Kapitel 2
2
Wie betäubt saß sie auf der Couch. Sie fühlte sich mies. Warum hatte sie das getan? Wie sollte sie den Mann fürs Leben finden, wenn sie jemanden wie Sven in die Wüste schickte? Wie sollte sie jemals finden, was sie suchte, wenn sie keine Ahnung hatte, was das war? Wie konnte sie diese Leere bezwingen, die immer auftrat, wenn sie sich langfristig binden wollte?
Die Grübelei führte zu nichts. Sie musste sich ablenken. Der Umschlag fiel ihr ein. Aber war sie wirklich gewappnet, sich dem Geheimnis ihrer Eltern zu stellen? Seufzend holte sie das Kuvert von der Kommode und drehte es unschlüssig in den Händen. Noch konnte sie zurück. Doch das hätte ihrem Naturell widersprochen. Mit dem Finger schlitzte sie den Umschlag auf und holte tief Luft, als sie hineingriff und ein zusammengefaltetes Blatt Papier herauszog. Ein einzelnes großformatiges Foto fiel mit heraus. Es zeigte ihre Eltern vor einem Holzhaus, das an einem Hang mitten in einer grünen Wiese stand. Im Hintergrund lag ein See und dahinter erhob sich eine sanfte Hügelkette. Neugierig drehte Annika das Bild um. Åraksbø 1996 stand auf der Rückseite. Zwei Jahre nach ihrer Geburt. Åraksbø, mit einem Kringel über dem A und einem durchgestrichenen o am Ende. Das sah skandinavisch aus. Was tat das Foto in diesem Umschlag? Sie hatte keine Ahnung, dass ihre Eltern je in Skandinavien gewesen waren.
Sie wandte sich dem Blatt Papier zu und runzelte die Stirn. Es war ein Dokument, aber in einer fremden Sprache geschrieben. Vermutlich ebenfalls skandinavisch. Ein Wort war als Überschrift fett gedruckt, doch es sagte ihr nichts. Aber ein Name fiel ihr ins Auge. Dennis Rauner. Darunter stand ihr eigenes Geburtsdatum und ein weiteres Datum, gut zwei Jahre später. Annika wurde eiskalt, als sie ihr Smartphone hervorzog und nach dem Wort googelte. Ihr Mund trocknete völlig aus, als sie auf das Ergebnis sah und das Handy sinken ließ. Es glitt aus ihren Fingern, die plötzlich taub geworden waren, und fiel unbeachtet zu Boden. Annika starrte auf das Dokument, das vor ihr auf dem Tisch lag, unfähig, einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Das Wort war norwegisch und hieß »Sterbeurkunde«. Ein Junge namens Dennis, mit ihrem Nachnamen und ihrem Geburtsdatum, war im Alter von zwei Jahren in Norwegen gestorben.
Ihr wurde schwindelig. Das alles ließ nur einen Schluss zu. Sie war ein Zwilling und ihr Bruder war als Kleinkind ums Leben gekommen. Minutenlang bemühte sie sich, diese Erkenntnis in sich aufzunehmen, das Ungeheuerliche zu fassen. Sie, ein Zwilling. Und ihr Bruder war tot. Mit bebenden Fingern schüttelte sie den restlichen Inhalt aus dem Umschlag. Es war ein weißes Briefkuvert, in dem Fotos steckten. Auf einem erkannte sie ihre Eltern. Ihre Mutter saß zwischen zwei Männern in einem fremden Zimmer. Einer war ihr Vater, der andere ein blonder, gutaussehender Mann im gleichen Alter. Vielleicht ein Freund. Was tat das Bild in diesem Umschlag? Sie wandte ihre Aufmerksamkeit den restlichen Aufnahmen zu. Es waren Fotos von ihren Eltern mit zwei Kindern. Bilder von einem dunkelhaarigen Mädchen, in dem sie sich selbst erkannte, neben einem blonden Jungen. Beide zusammen im Sandkasten, auf dem Schoß ihres Vaters. Aufnahmen von dem Jungen allein, die eindeutig abgeschnitten worden waren. Annika konnte sie alle zuordnen. Die anderen Hälften befanden sich im Fotoalbum ihrer Mutter. Halbe Bilder, auf denen nur sie mit einem Elternteil oder allein zu sehen war. Sie war sich sicher, dass von einer der Aufnahmen vor ihr der restliche Teil sogar in dem Album klebte, das ihre Mutter für sie angelegt hatte.
Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sie war kein Einzelkind, wie sie ihr Leben lang angenommen hatte. Sie hatte einen Bruder. Einen toten Bruder. Dennis. Sie ließ den Namen in sich nachklingen. Dennis und Annika. Was war nur passiert? Warum war er gestorben? Auf welche Weise? Wieso in Norwegen? Sie nahm wieder die Urkunde, hob ihr Handy auf und übersetzte jedes Wort. Doch die Todesursache wurde nicht erwähnt.
Annika war fassungslos. Wie hatten ihre Eltern ihr verschweigen können, dass sie einen Bruder gehabt hatte? Dass sie ein Zwilling war? Geschockt starrte sie auf den Tisch, auf dem sie die Fotos verteilt hatte. War das der Grund, dass sie immer das Gefühl hatte, ihr würde etwas fehlen? Konnte sie sich deshalb nicht in eine Beziehung fallen lassen, weil sie selbst unvollständig war? Weil ein Teil von ihr, ihr Zwillingsbruder, fehlte, und sie keine Ahnung davon gehabt hatte? Nur ihre Seele erinnerte sich und hatte Angst, sich neu zu binden, um nicht wieder verletzt zu werden.
Darüber musste sie näher nachdenken, doch im Moment war sie zu aufgewühlt dazu. Sie wählte die Nummer ihrer Mutter. Es läutete lange. Annika vermutete, dass ihre Mutter Vorwürfe wegen der verpassten Beerdigung erwartete und deshalb nicht abnahm. Doch Annika konnte sehr beharrlich sein. Als der Anrufbeantworter ansprang, legte sie auf und wählte erneut. Dieses Spiel trieb sie noch zwei weitere Male, bis endlich abgehoben wurde.
»Was soll das, Annika?«, hörte sie die müde Stimme ihrer Mutter. »Wenn ich nicht hingehe, weißt du doch, dass es einen Grund hat.«
»Wo warst du heute, Mama?«
»Ach Kind.« Der Seufzer klang abgrundtief. »Ich habe es einfach nicht geschafft.«
»Es war schwer für uns alle.«
»Iris ist jetzt seine Frau. Ich will ihr nicht begegnen.«
»Ich weiß, dass du sie nicht magst, Mama. Aber so schlimm ist sie nicht.«
»Wenn du das sagst.«
»Ja, das sage ich. Sei doch froh, dass Papa wieder jemanden gefunden hat.«
»Und dann noch die Blicke deiner Großeltern. Sie haben mir nie verziehen, dass er meinetwegen in Norddeutschland geblieben ist. Und dann haben wir uns doch scheiden lassen. In ihren Augen war sein Opfer, die Heimat zu verlassen, damit sinnlos geworden. Ich wollte ihnen einfach nicht Rede und Antwort stehen.«
»Sie waren gar nicht da. Nur Onkel Fabian und Tante Susanne mit ihren Familien.«
»Ach.« Ihrer Mutter fiel nichts mehr ein. Es war sowieso alles nur eine Ausrede. Die Scheidung war über zwölf Jahre her, da krähte kein Hahn mehr danach. Aber Annika bohrte nicht nach. Das hatte wenig Sinn.
»Ich habe heute von Iris einen Umschlag erhalten«, erzählte sie.
»Einen Umschlag? Etwas Wichtiges?« Es sollte interessiert klingen, doch Annika wusste, dass sich ihre Mutter für gar nichts mehr begeistern konnte.
»Ich glaube schon. Papa wollte, dass ich die Wahrheit erfahre.«
»Welche Wahrheit?« Nun klang die Stimme aufgeschreckt.
»Dass ich einen Zwillingsbruder hatte.«
Es blieb still am anderen Ende. »Mama?«, fragte sie nach einer ganzen Weile. »Bist du noch da?«
»Ich weiß nicht, was du da bekommen hast«, begann ihre Mutter mit harter Stimme. »Aber du hattest natürlich keinen Bruder.«
»Doch Mama, ich habe seine Sterbeurkunde hier. Und Fotos.«
»Du bist ein Einzelkind. Am besten wirfst du das Zeug weg. Es verwirrt dich nur. Ich muss gehen.«
Sie hatte aufgelegt. Annika starrte das Handy an. Ihre Mutter hatte tatsächlich alles geleugnet. Aber es gab ja noch andere Quellen. Sie wählte wieder.
»Hallo Annika«, hörte sie die Stimme ihrer Stiefmutter. »Ich nehme an, du hast den Umschlag doch geöffnet.«
»Ja, habe ich.«
»Ich sagte, du sollst mit Fragen zu deiner Mutter gehen.«
»Sie leugnet, dass ich einen Bruder hatte. Sie behauptet, ich wäre ein Einzelkind.«
Iris lachte rau. »Das sieht ihr ähnlich.«
»Was ist damals passiert? Weißt du es?«
»Ich habe gesagt, du sollst mich da heraushalten. Ich bin nicht die richtige Adresse, um dir von früher zu erzählen. Das kann nur deine Mutter.«
»Aber sie wird mir nichts sagen.«
»Dann musst du einen Weg finden, zu ihr durchzudringen. Ich kann dir da wirklich nicht helfen. Es ist einfach nicht mein Platz.«
Seufzend beendete Annika das Gespräch. Wie sollte sie mehr über ihren toten Bruder erfahren, wenn niemand mit ihr sprechen wollte?
In dieser Nacht fand sie keinen Schlaf. Sie trauerte um ihren Vater und weinte heiße Tränen um seinen Tod. Doch er wurde überschattet von ihrer Entdeckung. Die Enthüllung, dass sie einen Zwillingsbruder gehabt hatte, raubte ihr immer noch den Atem. Sie versuchte mit aller Macht, sich an früher zu erinnern, an die Zeit zu zweit. Doch es gelang ihr nicht. Sie spürte nur den schmerzlichen Verlust und vermisste den Bruder, den sie vergessen hatte. Zudem konnte sie es nicht fassen, dass ihre Eltern ihr nie von ihm erzählt hatten. Warum waren Fotos zerschnitten worden, die sie beide zeigten, warum hatte ihre Mutter jede Spur ihres Sohnes aus ihren Fotoalben getilgt? Es war doch schlichtweg nicht möglich, dass sie sich nicht mehr an ihr Kind erinnern wollte. Oder doch? Ihre Mutter war schon ein wenig seltsam, das musste Annika zugeben. Und niemand war da, der bereit war, ihr Antworten zu geben.
Sie setzte sich auf. Doch. Es gab jemanden. Sogar im Moment in der Nähe. Sie schielte auf ihren Wecker. Es war erst fünf Uhr. Definitiv zu früh, um ihre Tante anzurufen. Sie legte sich wieder zurück, war aber viel zu rastlos. Schließlich stand sie auf und putzte ihr Häuschen durch, um sich abzulenken. Um neun Uhr griff sie zum Telefonhörer. Ihre Verwandten wollten heute zurückfahren, da saßen sie bestimmt gerade beim Frühstück. Da sie von der Familie ihres Vaters keine Handynummern hatte, rief sie einfach in der Pension an, in der sie abgestiegen waren, und fragte nach Frau Andrea Rauner.
»Annika«, hörte sie kurz darauf die freundliche Stimme ihrer Lieblingstante. »Was gibt es?«
»Ich weiß, dass es ungünstig ist, Tante Andrea, aber hättest du ein wenig Zeit für mich? Für ein Gespräch? Es ist ziemlich wichtig für mich.«
»Na klar. Schieß los.«
»Nein, nicht am Telefon. Persönlich wäre mir lieber.«
Es blieb einen Moment still in der Leitung. »Dann muss es wirklich wichtig sein. Soll ich zu dir kommen?«
»Wenn das ginge.«
»Ich mache es einfach möglich. In spätestens einer Stunde bin ich bei dir.«
Verlegen drehte Annika ihr Teeglas in der Hand. Sie freute sich, ihre Tante zu sehen, doch es war nicht so einfach, die lange Zeit zu überbrücken, in der sie keinen Kontakt gehabt hatten. Am Tag zuvor hatte sie mit der Familie ihres Vaters eher Belanglosigkeiten ausgetauscht, sich mehrmals angehört, wie groß sie geworden war, und sich nach den Großeltern erkundigt. Jetzt wusste sie nicht, wie sie beginnen sollte.
Verstohlen musterte sie ihre Tante. Sie war inzwischen Mitte fünfzig und ein wenig molliger, als Annika sie in Erinnerung hatte. »Es tut mir leid, dass der Kontakt zwischen uns so abgerissen ist«, begann sie zögernd.
Andrea zuckte mit den Schultern. »Das hast nicht du zu verantworten. Du warst noch ein Kind. Was kann ich für dich tun?«
»Ich habe da gestern etwas erfahren …«
»Okay«, dehnte Andrea und sah sie abwartend an.
Annika legte eines der Kinderfotos auf den Tisch.
Ihre Tante sog tief die Luft ein und nippte an ihrem Wasser. »Dein Vater wollte es dir immer sagen. Er wollte dir von Dennis erzählen und er litt darunter, dass er deiner Mutter versprochen hatte, es nicht zu tun.«
»Warum? Warum durfte ich es nicht erfahren?«
»Ich weiß es nicht. Ich muss leider gestehen, dass ich Kerstin nicht besonders gut kenne. Als ich deinen Onkel kennengelernt habe, war dein Vater gerade ausgezogen. Es herrschte ziemlich dicke Luft bei ihm daheim, weil seine Eltern es nicht guthießen, dass ihr Nesthäkchen unbedingt in Hamburg studieren wollte. Bei jedem Telefonat hagelte es Vorwürfe, bis er sich gar nicht mehr meldete. Ich habe ihn zum ersten Mal getroffen, als ich mich mit deinem Onkel verlobt habe. Bis dahin hatten sich die Fronten etwas beruhigt und der Kontakt wurde wieder intensiver. Als er Kerstin traf, brachte er sie zu unserer Hochzeit mit, damit sie die Familie kennenlernte. Wir haben uns gut verstanden. Sie war eine fröhliche junge Frau, die uns allen sofort sympathisch war.«
»Meine Mutter?«, hakte Annika ungläubig nach.
»Ja.« Andrea lächelte. »Deine Eltern waren so glücklich, als sie heirateten. Ich weiß nicht, was passiert ist. Irgendwann in der Schwangerschaft veränderte sie sich. Man tat es mit Schwangerschaftsdepression ab und tatsächlich besserte sich ihr Zustand nach eurer Geburt wieder. Aber ich meine immer noch, dass irgendetwas geschehen ist, über das sie nicht sprechen wollte. Sie war nicht mehr so ausgelassen und fröhlich wie früher. Deine Großeltern sagten, dass sie endlich erwachsen würde und die Verantwortung spürte, Kinder zu haben. Ich bin mir da nicht so sicher. Allerdings haben wir uns zu selten gesehen, um das wirklich beurteilen zu können. Ich weiß nur einmal, beim sechzigsten Geburtstag deines Opas hat sie etwas zu tief ins Glas geschaut und war wieder so, wie ich sie kannte. Ihr Lachen war ansteckend und wir hatten viel Spaß. Aber am nächsten Tag verdammte sie den Alkohol und wetterte, dass er das ganze Leben kaputtmachen könne. Ich habe sie gefragt, was sie damit meint, aber sie hat mich einfach stehenlassen.«
»Mama hat nie einen Tropfen Alkohol getrunken«, stimmte Annika zu.
»Das kam aber ganz plötzlich. Ich glaube, es war kurz vor ihrer Schwangerschaft. Früher war das nicht so. Da hat sie sich durchaus gern mal ein Glas Wein gegönnt. Ich vermute, dass sie in betrunkenem Zustand etwas getan hat, das sie zutiefst bereut und deshalb jeglichem Alkohol abgeschworen hat.«
»Aber du weißt nicht, was.«
»Nein, keine Ahnung. Ein knappes halbes Jahr nach der Feier passierte dann die Tragödie mit deinem Bruder, und sie ist nie wieder gekommen. Dein Vater hat immer allein mit dir Urlaub in Bayern gemacht. Und wie du weißt, war damit nach der Scheidung auch Schluss.« Andrea seufzte. »Es ist schade, dass wir uns so aus den Augen verloren haben, aber ich kann niemandem die Schuld dafür geben.« Sie straffte sich. »Ich nehme an, du willst ein paar Antworten.«
»Richtig. Mama hat es schlichtweg geleugnet und Iris will sich heraushalten.«
»Ist vielleicht auch vernünftig. Sie will es sich nicht mit deiner Mutter verderben.«
»Sie verstehen sich sowieso nicht sehr gut. Ich glaube, Mama hat es Papa nie verziehen, dass er wieder geheiratet hat, obwohl sie immer sagte, sie gönnt ihm sein Glück.«
»Sie hat sich nie vom Tod deines Bruders erholt und das hat sich auf ihre Ehe ausgewirkt. Irgendwann haben sie wohl nur noch nebeneinanderher gelebt. Eine Scheidung war das Beste für beide.«
Annika nickte langsam. »Jetzt verstehe ich so manches. Ich wusste nie, in welcher Stimmung ich sie vorfinden würde, wenn ich aus der Schule kam. Manchmal war sie ganz normal, hatte gekocht, half mir bei den Hausaufgaben und hat mit mir gespielt, aber an anderen Tagen saß sie immer noch am Frühstückstisch. Sie hatte sich nicht mal angezogen, sondern saß genauso da wie am Morgen und malte imaginäre Kringel auf den Tisch. Wenn sie in diesem Zustand war, bin ich in mein Zimmer gegangen und habe sie nicht gestört. Wenn Papa aus der Arbeit kam, hat er mit ihr geredet und sich um mich gekümmert. Als wir nach der Scheidung nach Neumünster gezogen sind, ging ich dann zu meiner Freundin Rieke, wo ich immer willkommen war. Aber ich konnte auch Papa jederzeit anrufen, wenn Mama mal wieder weggetreten war.«
»Kam das oft vor?«
»Ab und zu. Ganz schlimm war es immer an meinem Geburtstag. Sie hat sich zusammengerissen, um mir den Tag nicht zu verderben, und dachte, ich merke nicht, wie sie heimlich weint. Ich habe mich ständig gefragt, warum sie meinen Geburtstag so hasst.«
»Das muss schwer für dich gewesen sein.«
»Ja, das war es. Als Kind dachte ich, es wäre meine Schuld.«
»Hast du sie nie nach dem Grund gefragt?«
»Natürlich. Sie war zutiefst erschrocken und hat mir versichert, dass es überhaupt nichts mit mir zu tun hat, aber eine Erklärung hat sie mir nicht gegeben.« Annika atmete tief durch. »Jetzt verstehe ich es. Es war auch der Geburtstag des Kindes, das sie verloren hat.«
»Wurde es denn nie besser mit ihr?«
»Doch. Sie ist zwar immer sehr in sich gekehrt, aber so schlimme Episoden hatte sie schon lange nicht mehr. So viel ich weiß.«
»Du bist trotzdem schnell ausgezogen.«
»Sobald ich achtzehn war. Es ist einfach deprimierend, mit jemandem zusammenzuleben, der nie lacht. Sie hatte dieses Haus von ihrer Großtante geerbt und hat es mir geschenkt. Sie war bestimmt froh, mich los zu sein.«
»Red dir das nicht ein. Kerstin hat ihre Defizite, aber sie hat dich immer aufrichtig geliebt.«
Annika biss sich auf die Lippe. Wie gerne würde sie das glauben. »Wie ist mein Bruder gestorben?«, wollte sie wissen.
»Deine Eltern machten mit euch Urlaub in Norwegen. Der beste Freund deines Vaters stammt von dort. Sie hatten eine Fahrt zu einem See geplant, aber deinem Vater ging es nicht gut und er blieb zuhause. Sein Freund unternahm den Ausflug mit euch und eurer Mutter alleine. Bei einer Bootsfahrt auf dem See ist dein Bruder ins Wasser gefallen und ertrunken.«
Annika schlug sich die Hand vor den Mund. Sie spürte einen heftigen Stich im Herzen, als sie sich die Szene vorstellte, und Tränen traten in ihre Augen.
»Deine Mutter gab sich die Schuld an dem Unglück. Es war auch für dich sehr schlimm. Du hast immer nur nach Dennis gerufen und warst überhaupt nicht mehr zu trösten. Man sagt ja, dass Zwillinge oft eine besondere Verbindung haben. Ich weiß nicht, ob das bei euch der Fall war, aber du hast eindeutig den Verlust gespürt. Deine Mutter wusste sich nicht mehr zu helfen. Sie trauerte selbst so sehr und du hast den ganzen Tag nur geschrien. Schließlich kam dein Vater für zwei Wochen mit dir nach Bayern. Es fiel ihm schwer, deine Mutter allein zu lassen, aber für sie war es das Beste. Sie konnte in dieser Zeit zur Ruhe kommen und sich mit dem Tod ihres Kindes auseinandersetzen. Und wir haben nach besten Kräften versucht, dich abzulenken.«
»Hat es geklappt?«
»Einigermaßen, ja. Die neue Umgebung war hilfreich. Aber du hast noch lange nach Dennis gerufen und immer wieder gefragt, wo er ist. Erst mit der Zeit ist die Erinnerung an ihn verblasst. Deshalb hat deine Mutter vermutlich beschlossen, dir nie von ihm zu erzählen. Ich bin sicher, sie wollte dir den Schmerz ersparen. Dein Vater war nicht dieser Meinung, aber ihr zuliebe hat er zugestimmt. Wir alle mussten ihr versprechen, Dennis in deiner Gegenwart nie zu erwähnen.« Andrea sah sie mitfühlend an. »Wie geht es dir jetzt nach dieser Enthüllung?«
»Ich weiß nicht«, gab Annika zu. »Irgendwie ist alles in mir taub, aber ich könnte ständig heulen. Dabei weiß ich nicht, ob es wegen Papa ist, oder der Erkenntnis, dass ich einen Bruder hatte. Ich finde es so furchtbar, dass er ertrunken ist. Was für ein grässlicher Tod.«
Andrea nahm ihre Hände. »Es tut mir so leid, Annika. Wenn ich dir irgendwie helfen kann …«
»Das hast du schon getan. Ich danke dir.«
»Gern geschehen.« Ihre Tante sah auf die Uhr. »Du, es tut mir leid, aber ich muss los. Wir haben noch eine lange Fahrt vor uns.«
»Richtig. Entschuldige, dass ich dich aufgehalten habe.«
»Kein Problem. Es war selbstverständlich, dass ich gekommen bin.« Andrea umarmte sie herzlich. »Ich hoffe, wir bleiben in Kontakt.«
»Unbedingt. Ich melde mich.«
»Das wäre schön.« Ihre Tante drückte sie noch einmal und verabschiedete sich dann.































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