschte Stille hinter ihr. Sie fühlte den Blick beider Männer in ihrem Rücken, doch sie widerstand der Versuchung, sich umzudrehen. Als sie sich entfernte, hörte sie noch, wie Jan zaghaft das Wort an Erik richtete.
Sie drehte einige Runden im Garten, besah sich das Gras und wildwuchernde Blumen und lauschte auf die Stimmen der zwei Männer, die sich tatsächlich vernünftig unterhielten. Zumindest ließ ihr Tonfall darauf schließen.
Fast zehn Minuten später rief Erik sie. »Du kannst jetzt wieder kommen. Wir sind fertig.«
Sie lächelte die Männer an. »Alles geklärt?«
»Wir wissen zumindest, dass wir reden müssen«, meinte Jan. »Es ist so viel ungesagt zwischen uns.«
»Ich kann durchaus noch eine Weile spazieren gehen.«
»Nein.« Erik lachte. »Für den Moment haben wir genug geredet. Es muss nicht alles auf einmal sein.« Er grinste seinen Bruder an. »Oder siehst du das anders?«
»Absolut nicht. Wir kümmern uns jetzt erst mal um unseren Gast.« Jan zog Annika auf die Bank, während er selbst aufstand. »Ich hole uns mal was zu trinken und dann erzählt ihr mir, wer gelogen hat.«
»Was meinst du?« Sie runzelte die Stirn.
»Euer Gespräch, als ich dazukam. Ich hatte den Eindruck, dass es wichtig war.«
»Stimmt, da gibt es etwas, das wir dir sagen müssen.«
»Okay, bin gleich wieder da.«
Sie lehnte sich zurück. Da war ein neuer Ton zwischen den Brüdern, der ihr zeigte, dass Missverständnisse geklärt und Barrieren beseitigt worden waren. »Ich freue mich, dass ihr euch ausgesprochen habt«, sagte sie zu Erik.
»Es war interessant«, gab er zu. »Ich hätte nie gedacht, dass er mich durchschaut hat. Aber eigentlich sollte es mich nicht wundern. Er ist deutlich sensibler als ich.«
»Hast du ihm gesagt, dass du seinetwegen kommst, damit ihr den Kontakt nicht verliert?«
»Ja. Es schien ihm viel zu bedeuten. Er war richtig gerührt.«
»Habt ihr auch über Schuldgefühle geredet?«
»Schuldgefühle?«
»Ihr fühlt euch beide schuldig am Tod eurer Mutter. Ihr könntet euch gegenseitig helfen, das zu verarbeiten.«
»Vielleicht. Später.«
Annika ließ das Thema auf sich beruhen. Es war nicht ihre Aufgabe, Vermittler zu spielen. Dazu kannte sie die Männer definitiv nicht lange genug.
Mit einem dankbaren Nicken nahm sie ein Glas Cola von Jan entgegen und rückte zur Seite, damit er neben ihr auf der Bank Platz fand.
Erik übernahm es, seinem Bruder von der Unterhaltung mit der älteren Frau auf dem Friedhof zu erzählen.
»Ist nicht euer Ernst«, rief Jan aus, als er geendet hatte, und sah sie der Reihe nach an. »Sie hat wirklich behauptet, da liegt ein Kind mit im Grab?«
»Ja. Und euer Vater hat es als Unsinn abgetan«, bekräftigte Annika.
»Was es auch ist.«
»Und genau da kommt die Tatsache ins Spiel, dass er gelogen hat«, widersprach Erik.
»Wie kommst du darauf?«
»Weil dann sein rechtes Augenlid zuckt.«
Jan begann zu lachen. »Das ist doch Quatsch.«
»Ist dir das noch nie aufgefallen? Vielleicht lügt er dich ja nicht so oft an wie mich.«
»Kannst du Beispiele nennen?«, hakte Annika nach.
»Jede Menge. Wenn ich ihn als Kind gefragt habe, warum er Jan lieber hat als mich und er sagte, dass er uns beide gleich liebt, hat das Lid regelrecht geflattert. Als ich mir zu Weihnachten ein Mountainbike wünschte und er meinte, er hätte nicht genug Geld dafür, hat es gezuckt. Jan hat übrigens zwei Monate vorher zum Geburtstag eine teure PlayStation bekommen. Aber das nur am Rande. Als ich ihn fragte, warum ich seinen albernen Laden nicht übernehmen dürfe und er meinte, ich wäre zu Höherem bestimmt. Immer hat er sich durch dieses Zucken verraten. Vorhin habe ich es wieder gesehen. Als er sagte, das wäre alles Blödsinn und die komische Alte würde halluzinieren.«
»Du meinst wirklich, er hat gelogen?« Annika versuchte, die Konsequenz aus dieser Erkenntnis zu erfassen. »Was hältst du davon?«, wandte sie sich an Jan, doch der schien gar nicht zuzuhören.
»Du musst mich wirklich hassen«, murmelte er in Eriks Richtung.
»Weil der Alte dich unser ganzes Leben lang deutlich bevorzugt hat? Das ist Schnee von gestern. Und es ist nicht deine Schuld. Annika meint, dass es so ist, weil er dich fast verloren hat.« Erik hob die Hände und ließ sie wieder fallen. »Kann sein.«
»Vielleicht hat es ja auch etwas mit diesem ominösen anderen Kind zu tun«, warf sie ein. »Eurem Bruder oder Schwester.«
Jan richtete sich auf. »Du glaubst wirklich, dass unsere Eltern ein drittes Kind hatten? Das bei dem Brand umgekommen ist?«
»Für mich klingt es plausibel. Eure Mutter hat beide Kinder aus den Betten geholt. Du hast es überlebt, euer Geschwisterchen aber nicht.«
»Aber warum sollte unser Vater uns das verschweigen?«
»Annika vertritt die These, dass er uns den Schmerz ersparen will«, erklärte Erik seinem Bruder. »Ich bin mir da nicht so sicher.«
»Vor allem gäbe es keinen Grund, es auch jetzt noch zu verheimlichen. Wir sind beide erwachsen.«
»Vielleicht schämt er sich, weil er euch angelogen hat«, mutmaßte Annika.
Erik schnaubte. »Der Alte schämt sich nicht wegen seiner Lügen.«
Jan verzog das Gesicht. Es war für Annika deutlich, dass er eine erheblich bessere Meinung von seinem Vater hatte als Erik. »Oder es ist wirklich nichts dran und die Dame hat sich geirrt«, meinte er. »Es ist immerhin schon über zwanzig Jahre her und definitiv die plausibelste Erklärung.«
»Möglich«, stimmte Annika zu. Sie begann selbst zu zweifeln. Herr Sørensen hatte völlig überrascht reagiert und auch, wenn sie seine Worte nicht hatte verstehen können, hatte sein Gesichtsausdruck Bände gesprochen. Entweder war er ein wirklich guter Schauspieler, oder Erik irrte sich, was das zuckende Augenlid betraf. Vielleicht war es einfach nur die Überraschung gewesen. Wenn die Behauptung, er hätte ein drittes Kind gehabt, das bei dem Brand gestorben war, aus der Luft gegriffen war, konnte das zu nicht nur einem zuckenden Augenlid führen.
»Lasst uns das Thema vertagen«, schlug sie vor. »Die ganzen Spekulationen bringen im Moment sowieso nichts. Kommt doch beide mit zu mir und wir machen uns einen schönen Abend.«
»Wir drei?« Erik zog die Augenbrauen hoch.
»Und ich verbitte mir jegliche Anspielungen. Wir können Karten spielen oder uns einfach unterhalten. Ihr könnt auch hierbleiben und üben, wie gute Brüder miteinander umgehen. Es muss mich nur jemand heimfahren.«
Erik und Jan wechselten einen Blick. »Ich verbringe den Rest des Tages lieber mit euch beiden als nur mit ihm«, meinte Jan mit einem Grinsen zu seinem Bruder. »Außerdem kann ich dann endlich die Betten loswerden. Ich würde nur gern kurz duschen und mich umziehen.«
»Unbedingt«, stimmte Erik zu. »Bist du denn mit deiner Arbeit schon fertig?«
»Nicht wirklich. Aber ich bin der Chef, oder? Ich gebe mir einfach den Rest des Nachmittags frei.«
Sie hielten unterwegs bei einem Gemischtwarenladen an, um einzukaufen, und kochten sich dann einen Berg Spaghetti Bolognese. Sie hatten viel Spaß beim Essen. Natürlich kam auch das Thema wieder zur Sprache, das sie alle beschäftigte.
»Wie sieht es denn mit Verwandten aus?«, fragte Annika schließlich. »Die müssten doch wissen, ob eure Eltern ein drittes Kind hatten.«
Die Brüder sahen sich an. »Wir haben nur noch unsere Tante Malin«, erklärte Jan. »Die könnten wir fragen.«
»Wenn sie uns die Wahrheit sagt«, schränkte Erik ein. »Ich liebe Malin, aber was die Familie angeht, war sie nie sehr mitteilsam. Sie lenkt das Thema dann immer schnell in eine andere Richtung.«
Das war für Annika nur ein Indiz, dass sie auf der richtigen Spur waren. Vielleicht gab es in der Familie ihrer Freunde ein Geheimnis, das keiner erfahren sollte. Sie konnte sich zwar nicht vorstellen, was an dem tragischen Tod eines Kindes geheimnisvoll sein sollte, aber warum sonst würde niemand darüber reden wollen? Außer natürlich, es stimmte nicht, was durchaus eine realistische Möglichkeit war.
Am Abend, als sie in ein Spiel Rommé vertieft waren, meldete sich Annikas Laptop mit dem untrüglichen Skype-Klingelton.
»Das muss meine Mutter sein.« Annika stand auf. »Zweimal an einem Tag, das ist ungewöhnlich.« Sie zögerte. Es war unhöflich, den Anruf anzunehmen, wenn sie Gäste hatte, andererseits wollte sie wissen, aus welchem Grund sich Kerstin meldete.
»Geh ruhig ran«, bekräftigte Jan. »Es stört uns nicht.«
»Sollen wir rausgehen?«, bot Erik an. »Damit eure Privatsphäre gewahrt ist?«
»Mal sehen, was sie will. Meinetwegen könnt ihr gern bleiben.«
Sie drehte den Laptop um, damit die Männer nicht im Blickfeld waren und nahm den Anruf an. »Hallo Mama, was gibt es?«
»Annika.« Kerstin lächelte. »Ist bei dir alles in Ordnung?«
»Ja, natürlich.« Sie zog die Stirn in Falten. »Warum auch nicht?«
»Ich weiß nicht.« Kerstin zuckte mit den Schultern. »Ich bin heute so unruhig. Sei nicht böse, ich wollte einfach sichergehen, dass es dir gutgeht.«
Annika setzte sich. Diese Unruhe hatte ihre Mutter oft. Sie befiel sie aus heiterem Himmel und dann wollte sie unbedingt wissen, wo ihre Tochter war und was sie tat. Früher hatte Annika immer gedacht, sie wolle ihr nachspionieren, doch seitdem sie von Dennis’ Tod wusste, sah sie es anders. Wenn man ein Kind verloren hatte, machte man sich um das andere vermutlich doppelt Sorgen. Überhaupt verstand Annika ihre Mutter inzwischen deutlich besser. Sie konnte ihre depressiven Phasen nachvollziehen und ihr Verhalten leichter einschätzen. Kerstin litt immer noch unter dem Verlust ihres Sohnes und war nicht in der Lage, nach vorn zu sehen und sich am Leben zu freuen. Annika wünschte sich, sie könnte ihre Mutter irgendwie aufheitern.
»Ich war heute an Dennis’ Grab«, erzählte sie.
Das hätte sie nicht sagen sollen. Kerstins Miene verschloss sich augenblicklich. Annika konnte regelrecht sehen, wie sich ihre Mutter in sich selbst zurückzog. Dabei wollte sie doch nur ein wenig über ihren Bruder sprechen, in der Hoffnung, Kerstin damit die Gelegenheit zu geben, die Bitterkeit aus der Seele zu waschen.
»Mama, bitte, lass uns über ihn reden.«
»Wozu? Das hat doch keinen Sinn.«
»Natürlich hat es einen Sinn. Ich weiß überhaupt nichts von ihm. Aber ich möchte ihn kennenlernen. Ich will wissen, wie er war.« Annika hielt den Atem an, während sie ihre nächsten Worte abwägte. Doch die Neugier war stärker als die Vorsicht. »Ich will wissen, wie er gestorben ist.«
Kerstin kniff die Lippen zusammen, aber sie brach den Kontakt nicht ab. Annika wartete ab. »Mama?«, fragte sie zaghaft.
Ihre Mutter schloss die Augen und Tränen quollen unter den Lidern hervor. »Ich will nicht darüber sprechen«, wehrte sie ab.
»Meinst du nicht, dass es dir gut täte, es mal auszusprechen?«, insistierte Annika mit leiser Stimme. »Du trägst das schon so lange mit dir herum, es frisst dich doch auf. Bitte erzähle es mir.«
»Vielleicht, wenn du wieder daheim bist«, zögerte Kerstin. »Das ist was Persönliches.«
Nachdenklich kaute Annika auf ihrer Unterlippe. Wer wusste schon, in welcher Stimmung ihre Mutter dann war. Sie konnte auch erneut komplett abblocken. Im Moment hatte sich ein winziges Fenster geöffnet und Annika wollte nicht, dass es sich wieder schloss.
»Ich glaube, wenn wir zusammen sind, kannst du es nicht«, vermutete sie. »Es ist der räumliche Abstand zwischen uns, der dir hilft, mir all das zu erzählen.«
Überrascht blickte Kerstin auf. Dann nickte sie. »Möglich.«
»Komm schon, Mama. Rede mit mir.«
Ihre Mutter war knapp davor, nachzugeben, das sah Annika ihr an. Sie warf einen Blick auf Erik und Jan, ob sie damit einverstanden waren, dass sie ein längeres Gespräch mit ihrer Mutter führte. Beide Männer nickten. Mit fragender Miene deutete Erik auf sich und Jan und dann zur Tür. Doch sie schüttelte den Kopf. Sie durften durchaus hören, was mit Dennis passiert war. Um ehrlich zu sein, hatte sie Angst vor den emotionalen Folgen dieser Geschichte und fühlte sich durch die Anwesenheit ihrer Freunde gefestigter. Mit klopfendem Herzen und einem etwas forcierten Lächeln wandte sie sich wieder ihrer Mutter zu. Würde sie endlich erfahren, wie ihr Zwillingsbruder gestorben war?



























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