Kapitel 3

 

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Gedankenverloren rührte Annika in ihrem Tee, der inzwischen kalt war. Ihr Herz fühlte sich an wie eine endlose Wüste. Zum Glück war Samstag, einen Arbeitstag hätte sie nicht überstanden. Sie wusste nicht, worum sie mehr trauerte. Um ihren Vater oder um ihren Bruder. Einen Bruder, den sie zwar gekannt hatte, sich aber nicht an ihn erinnerte. Wie hatte sie ihn nur vergessen können? Sie wischte sich über die Augen, die vom Weinen brannten und inzwischen ausgetrocknet waren. Sie hatte Dennis nicht vergessen. Ihre Seele hatte immer gewusst, dass ihr etwas fehlte. Etwas so Essentielles, dass ihr jede Beziehung nach einer Weile leer erschien. Würde ihr dieses Wissen helfen, wenn sie sich wieder verliebte? Oder würde nach einigen Monaten oder Jahren wieder diese Unzufriedenheit von ihr Besitz ergreifen, die sie weiterziehen ließ? War sie etwa dazu verdammt, nie ihr Liebesglück zu finden, weil ein Teil ihrer Seele fehlte? Der Teil, der ihrem Zwillingsbruder gehört hatte?

Sie nahm sein Foto, das mit den anderen vor ihr auf dem Tisch lag. Ein Foto, in der Mitte durchgeschnitten, so wie er von ihr abgeschnitten worden war. Sie holte die andere Hälfte aus ihrem Album und legte sie daneben, doch das Bild wollte nicht mehr zu einer Einheit verschmelzen. Annika biss sich auf die Lippe, als sie ihren Bruder betrachtete. Blonde Haare standen wirr über kecken blauen Augen und in seinem Gesicht lag ein freches Grinsen, das die ganze Welt anzulachen schien. Wie er nun wohl aussehen würde? Würde man sie als Zwillinge erkennen? Sie sah keine große Ähnlichkeit mit ihrem Bruder. Sie hatte dunkle Haare und grüne Augen und ihr Gesicht war etwas schmaler. Sie sah viel zu ernst aus für eine Zweijährige. Ihr Bruder dagegen schien ein quirliger Geist gewesen zu sein. Doch das Foto vermittelte nur eine Momentaufnahme, sie hatte natürlich keine Ahnung, wie der erwachsene Dennis gewesen wäre. Sie stellte sich vor, wie gut sie sich verstehen würden. Wie sie mit ihren Problemen zu ihm kommen könnte, wie er sie in den Arm nahm und ihr half, jeden Kummer zu überwinden. Es war ein wunderschönes Bild, das sie in ihrem Geist malte und als es erlosch, fühlte sie sich verloren und leerer als zuvor. Ihr Bruder war tot. Er hatte nie die Chance gehabt, das Leben kennenzulernen. Ihr Herz drehte sich bei dem Gedanken einmal um die eigene Achse und der Kloß in ihrem Hals erstickte sie fast.



Entschlossen stand sie auf und goss den Tee in die Spüle. Dann nahm sie den Autoschlüssel und fuhr nach Neumünster zu ihrer Mutter. Zum Glück war nur wenig Verkehr, denn in den knapp fünfzehn Minuten, die sie für die Strecke benötigte, schweiften ihre Gedanken immer wieder ab. Eigentlich war sie überhaupt nicht in der Verfassung, zu fahren, weil sie durch den Tränenschleier in ihren Augen kaum etwas sah.

 

»Annika.« Kerstin sah sie müde an. »Komm herein.«

Annika spürte einen heftigen Widerwillen, das Haus zu betreten. Was wollte sie überhaupt hier? Dachte sie wirklich, ihre Mutter würde ihr von früher erzählen, nachdem sie über zwanzig Jahre geschwiegen hatte?

»Magst du was trinken?«

»Nein, Mama, danke. Ich möchte mit dir reden.«

Ihre Mutter sah sie an. Sie stand einfach nur da, mit hängenden Armen, als wüsste sie nicht, was sie tun sollte.

»Sollen wir uns setzen?«

Kerstin nickte und nahm am Küchentisch Platz. »Es tut mir leid, dass ich nicht bei der Beerdigung war«, murmelte sie.

Annika nickte. Sie fand es schlimm, dass ihre Mutter ihrem Vater nicht einmal die letzte Ehre hatte erweisen können, aber noch schlimmer war es, dass niemand wirklich erwartet hatte, sie vorzufinden.

»Warum habt ihr mir nie erzählt, dass ich einen Zwillingsbruder hatte?« Annikas Stimme war schärfer, als sie beabsichtigt hatte, und als ihre Mutter zusammenzuckte, zwickte sie sofort ein schlechtes Gewissen.

»Wer erzählt so einen Unsinn? Du hast keinen …«

»Mama! Hör auf, es zu leugnen. Ich habe Fotos.« Sie blätterte die Bilder, die sie mitgenommen hatte, eines nach dem anderen auf den Tisch. »Tante Andrea hat mich ein wenig aufgeklärt, aber ich will mehr wissen.«

Ihre Mutter war blass geworden. Mit zitternder Unterlippe starrte sie die Bilder an, dann wandte sie sich ab. »Ich will das nicht sehen«, stammelte sie.

»Warum nicht? Er war dein Sohn, Mama. Willst du ihn einfach vergessen? Warum hast du kein einziges Foto von ihm? Willst du ihn aus deinem Leben herausschneiden?«

Kerstin starrte nur aus dem Fenster. Es machte Annika wütend, sie so zu sehen, doch sie nahm sich zusammen.

»Tante Andrea sagte, dass er auf einer Urlaubsreise in Norwegen ertrunken ist, als er mit dir und Papas Freund unterwegs war. Wie ist es passiert, Mama? Wie konnte er aus dem Boot fallen? Wieso seid ihr ihm nicht sofort nachgesprungen?«



»Ich will nicht darüber reden, verstehst du das nicht?« Ihre Mutter drehte sich um und Annika erschrak. Kerstins Miene war gequält und aufgewühlt und in ihren Augen glitzerten unvergossene Tränen. Annika fühlte sich sofort schuldig, aber sie wollte jetzt nicht zurückweichen. Sie hatte ein Recht, zu erfahren, unter welchen Umständen ihr Bruder gestorben war.

»Wo ist es passiert, Mama?«, fragte sie sanft. »In diesem Åraksbø?« Sie legte ihr das Foto hin, auf dem ihre Eltern mit einem anderen Mann abgebildet waren. »Und wer ist das?«

Kerstins Augen wurden groß und sie begann zu zittern. »Nimm das weg«, raunzte sie und als Annika nicht schnell genug reagierte, ergriff sie das Foto und riss es mitten entzwei. Annika stieß einen empörten Schrei aus und entriss ihrer Mutter die beiden Hälften, bevor sie es komplett zerstörte.

»Was hast du nur, Mama?«, fragte sie fassungslos. »Papa scheinen diese Fotos wichtig gewesen zu sein.«

Kerstin schwieg.

»Mama!«

»Ich will nicht darüber reden, Annika, begreif das endlich. Nicht über Åraksbø, nicht über den Hovatn und überhaupt nicht über Norwegen. Du gehst jetzt besser, ich möchte mich etwas hinlegen.«

»Hovatn? Was ist das?«

Kerstin reagierte nicht. Sie schlurfte ins Wohnzimmer, ohne ihre Tochter weiter zu beachten. Annika hatte sich immer gefragt, warum ständig eine traurige Aura ihre Mutter zu umwehen schien. Nun wusste sie den Grund. Wenn der Gedanke an ihren Bruder ihr schon das Herz umdrehte, wie viel schlimmer musste es sein, das eigene Kind beerdigen zu müssen. Nachdenklich folgte sie ihrer Mutter, die sich inzwischen auf die Couch gelegt hatte. »Wo ist er beerdigt, Mama?«, fragte sie. »Hier oder in Norwegen?«

Lange schien es, als würde Kerstin ihr die Antwort wieder schuldig bleiben, doch dann sah sie mit bebenden Lippen zu ihr hoch. »Es gibt ein Grab in Åraksbø«, flüsterte sie und drehte sich mit dem Gesicht zur Wand.

Ein Grab in Norwegen. Das Grab ihres Sohnes, das sie nie besuchen konnte. Vielleicht auch nicht wollte. Annika seufzte. »Ich komme morgen wieder«, sagte sie leise und schloss die Tür.

 

Annika hatte von ihrer Mutter nicht viel erfahren, trotzdem wusste sie bereits etwas mehr. Åraksbø war ein kleiner Ort, nur etwa hundert Kilometer landeinwärts vom Fährhafen Kristiansand gelegen. Nachdenklich sah sie auf den Interneteintrag. Die Gegend sah einfach bezaubernd aus. Im Hintergrund des Dorfes lag der Åraksfjord, der trotz seiner Bezeichnung kein Fjord, sondern ein großer See zu sein schien. Ob Dennis hier ertrunken war? Sie versuchte, sich an den anderen Namen zu erinnern, den ihre Mutter genannt hatte. Als sie sich die Gegend um Åraksbø ansah, entdeckte sie ihn. Der Hovatn war ein Stausee oberhalb des Dorfes mit knapp sieben Quadratkilometern Oberfläche und einem Abfluss in den Åraksfjord. War es hier passiert? Warum sonst sollte Kerstin diesen Ort extra erwähnen? Annika sah sich Bilder im Internet an und eine leise Sehnsucht nahm von ihr Besitz, diese Gegend mit eigenen Augen zu sehen und zu ergründen, wo und wie ihr Bruder gestorben war. Sie seufzte. Ihre Urlaubspläne für den Sommer sahen ganz anders aus. Sie holte das Telefon und wählte die Nummer ihrer besten Freundin.



»Hi Rieke, hast du einen Moment Zeit?«

»Klar, für dich immer. Du hör mal, es tut mir wahnsinnig leid mit deinem Vater. Ich wäre gestern gern gekommen, aber ich konnte nicht von der Arbeit weg.«

»Kein Thema. Sag mal, hättest du Lust, mit mir nach Norwegen in Urlaub zu fahren?«

»War ich zwar schon zweimal, aber klar. Wann?«

»Diesen Sommer.«

Es blieb einen Moment still auf der anderen Seite. »Ähh«, stotterte Rieke, »du weißt aber schon, dass wir Kroatien gebucht haben, oder?«

»Ja, natürlich, aber da kann ich doch sowieso nicht mit. Wegen Sven.«

»Der hat schon abgesagt.«

»Wirklich?«

»Er sagte, du hast dich so auf den Urlaub gefreut, dass er ihn dir nicht verderben will. Ehrlich Annika, wieso hast du Schluss mit ihm gemacht? Der Junge ist ein Goldstück.«

»Ich glaube fast, das hat mit meinem Bruder zu tun.«

»Mit wem?«

Annika konnte das Fragezeichen in Riekes Miene förmlich sehen und ein Lächeln stahl sich in ihre Mundwinkel. »Erzähle ich dir persönlich. Das ist keine Geschichte fürs Telefon. Aber es ist der Grund, warum ich nach Norwegen will. Ich würde mich echt freuen, wenn du mitkämst.«

»Normalerweise wirklich gern, aber wir haben uns schon komplett auf Kroatien eingestellt. Ich habe doch alles organisiert, wie sieht denn das aus, wenn ich jetzt einen Rückzieher mache? Die anderen verlassen sich auf mich.«

»Verstehe ich. Ich weiß, dass es sehr kurzfristig ist. Aber ich passe. Dann kann Sven mitfahren.«

»Schon, aber ich habe mich auf unseren gemeinsamen Urlaub gefreut.«

»Nächstes Mal wieder, Rieke. Sei nicht böse, ja?«

»Nein, natürlich nicht, das weißt du doch. Und ich bin gespannt auf deine Geschichte. Melde dich bald, ja?«

»Natürlich, sobald ich etwas mehr Ruhe habe.«

Annika verabschiedete sich von ihrer Freundin. Sie seufzte. Schade, dass Rieke sie nicht begleiten konnte. Aber es war eigentlich klar gewesen. Die ganze Clique wollte nach Kroatien fahren. Mit dem Auto, beziehungsweise mit zwei Autos, weil sie zu acht waren. Gemeinsam hatten sie die Zwischenstopps für die lange Fahrt geplant, Campingplätze und Sehenswürdigkeiten ausgesucht und sich aufs Meer gefreut. Annika spürte einen Stich im Herzen. Es war typisch Sven, dass er zurücktrat, um ihr die Reise zu ermöglichen. Rieke hatte recht. Er war ein Goldstück. Aber was sollte sie tun, wenn ihr Herz nicht komplett bei ihm war? Ihr stand jetzt auch nicht der Sinn nach Badeurlaub, Gelächter und abendlichen Trinkgelagen. Es wäre bestimmt lustig, aber sie fand es merkwürdig deplatziert nach allem, was sie in den letzten Stunden erlebt und erfahren hatte.



Sie suchte im Internet nach Ferienhäusern in Åraksbø. Es gab tatsächlich zwei, wenn auch keines dem Haus auf dem Foto glich. Doch sie waren bereits für den ganzen Sommer belegt. Entmutigt starrte Annika auf den Monitor. Natürlich waren sie belegt. Es waren nur noch ein paar Wochen bis zu den Sommerferien. Hatte sie wirklich gedacht, sie könnte jetzt noch ein Haus für diesen Sommer mieten? Sie suchte im Umkreis von hundert Kilometern nach einer Pension oder einem Ferienhaus, doch alles war besetzt oder viel zu teuer. Das war es dann mit ihrem schönen Plan, auf den Spuren ihrer Eltern zu wandeln und den Ort zu sehen, an dem ihr Bruder gestorben war. »Was soll’s, dann eben nächstes Jahr«, murmelte sie halblaut. Doch sie wollte nicht nächstes Jahr nach Norwegen, sie wollte jetzt.

Sie könnte campen, fiel ihr ein. Doch sie hatte keine Campingausrüstung. Sven hatte eine. Aber die brauchte er selbst, außerdem wollte sie ihn nicht darum bitten.

Schließlich rief sie bei mehreren Reisebüros an. Zweimal wurde ihr höflich erklärt, dass die Gegend ausgebucht war, doch die freundliche Dame der dritten Agentur versprach ihr, nachzusehen, ob noch irgendwo etwas machbar wäre.

Annika fand keine Ruhe. Sie war übermüdet und doch völlig überdreht. Ständig sah sie auf die Uhr. Wie lange konnte es dauern, nachzusehen, ob es in der Gegend von Åraksbø ein Ferienhaus, Appartement oder eine Pension mit freien Plätzen gab? Doch die Dame meldete sich nicht mehr.

Das Wochenende verbrachte Annika wie in Trance. Sie weinte um ihren Vater und um ihren Bruder. Sie wollte mit jemandem sprechen und wusste nicht, mit wem. Ihr stand nicht der Sinn danach, sich mit Rieke oder anderen Freundinnen auszutauschen. Mit ihrer Mutter wollte sie nicht reden, mit ihrem Vater konnte sie es nicht mehr. Iris fiel ebenso aus. Ihre Stiefmutter war nie der Typ für intime Gespräche gewesen. Sie verstanden sich einigermaßen gut, aber einen richtigen Draht hatten sie nie zueinander gefunden.

Sie war froh, als es Montagmorgen war und sie wieder zur Arbeit gehen konnte. Es lenkte sie ab. Dennoch überlegte sie ständig, was sie noch tun konnte. Es musste eine Möglichkeit geben, nach Norwegen zu fahren. Vielleicht sollte sie sich einfach ein kleines Einmannzelt kaufen und auf einem Campingplatz in der Nähe von Åraksbø Quartier beziehen. Sie freundete sich gerade mit der Idee an, als am Dienstagnachmittag ihr Handy klingelte und das Reisebüro dran war.



»Hallo Frau Rauner«, hörte sie die freundliche Stimme und ihr Herz begann aufgeregt zu klopfen. »Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, aber ich habe gerade eben erst eine Rückmeldung bekommen.«

»Haben Sie etwas für mich?«, fragte Annika atemlos.

»Kommt darauf an, ob Sie Einschränkungen hinnehmen wollen. Und gewillt sind, Ihren Urlaub etwas nach hinten zu schieben.«

»Welche Einschränkungen?«

»Ich habe mich erinnert, dass wir bisher immer ein kleines Haus in Åraksbø im Angebot hatten, aber dieses Jahr ist es nicht dabei. Ich habe mich mal nach dem Grund erkundigt und erfahren, dass es gerade renoviert wird und deshalb nicht zur Verfügung steht. Ich habe dem Eigentümer erzählt, wie wichtig es Ihnen ist. Schließlich meinte er, er könnte den aktuellen Arbeitsschritt bis Anfang Juli beenden. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dass Sie nur zwei Räume benutzen können, kann er Ihnen das Haus anschließend überlassen. Er gibt Ihnen auch einen Preisnachlass wegen der Unannehmlichkeiten.«

»Welche Zimmer hätte ich denn zur Verfügung?«, erkundigte Annika sich.

»Schlafzimmer, Bad und das Wohnzimmer, das allerdings ziemlich groß ist und eine Küchenzeile hat.«

»Das genügt mir«, entschied sie sofort. Was brauchte sie mehr als ein Zimmer zum Schlafen und eines zum Wohnen? Besser als ein Campingplatz war es allemal. Und von der Zeit her war sie auch flexibel. Sie hatte ihren Urlaub zwar schon beantragt, aber ihr Chef würde sicher bereit sein, den Zeitraum ein wenig nach hinten zu schieben. Mit aufgeregt klopfendem Herzen sagte sie zu.

 

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