Kapitel 15
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»Bist du aufgeregt?«, fragte Stefan mit einem wissenden Schmunzeln.
»Natürlich.« Kerstin erwiderte das Lächeln, doch innerlich war ihr gar nicht so fröhlich zumute. Vor einer Stunde hatten sie die Fähre in Kristiansand verlassen. Bald würden sie in Åraksbø eintreffen. Sie freute sich darauf, das alte Häuschen wiederzusehen, trotzdem graute ihr vor den nächsten Tagen.
Sie drehte sich zu den Kindern um und betrachtete sie liebevoll. Die Zwillinge waren so unterschiedlich. Annika hatte ihre braunen Haare geerbt. Dennis dagegen war strohblond. So wie Morten. Kerstin schloss kurz die Augen. Sie wollte nicht an Morten denken. Und trotzdem kam sie ihm mit jeder Minute näher. Lange Zeit hatte sie seine zahlreichen Einladungen, nach Åraksbø zu kommen, mit dem Hinweis auf das Alter der Kinder abgeschmettert. Doch nun waren sie definitiv alt genug für einen längeren Urlaub. Zudem drängte Stefan darauf, den Ort zu sehen, an dem sie und Morten sich kennengelernt hatten.
Wie um ihre Gedanken zu untermauern, schmunzelte ihr Mann. »Weißt du, dass wir uns nie getroffen hätten, wenn du mit Iris damals nicht nach Norwegen gefahren wärst?«
Die Frage war rein rhetorisch. Sie hatten schon öfter darüber gesprochen, dass sie nur verheiratet waren, weil Kerstin in Norwegen Stefans Mitbewohner getroffen hatte. Allerdings war es eher Mortens Hartnäckigkeit zu verdanken, dass sie auf seiner Party gelandet war. Doch das würde sie Stefan nie sagen. Ihre Beziehung zu Morten war ein Geheimnis, das sie mit ins Grab nehmen würde.
Sie seufzte leise, während sie ihre Kinder musterte. Annika schlief, was ein Segen war, denn mit ihren gut zwei Jahren hatte sie bereits ein Mundwerk, das nie stillstand. Ganz anders als Dennis, der eher ein stiller Beobachter war. Seine einzigen Wörter bisher waren Mama, Papa, Anni, Ja und Nein. Kerstin machte sich schon Sorgen, ob er ein sprachliches Defizit hatte, doch Andrea, mit der sie sich darüber ausgetauscht hatte, hatte sie beruhigt. Ihr Jüngster hatte in diesem Alter ebenfalls noch nicht viel gesprochen. »Vielleicht ist es genetisch bedingt«, hatte sie gelacht und Kerstin hatte mit eingestimmt. Gut, dass Andrea nicht gemerkt hatte, dass ihr Lachen etwas gezwungen geklungen hatte.
Sie kitzelte den nackten Fuß des Jungen und er belohnte sie mit einem überschwänglichen Grinsen. Kerstin hätte ihn am liebsten sofort geknuddelt. Sie liebte ihre Kinder beide so sehr, dass es manchmal weh tat, aber Dennis hatte sich ganz besonders tief in ihr Herz geschlichen.
»Ich bin wirklich gespannt auf das Haus«, sagte Stefan.
Kerstin drehte sich wieder nach vorn. »Es ist nichts Großartiges. Einfach ein Blockhaus mit ein paar Räumen. Was hast du denn mit Morten verabredet?«
»Der Schlüssel liegt am üblichen Platz, sagte er. Du wüsstest schon, wo.« Er sah sie fragend an.
Sie nickte. »Unter dem Dach ist ein kleines Kästchen, das man auf den ersten Blick nicht sieht. Da ist er drin.«
»Unter dem Dach?« Stefan runzelte die Stirn.
»Ja, du musst zuerst von den Nachbarn eine Leiter besorgen und hochklettern.« Kerstin lachte übermütig, als sie den entsetzten Blick ihres Mannes sah. »Quatsch, das Dach ist so niedrig, da komme sogar ich ganz bequem ran.«
»Da bin ich ja beruhigt.« Stefan atmete hörbar aus. »Weißt du nicht, dass es gefährlich sein kann, den Fahrer zu ärgern?«
»Ärgern? Sag mal, wie lange kennst du mich schon?«
»Neun Jahre und vier Monate«, kam es wie aus der Pistole geschossen zurück.
»Und da weißt du immer noch nicht, wie es ist, wenn ich dich wirklich ärgern will?«
Stefan warf ihr einen amüsierten Blick zu. »Hoffentlich werde ich das nie erfahren.«
»Kommt Morten heute schon?«
»Natürlich. Er schaut am Abend mit seiner Familie vorbei.«
»Ein komischer Gedanke, dass er verheiratet ist und Kinder hat.«
»Warum? Er ist ein attraktiver Mann und ein guter Kerl. War doch klar, dass er nicht allein bleibt.«
Kerstin nickte. Mit etwas Glück hatte Morten wirklich mit seiner unseligen Liebe zu ihr abschließen und sich auf die Zukunft konzentrieren können. Sie war gespannt auf seine Frau. Der Knoten in ihrem Magen löste sich ein wenig, als sie an die kommenden Tage dachte. Vermutlich machte sie sich viel zu viel Gedanken und Sorgen. Sie würden bestimmt eine schöne Urlaubswoche erleben.
Sie hatten sich gerade eingerichtet, als Morten auftauchte. »Da seid ihr ja.« Strahlend breitete er die Arme aus und umarmte zuerst Stefan und dann Kerstin. Nur ihr fiel auf, dass er sie länger festhielt als ihren Mann und mit Sicherheit auch fester an sich drückte. »Hattet ihr eine gute Fahrt?«
»Einwandfrei.« Stefan schlug seinem Freund in bester Kumpelmanier auf die Schulter. »Wo ist deine Familie? Du wolltest doch Frau und Kinder mitbringen.«
»Tut mir leid, aber die Kinder haben sich einen Infekt eingefangen und vermutlich gegenseitig angesteckt. Meine Frau wollte sie nicht bei einem Babysitter lassen. Vielleicht klappt es die nächsten Tage, wenn es ihnen besser geht.«
»Wir würden uns freuen.« Stefan deutete auf einen Stuhl. »Setz dich. Magst du etwas trinken? Wir haben gerade unsere Vorräte ausgepackt.«
»Habt ihr auch Wein dabei?«
»Klar. Wir haben extra für dich zwei Flaschen Riesling besorgt. Mir ist ein Bier lieber und Kerstin trinkt gar keinen Alkohol mehr.«
Morten warf ihr einen erstaunten Blick zu. »Das kenne ich aber anders«, neckte er sie.
»Dinge können sich ändern«, meinte sie leichthin. »Und was treibst du so den ganzen Tag?«
»Immer der gleiche Trott. Tagsüber Apotheke, danach Familie.« Morten beugte sich zu den Zwillingen, die auf einer Decke spielten. Annika beäugte den Gast misstrauisch, während Dennis ihn angrinste. Morten hob ihn hoch. »Du bist ja ein freundliches Kerlchen. Verrätst du mir deinen Namen?«
»Dennis«, antwortete Annika für ihren Bruder.
»Ah ja. Und wer bist du?« Morten setzte Dennis zurück und wandte sich dem Mädchen zu.
»Annika«, brummte sie säuerlich, ohne ihn anzusehen.
Kerstin legte ihm die Hand auf die Schulter. »Sie ist Fremden gegenüber ein bisschen reserviert«, erklärte sie. »Das gibt sich.«
»Hübsche Kinder.« Morten lächelte sie warm an. »Ich freue mich für euch, dass es doch noch geklappt hat.«
»Hat auch lang genug gedauert«, ließ sich Stefan vernehmen. »Wir haben ewig geübt.«
Kerstin verzog das Gesicht, aber Morten lachte. »Dafür seid ihr in einem Aufwasch fertig. Von jeder Sorte eins, was wollt ihr mehr?«
»Ach, ich würde schon noch ein Drittes nehmen.« Stefan grinste Kerstin auffordernd an, doch sie gab vor, es nicht zu sehen. Sie wollte auch gern ein weiteres Kind, aber dafür schien wieder viel Geduld nötig zu sein. Vorläufig war sie mit den Zwillingen sowieso ausgelastet.
»Also, was habt ihr morgen vor?« Morten setzte sich auf den angebotenen Stuhl und streckte die Beine aus. »Ich hätte gern den Tag mit euch verbracht, allerdings sind zwei meiner Mitarbeiterinnen krank. Vermutlich der gleiche Infekt, den die Kinder haben. Deshalb kann ich nicht auch noch frei nehmen. Aber am Abend komme ich, wenn ihr einverstanden seid.«
»Natürlich sind wir das. Wir sind ja extra deinetwegen gekommen. Wir können dich auch bei dir zu Hause besuchen, wenn das einfacher ist.«
»Ist schon okay so. Ich will nicht, dass ihr euch auch noch ansteckt. Hier ist es sowieso gemütlicher.« Morten nahm den Wein, den Stefan ihm eingeschenkt hatte, und prostete ihnen vergnügt zu.
Kerstin entspannte sich. Bis auf die extra feste Begrüßung hatte er ihr keinen Anlass zum Misstrauen gegeben. Er half ihr beim Kochen, während Stefan mit den Kindern spielte, und sie fühlte sich in die achtziger Jahre zurückversetzt, als sie mit Iris hier Urlaub gemacht hatte.
Nach dem Essen schwelgten sie in Erinnerungen und machten Pläne für die Zukunft. Morten und Stefan beschlossen, dass sie sich jedes Jahr mindestens einmal treffen mussten. Kerstin ahnte, was von solchen Versprechen zu halten war, stimmte aber zu. Für eine Weile klinkte sie sich aus, um die Kinder zu Bett zu bringen. Mit den beiden Kinderreisebetten war es sehr eng im Schlafzimmer, doch für eine Woche würde es gehen. Sie nahm sich viel Zeit für die Gute-Nacht-Geschichte und ließ sich noch zu einer zweiten überreden. Die Männer konnten sich auch ohne sie hervorragend vergnügen.
Es war spät, als Morten sich verabschiedete. Er hatte deutlich ein Glas zu viel getrunken, beharrte aber darauf, voll fahrtauglich zu sein. Stefan bot ihm die Couch im Wohnzimmer an, doch er lehnte ab. Kerstin war froh darüber. Morten hatte sich ihr gegenüber völlig normal benommen, als hätte es seine angeblich so heftige Liebe zu ihr nie gegeben, dennoch wollte sie ihn nicht unbedingt über Nacht im Haus haben.
Am nächsten Morgen schliefen sie aus, frühstückten ausgiebig und sahen sich die Gegend an, soweit es die Zwillinge zuließen. Am Nachmittag gingen sie zum Baden, was wehmütige Gefühle in Kerstin weckte. Wie lange war es her, dass sie hier mit ihrer besten Freundin geplantscht hatte? Von der damaligen Vertrautheit war inzwischen nichts mehr übrig. Sie und Iris müssten sich mal richtig aussprechen, dachte sie, aber es war schwer, den Anfang zu machen.
Sie streckte sich in der warmen Junisonne aus und schloss die Augen. Der Tag war zu schön, um über Iris und verlorene Freundschaften zu grübeln.
Am Abend kam Morten wie versprochen, doch auch dieses Mal ohne Familie. »Tut mir leid«, meinte er bedauernd, »aber jetzt hat es auch meine Frau erwischt. Ihr müsst wieder mit mir vorliebnehmen.«
Auch an diesem Abend hatte Kerstin nichts an Morten auszusetzen. Er spielte mit den Kindern und schien sich besonders mit Dennis anzufreunden. Sie war beinahe eifersüchtig, als sie sah, wie der Junge Morten anhimmelte. Gemeinsam ließen sie Spielzeugautos durch das Zimmer flitzen, während Annika sich lieber mit ihrem Malbuch beschäftigte.
»Habt ihr Lust, morgen zum Hovatn zu gehen?«, fragte Morten, als die Kinder im Bett waren und sie gemütlich am Tisch saßen. Er genehmigte sich den Rest des Rieslings, Kerstin trank Orangensaft und Stefan hatte sich ein Bier eingeschenkt. »Wir können mit dem Auto hinauffahren und am Wasser picknicken. So wird es für die Kinder nicht so anstrengend.«
Der Hovatn. Der See, den alle Touristen hier besuchten und den sie nie gesehen hatte. »Gerne«, stimmte sie zu und sah Stefan fragend an.
»Klar. Wir hatten sowieso noch nichts geplant. Kannst du dich frei machen?«
»Ich denke schon, es ist ja Samstag. Es kommt natürlich darauf an, wie meine Frau sich fühlt.« Morten sah auf sein leeres Glas. »Darf ich die zweite Flasche aufmachen?«
»Klar, wir haben den Wein ja für dich mitgebracht«, grinste Stefan. »Aber du solltest dich etwas zurückhalten. Du musst noch fahren.«
»Mach dir um mich keine Sorgen. Ich weiß, was ich vertrage. Du noch ein Bier?« Morten nahm die Gläser und ging zu der kleinen Küchenzeile. Er drehte ihnen den Rücken zu, während er einschenkte, was Kerstin und Stefan die Gelegenheit zu einem verstohlenen Kuss gab.
»Glaubt bloß nicht, dass ich das nicht sehe«, kicherte Morten. »Ich habe Augen im Rücken.«
»Und wenn schon. Du bist ja nur neidisch.« Stefan stand auf, als sein Freund die gefüllten Gläser auf den Tisch stellte.
»Wie recht du hast.« Morten zwinkerte Kerstin zu, doch sie sah in seinen Augen, dass er es ernst meinte. Sie schluckte nervös. Hatte er denn immer noch Gefühle für sie?
»Wohin gehst du?«, fragte sie ihren Mann. Plötzlich wollte sie nicht mit Morten allein sein, nicht mal einen Moment.
»Ich hole den Fotoapparat aus dem Auto. Bin gleich wieder da.«
Stefan hatte bei ihrer Ankunft das Haus fotografiert und den Apparat ins Handschuhfach gelegt. Er würde nur ein paar Minuten weg sein, aber Kerstin fühlte sich unbehaglich in Mortens Gegenwart.
Morten sah Stefan nach. »Du hast ihm nie von uns erzählt?«, fragte er leise, als die Tür geschlossen war.
»Es gab nie ein uns«, entgegnete Kerstin heftig.
»Sag das nicht. Es hätte durchaus mit uns klappen können. Vielleicht, wenn du Stefan nicht kennengelernt hättest.«
»Auch dann nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe dir schon so oft gesagt, dass es bei mir nicht gefunkt hat. Das ist nicht deine Schuld, es ist einfach eine Tatsache.«
»Wenn ich mich damals am Reiårsvatn zusammengerissen und dich nicht so bedrängt hätte, hätten wir langsam in unsere Liebe hineinwachsen können.«
»Da gab es nichts, um hineinzuwachsen.« Kerstin schielte aus dem Fenster. Hoffentlich kam Stefan bald zurück.
»Ich weiß nicht. Ich hatte zu Beginn durchaus den Eindruck, dass ich dir gefalle.«
Sie lächelte gequält. »Du bist ein attraktiver Mann. Natürlich hast du mir gefallen. Aber das bedeutet ja nicht, dass ich mich Hals über Kopf in dich verliebe. Wir waren einfach nicht füreinander bestimmt.«
»Da hast du wohl recht.« Morten fuhr die Maserung des Tisches mit dem Finger nach.
»Warum denkst du immer noch daran? Du bist verheiratet, hast Kinder, du hast dein Glück doch gefunden.«
»Ja, das habe ich.« Mortens Lächeln wirkte gezwungen, als er sie ansah. »Aber die erste große Liebe bleibt etwas Besonderes.«
Kerstin wurde einer Antwort enthoben, als Stefan durch die Tür trat.
»Also Leute, jetzt versuchen wir mal, uns alle auf das Bild zu kriegen. Setzt euch mal zusammen.« Er legte den Fotoapparat auf die Anrichte und stellte ihn ein. »Na los, näher zusammen. Ihr tut ja gerade so, als würde einer von euch beißen.«
Wie konnte er nur so ahnungslos sein? Stefan hatte absolutes Vertrauen zu ihnen beiden. Vielleicht hätte sie ihm doch erzählen sollen, was passiert war. Aber jetzt war es zu spät.
Sie erlaubte Morten, den Arm um sie zu legen und sie an sich zu drücken. Stefan betätigte den Timer und rannte um den Tisch herum, um sich neben sie zu setzen. Er hatte gerade noch Zeit, ein Lächeln aufzusetzen, als es schon klickte.
»Prima.« Er grinste seinen Freund an. »Ich schicke dir einen Abzug.«
»Gerne.« Morten sah auf die Uhr. »Ich muss los. Ich will meine Frau nicht so lange mit den Kindern allein lassen.« Er trank seinen Wein aus und stand auf.
»Hoffentlich geht es ihr morgen besser.« Stefan erhob sich ebenfalls. »Sag mal, würdest du ein Bild von Kerstin und mir vor dem Haus knipsen? Als Andenken.«
»Selbstverständlich. Davon will ich aber auch einen Abzug.«
»Freust du dich auf den Ausflug?«, fragte Stefan.
»Sehr«, gab Kerstin zu. Sie hatte sich zu ihm in das schmale Bett gekuschelt. »Bis zum Hovatn haben wir es damals nicht geschafft. Ich bin wirklich gespannt auf den See.«
Stefan versuchte, sich bequemer hinzulegen. »Wissen diese Norweger nicht, wie man vernünftige Betten baut?«, beschwerte er sich. »Wie soll man hier zu zweit liegen können?«
»Das ist anscheinend nicht geplant«, kicherte Kerstin.
»Dann ist Liebesurlaub hier schon mal ausgeschlossen.«
Dennis grunzte im Schlaf und ließ einen lauten Seufzer hören.
»Ist es sowieso«, bedauerte sie mit einem Blick auf die zwei Reisebetten. Sie küsste ihren Mann. »Ich gehe mal hoch in mein Bett.«
»Schade.« Er hielt sie fest. »Bleib doch noch.«
»Es ist schon spät.« Kerstin küsste ihn nochmal und löste sich von ihm. »Bis morgen.«
Sie glaubte, kaum geschlafen zu haben, als sie aufgeregtes Fußtrappeln hörte und die Tür zur Toilette, die zugeschlagen wurde. Nach einigen Minuten schlich Stefan ins Zimmer zurück.
Kerstin grinste in die Dunkelheit. »Du hattest es ziemlich eilig.«
»Hmm«, machte ihr Mann nur und ließ sich mit einem Stöhnen ins Bett sinken.
Alarmiert knipste Kerstin die kleine Lampe an, die an ihrem Bettgestell befestigt war, und beugte sich nach unten. »Was ist los?«
Stefan hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Bauch. »Ich weiß nicht. Ich habe ganz elende Magenkrämpfe.«
Sie kletterte die Leiter hinunter. Besorgt fühlte sie seine Stirn. »Du schwitzt.«
»Ja, dabei ist mir eigentlich kalt. Keine Ahnung, was los ist. Vielleicht der gleiche Virus, der Mortens Familie erwischt hat.«
»Du meinst, er hat ihn auf dich übertragen?«
»Weiß nicht.« Er sprang auf. »Sorry«, murmelte er, während er wieder zur Toilette rannte.
Dennis wimmerte im Schlaf und Kerstin strich ihm beruhigend über den Rücken. Hoffentlich wachten die Kinder nicht von dem Trubel auf. Nachdenklich ging sie zur Küche und kochte Tee. Vielleicht würde er Stefan helfen, seinen aufgebrachten Magen zu beruhigen.
Er lehnte sich gegen den Türrahmen. »So ein Mist«, schimpfte er müde. »Ich will mich im Urlaub nicht mit einem Magen-Darm-Virus herumschlagen.«
Kerstin reichte ihm die Tasse. »Hoffen wir, dass es schnell vorbeigeht.«
»Fühlt sich nicht so an.« Stefan nippte an dem Tee. »Geh wieder ins Bett, Schatz. Ich bleibe hier auf der Couch.«
»Warum das denn?«
»So wie es aussieht, darf ich alle paar Minuten aufs Klo rennen. Ich will die Kinder nicht aufwecken. Und du sollst auch schlafen.«
Kerstin schüttelte den Kopf. Wie konnte sie ins Bett gehen, während sich ihr Mann so quälte? »Ich bleibe bei dir.«
»Das hat doch keinen Sinn.« Er grinste kläglich. »Du kannst mir nicht helfen.«
Sie strich ihm über die dunkelblonden Haare. »Du bist so tapfer«, sagte sie mit ehrlicher Besorgnis, aber auch nicht ganz ohne Spott.
Er küsste sie. »Geh und schlaf. Mach dir keine Sorgen, ich werd’s schon überleben.«
Aus dem Schlafzimmer hörten sie Annika, die nach Kerstin rief. Sie ging, um nach ihrer Tochter zu sehen, und blieb bei ihr, bis sie wieder eingeschlafen war. Dann brachte sie Stefan seine Bettdecke. »Wenn die Kinder nicht wären, würde ich darauf bestehen, dass du im Schlafzimmer bleibst«, sagte sie, als sie ihn zudeckte.
»Aber du siehst mein Argument ein?« Stefan grinste schwach. »Welch ein Sieg.«
»So schlecht scheint es dir ja nicht zu gehen«, stellte Kerstin fest.
»Die Krämpfe haben tatsächlich etwas nachgelassen. Vielleicht kann ich ein wenig schlafen. Geh ins Bett.«
Während sich Kerstin unruhig in dem schmalen Stockbett umherwälzte, lauschte sie ständig nach draußen. Immer wieder hörte sie, wie Stefan die Toilette aufsuchte. Hoffentlich verließ ihn der Virus so schnell, wie er gekommen war. Sie mochte es gar nicht, wenn ihre Lieben krank waren.
Schließlich döste sie doch ein. Als sich die Zwillinge am Morgen regten, blickte sie kurz ins Wohnzimmer. Stefan schlief fest auf der Couch. Kerstin sah auf die Uhr. Sie hatten noch Zeit. Sie würde ihm so viel Schlaf wie möglich gönnen. Sie ging zurück, legte sich mit den Kindern zusammen in das untere Bett und las ihnen eine lange Geschichte vor.
Irgendwann stand Stefan im Türrahmen und sah liebevoll auf seine Familie hinab. »Guten Morgen.«
Die Kinder quietschen und sprangen aus dem Bett, um ihn zu umarmen.
»Wie geht es dir?«, fragte Kerstin.
»Besser«, nickte er beruhigend. »Ich glaube, das Schlimmste habe ich überstanden. Aber ich befürchte, dass ich den Ausflug auslassen muss. Das ist mir zu riskant. Der Weg dürfte nicht unbedingt mit Dixie-Klos gesäumt sein.«
»Kann ich mir nicht vorstellen.« Kerstin lächelte über seinen Scherz. Es schien ihm tatsächlich besser zu gehen. Aber er sah müde aus.
»Magst du frühstücken?«
»Nein, danke. Ich bin froh, dass momentan alles leer zu sein scheint.« Er grinste schief. »Ich lege mich nochmal ins Bett. Vielleicht kann ich jetzt ein wenig schlafen.«
»Gute Idee. Schade, dass es hier kein Telefon gibt. Dann könnten wir Morten absagen.«
»Nein, das ist nicht nötig. Ihr macht den Ausflug einfach ohne mich.«
»Kommt nicht infrage.«
»Was willst du denn tun? Einen ganzen Urlaubstag vergeuden, um bei mir Händchen zu halten? Ich bin schon fast wieder okay, ich fühle mich nur nicht fit genug für eine Wanderung. Aber du hast dich darauf gefreut. Und die Kinder brauchen Bewegung.« Liebevoll sah er auf die Zwillinge, die sich gerade um ein Kuscheltier stritten. Annika lautstark, Dennis dafür mit einem festen Griff.
Kerstin schlichtete den Streit und nahm die Kinder bei der Hand. »Dann gehen wir mal essen. Ich schaue nachher nochmal nach dir.«
Stefan nickte ihr dankbar zu und kuschelte sich ins Bett.
Die Zwillinge quengelten und kosteten Kerstin den letzten Nerv. Wieso waren sie eigentlich immer gemeinsam unleidlich? Stefan hatte recht. Sie mussten unbedingt nach draußen und sich austoben.
»Jetzt sei endlich still«, fuhr sie Dennis an, der lautstark brüllte, weil Annika von seinem Brot abgebissen hatte. Als sich die großen blauen Augen mit Tränen füllten, fühlte sie sich sofort schuldig. »Tut mir leid, mein Schatz, Mami geht es heute nicht besonders gut.« Der Schlafmangel machte sich bemerkbar. Sie hatte die letzten Tage überhaupt schlecht geschlafen. Vielleicht tat der Ausflug ihr gut. Wenn sie nur mit Stefan gehen könnte anstatt mit Morten. Sie wollte nicht mit ihm allein sein. Doch das konnte sie ihrem Mann nicht erklären.
Da hörte sie auch schon sein Auto. Kurz darauf klopfte es an der Tür und Morten kam herein. »Seid ihr fertig?«
»Stefan ist krank«, berichtete sie ihm. »Anscheinend die gleiche Sache, die auch deine Familie hat.«
»Ach nein.« Betroffen ließ Morten die Schultern hängen. »Hat es ihn schlimm erwischt? Kann er denn mitkommen?«
»Ich fürchte nicht. Er hat sich noch einmal hingelegt. Er war die ganze Nacht unterwegs.« Sie lächelte verlegen.
»Ich verstehe. Wir hatten auch keine gute Nacht. Den Kindern geht es gar nicht gut. Immerhin fühlt sich meine Frau ein wenig besser. Sie hat mich bestärkt, zu euch zu fahren.« Er sah sich um. »Kann ich zu Stefan rein?«
»Ja, aber sei leise, falls er schläft.«
Kerstin räumte den Frühstückstisch ab und hörte, wie sich Morten mit Stefan unterhielt. Als er zurückkam, grinste er. »Dein Mann gibt dich und die Kinder in meine Obhut. Er hat mir die Hölle auf Erden angedroht, wenn ich nicht gut auf euch aufpasse.«
»Dann weißt du, woran du bist.« Kerstin lachte und bemühte sich, Annika einzufangen, die im Zimmer herumtanzte. »Komm, Schätzchen, wir machen einen Ausflug zum See.«
Die Aussicht bewirkte, dass sich beide Kinder einigermaßen schnell anziehen ließen. Kerstin packte noch einen Picknickkorb und verabschiedete sich von Stefan. »Wir bleiben nicht allzu lange weg«, versprach sie ihm.
»Lasst euch Zeit. Ich bin ganz froh, wenn ich für eine Weile Ruhe habe.«
»Kann ich verstehen.« Sie küsste ihn. »Wir sind dann mal weg. Ruh dich aus.«
Sie nahm den Autoschlüssel und sammelte die Kinder ein. »Nimmst du den Picknickkorb?«, rief sie Morten zu. »Wir fahren mit unserem Auto. Das ist einfacher mit den Kindersitzen.«
»Alles klar.« Er half ihr, die Zwillinge anzuschnallen. Dennis krähte vergnügt, als er ihm die Haare verwuschelte.
»Er mag dich«, stellte Kerstin fest.
»Ich ihn auch. Annika natürlich ebenfalls. Du hast sehr nette Kinder.«
»Manchmal.« Sie seufzte lächelnd. »Zwei auf einmal können ganz schön anstrengend sein.«
»Soll ich fahren?«
»Nein, mache ich schon. Sag mir nur, wohin.«
»Einfach nach links der Straße folgen. Es gibt nur die eine.«
»Ich weiß.«
Morten sah sie von der Seite her an. »Ich freue mich, dass du wieder da bist.«
Kerstin nickte. Sie waren damals nur einige Tage hier gewesen, trotzdem wirkte alles so vertraut. Das Dorf hatte sich kaum verändert.
Langsam fuhr sie den steinigen Serpentinenweg entlang, der durch den Wald führte. Es musste auch schön sein, hier zu wandern, aber das wäre für die Kinder zu anstrengend. Vielleicht in ein paar Jahren, dachte sie. Das würde allerdings voraussetzen, dass sie wiederkamen. Sie warf Morten einen Blick zu. Warum nicht? Was damals passiert war, war auch ihre Schuld gewesen. Sie hätte ihm einfach deutlicher zeigen müssen, dass sie nicht an ihm interessiert war. Aber das war Schnee von gestern und am besten dachte sie nicht mehr daran.
»Stop. Hier ist die Abzweigung.« Morten deutete auf einen Weg, der nach links von der Hauptstraße abbog. »Warte kurz, ich zahle die Maut, dann können wir weiter.«
Er hinterlegte die geforderte Gebühr und öffnete die Kette über der Straße, damit Kerstin passieren konnte.
Ende dieser XXL-Leseprobe.
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