Prolog
- Prolog
Mühsam versuchte sie, ihre Tränen im Zaum zu halten, als sie seine Hand streichelte. Auch wenn er mit Sicherheit wusste, wie ihr zumute war, wollte sie sich das auf keinen Fall anmerken lassen. »Ich hab dich lieb«, flüsterte sie mit erstickter Stimme.
»Ich dich auch.« Er lächelte. Wie konnte er lächeln, wo praktisch der Tod an seinem Bett stand?
Sie sah sich in dem kleinen Zimmer auf der Palliativstation um. Es war spärlich möbliert, sorgte aber immerhin für eine vernünftige Privatsphäre, die es ermöglichte, sich in einem einigermaßen würdigen Rahmen zu verabschieden. Sie biss sich auf die Lippe, als ihr bei dem Gedanken schon wieder Tränen in die Augen schossen.
»Weine nicht, Annika, es ist okay.«
Wie konnte er so etwas sagen? Es war überhaupt nicht okay. Ihr Vater war noch viel zu jung, um zu sterben. Drei Jahre lang hatte er sich gegen den verdammten Krebs gewehrt und es hatte tatsächlich so ausgesehen, als würde er den Kampf gewinnen. Doch die Hoffnung hatte sie alle getrogen und einer grausamen Wahrheit Platz gemacht. Es ging zu Ende und niemand konnte ihm mehr helfen. Sie schluckte.
Langsam drehte er den Kopf. »Kerstin?«, fragte er und die schwache Stimme klang hoffnungsvoll.
Ein kurzer Schatten flog über das Gesicht der Frau an der anderen Bettseite. »Nein, mein Schatz. Ich bin es. Iris.«
»Ja, natürlich.« Er lächelte traurig. »Entschuldige.«
Sie nahm seine Hand und legte sie an ihre Wange. »Kein Problem, Schatz. Es tut mir leid, dass sie nicht hier ist.«
»Ich hatte es nicht anders erwartet.« Seine Augenlider senkten sich langsam, doch dann riss er sie gewaltsam auf. »Du musst es Annika sagen«, verlangte er mit erstaunlich kräftiger Stimme.
Vehement schüttelte Iris den Kopf. »Nein, das ist Kerstins Sache.«
»Sie wird es ihr nie erzählen.«
»Und du hast versprochen, es auch nicht zu tun.«
Annikas Blick ging zwischen den beiden hin und her. Wovon sprachen sie? Was erzählen?
»Ich habe dieses Versprechen über zwanzig Jahre lang gehalten.« Die kurz aufgeflackerte Kraft in seiner Stimme ließ nach und er schien in sich zusammenzusinken. »Aber Annika hat ein Recht, es zu erfahren.«
»Kerstin wird dich umbringen, wenn du dein Versprechen brichst.«
Er lachte. Sein Lachen wurde begleitet von einem rasselnden Geräusch, das tief aus seiner Lunge zu kommen schien und Annika durch Mark und Bein fuhr. »Da kommt sie zu spät.« Seine Mundwinkel hoben sich. »Gib ihr wenigstens den Umschlag. Du weißt, welchen. Bitte Iris, tu es. Es ist nicht gut, Geheimnisse zu haben. Du hast gesehen, was es meiner Familie angetan hat. Wir haben so viel falsch gemacht.« Er seufzte tief. Langsam, wie in Zeitlupe, wandte er sich Annika zu. »Es tut mir so leid. Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit. Ich wünschte, ich hätte mich früher entschlossen, dir alles zu sagen. Annika, du hast …«
Er verstummte und schloss die Augen. Erschrocken hielt Annika den Atem an, doch dann sah sie, dass sich seine Brust gleichmäßig hob und senkte. Noch hatte er sich nicht aufgegeben, aber die Anstrengung hatte ihn ermattet in Schlaf sinken lassen.
Sie seufzte. Wie oft würde er aus einem solchen Schlaf noch erwachen, bis es endgültig zu Ende ging? Für ihn hoffte sie, dass er bald in Frieden gehen durfte, aber ihr zerriss es bei dem Gedanken das Herz immer wieder aufs Neue. Vielleicht würde es eine weitere Gelegenheit geben, zu reden. Sie hatte keine Ahnung, wovon er gesprochen hatte und was sie unbedingt erfahren sollte, aber es schien ihm sehr wichtig zu sein.
Fragend sah sie zu Iris hinüber. Doch ihre Stiefmutter beachtete sie nicht. Gedankenverloren kaute sie an ihrer Unterlippe und ihr Blick war abweisender denn je.






























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