Hier ein Auszug aus dem dritten Kapitel

Obwohl Kälte in das Land gezogen war und leichter Frost das Land bedeckte, war die Luft heiß und stickig. Enori hatte Mühe, zu atmen, und hielt sich ein feuchtes Tuch über Mund und Nase. Auch das nahe Meer brachte keine Brise. Die See war unnatürlich still in dieser Nacht. Selbst das Wasser war schal und brackig.

An Land war es noch schlimmer, denn es roch nach verbranntem Fleisch, nach vergossenem Blut und Angst. Ihr war übel von dem Geruch und die Schreie des Leidens durchdrangen ihren Geist.

Die junge Frau hatte sich dicht in ihren Mantel gehüllt, als ob sie hoffte, dass er ihr Schutz bot. Mehr als ein Kleid und einen schweren Umhang trug sie nicht. Das braune Haar hatte sie hochgebunden, damit es sie nicht behinderte. Ihr sonst so freundliches Gesicht war fahl und voller Angst. Sie war es nicht gewohnt, eine Rüstung zu tragen, und hatte daher keine. Zu schwere Kleidung hatte einen schädlichen Einfluss auf den Fluss der Kräfte. Enori hätte die wenigen Netze nicht mehr weben können, die sie beherrschte.

Nur geschulte Gildenmitglieder hatten Übung darin, sich mit Rüstung im Kampf zu bewegen.

Sie hatte über eine Rüstung nachgedacht und nun, da sie das erste Mal in ihrem Leben eine Schlacht sah, verfluchte sie ihre eigene Leichtsinnigkeit. Die Rüsterei hatte ihr einen ledernen Harnisch angeboten. Ein Privileg, dass sie als Mitglied der Gilde genoss. Nicht sehr viele der Festungsbewohner hatten diesen Luxus. Aber sie hatte die Rüstung abgelehnt. Sie hatte ohnehin nichts, was sie einer Klinge oder einem Geschoss entgegensetzen konnte. Von Feinden, die die Mächte der Ebenen für sich nutzten, ganz zu schweigen. Unheimliches und Unfassbares war hier im Gange und sie war ohne Verteidigung.

Unten hörte sie das Klirren der Waffen und wie Geschosse in Körper einschlugen. Die Soldaten schrien und kämpften um ihr Überleben.

Wieder lugte sie aus dem kleinen Fenster hinunter zu dem Kampf.

Zu schlecht vorbereitet waren die Verteidiger. Es gab kaum Rüstungen und Waffen für die eigenen Soldaten der Festung, geschweige denn die Gäste. Deswegen hatte sich Enori bei der Ausgabe zurückgehalten.

Außerdem wollte sie keine falschen Erwartungen wecken. Obgleich sie zur Gilde gehörte, beherrschte sie nicht ein einziges auf dem Schlachtfeld nützliches Wort. Auch war sie im Kampf mit Klingen nicht geschult. An ihr wäre jegliches Kriegsmaterial verschwendet gewesen und so blieb ihr nur, sich zu verstecken. Sie stand an einem der zahlreichen Fenster an der Landseite der Feste Ertrodai. Dicht lehnte sie sich gegen den blauen Stein, aus dem die Burg gefertigt war.



Und der Stein litt unter dem Angriff!

Enori fühlte, wie Schlag um Schlag in das uralte Netz der Festung schlug und es erschütterte. Die Schwingungen übertrugen sich auf sie. Das ständige Vibrieren in ihrem Kopf bereitete ihr Schmerzen.

Jeder Stein, alle Lebewesen waren Teil des allumfassenden Netzes der Ebenen. Gildenmitglieder wie Enori waren sensibel dafür. Sie war nun dicht geduckt in die Schatten einer Nische. Keiner der Kämpfer draußen würde ihr hier Beachtung schenken. Unten im Hof hatten sich Heiler versammelt. Die Söhne der Familie waren postiert, um die Ihren zu schützen. Das ganze Personal war irgendwo im Inneren der Festung und konnte nur hoffen.

Draußen erleuchteten schwebende Globen, Fackeln und nicht zuletzt das Feuer der Angreifer die Szenerie. Es war beängstigend und gespenstisch zugleich. Wieder und wieder prasselten brennende Geschosse in den Stein. Lange würde das nicht mehr gut gehen. Ertrodai war ein altes Bauwerk, das viele Zyklen und Gezeiten erlebt hatte. Steine aus dem abfallenden Kliff hatte die Familie Etro mit viel Aufwand nach oben geschafft und ein beachtliches Bauwerk erschaffen. Die Burg wurde als Hafenersatz und als Zugang zum Kontinent errichtet. Handelsschiffe, die aus fernen Ländern kamen, hatten am Steilkliff geankert und ihre Waren über die Festung ins Landesinnere gebracht.

Heute war es, wie schon die letzten dreihundert Zyklen, der Herrschaftssitz der Familie Etro. Doch all die Zeit, die die Feste schon den Mächten des Meeres und dem starken Wind vom Land trotzte, war sie noch nie angegriffen worden.

Ein stolzes Bauwerk, errichtet in Zeiten von Kunst und Anmut. Der Stein hatte dem Wetter standgehalten und kaum Schaden genommen. Ertrodai bot Schutz und Wärme. Furcht brauchte keiner der Bewohner zu haben.

Bis zur heutigen Nacht, in der, unbemerkt auf dem Weg durch den nahegelegenen dichten Wald, ein unbekanntes Heer auf die Burg zumarschiert war, um sie zu erobern.

Enori war sich sicher, dass starke Verschleierungskräfte gewirkt haben mussten. Eine solch große Armee konnte kein Feldherr unbemerkt durch das Land bewegen. Doch kein Späher, keine geflügelten Bogda, nichts hatte den Angriff angedeutet.





Die Bewohner waren auf einen Kampf nicht vorbereitet, obgleich die Familie eine Wacharmee unterhielt. Die Männer waren zahlreich, aber schlecht ausgebildet. Der Kommandant war ein Veteran längst vergangener Schlachten und mehr mit dem Krug als mit Taktiken beschäftigt. Doch sie waren tapfer und entschlossen. Die Verteidiger hielten dem unheimlichen Angriff so gut stand, wie sie vermochten.

Die Familie Etro zog keine Feiglinge heran und begegnete ihren Angreifern auf dem offenen Felde. Selbst ihre Söhne und Töchter waren dort unten zu finden inmitten des Gemetzels. Sie schrien Kommandos und eilen dorthin, wo die Verteidigung zu schwächeln drohte.

Gerade trugen sie den Angriff mit einem stolzen Schrei nach draußen. Sie wollten den Kampf von der Festung wegbewegen.

Die Bewohner der Festung gaben ihr Äußerstes. Ob das die richtige Taktik war, konnte Enori nicht beurteilen, doch es sah nicht gut aus. Die Angreifer kämpften mit einer Leidenschaft und Wut, denen die braven Soldaten der Feste Nichts entgegenzusetzen hatten. Die Feinde waren schwer gerüstet und kämpften gnadenlos, als ob sie von inneren Feuern angetrieben wurden.

Für Enori war es der erste Kampf ihres Lebens. Sie fühlte, wie ihre Glieder langsam versteiften. Sie wagte nicht, sich zu rühren, und die Kälte des Steins ging in ihr die Knochen. Sie zitterte leicht und atmete unruhig. Details sah sie nicht, daher wusste sie nicht, welche Armee nun gegen die braven Verteidiger kämpfte. Welle um Welle von Soldaten, Pfeilen und Geschossen brandeten gegen die Festung. Ertrodai verfügte über Schutzkristalle, die nun ihre volle Wirkung entfalteten. Sie waren verwoben mit den Ebenen der Ferne und waren in der Lage Geschosse abprallen zu lassen oder Worte der Macht in die Unendlichkeit ableiten.

Doch mit jedem Knistern und Heulen, wenn die Kristalle ihre Wirkung taten, wurden sie schwächer. Die Bewohner hatte sie für den Kampf gegen Banditen einsetzen lassen. Nicht jedoch gegen eine ganze Armee.

Enori kannte die Wirkung der Kristalle. Die Studien über sie war Bestandteil ihrer Schule. Sie fühlte die Vibrationen der Schutzsteine. Und sie wusste, dass der Schutz nicht mehr lange halten würde. Ohne die Kristalle wäre Ertrodai längst gefallen.



Sie hatte Angst, große Angst. Sie hielt eine Hand auf dem blauen Kristall der Wand und fühlte die Kälte. Die Vibrationen der schützenden Kristalle taten ihren Zähnen weh und verursachten ihr Kopfschmerz.

Dann ging ein Rucken durch den Stein, als ein schweres Geschoss mit lautem Donnern in die Festung einschlug. Es war wie ein Faustschlag in den Magen für Enori. Schnell löste sie die Hand von den Kristallen.

Panik stieg in ihr auf. Ihr Atem wurde hektischer und Schweiß breitete sich auf ihrer Haut aus. Sie musste sich konzentrieren, sonst würde sie die Angst übermannen. Vielleicht war sie im Stande den Grund des Angriffs herauszufinden. Gab es ein Artefakt, das sie herausgeben konnten?

Die Familie Etro war nicht reich. Enori hatte nie teure Kristalle oder Einrichtung gesehen. Auch behandelten sie ihre Bewohner und Angestellten mit Anstand und Respekt. Selbst ihre Gebundenen genossen zahlreiche Freiheiten. Niemand musste hier befreit oder befriedet werden. Es gab keine Reichtümer zu plündern und der Zugang zum Meer war nicht einzigartig. Nur die Kavernen unterhalb der Festung waren älter als sie selbst und bisweilen Ziel für Wissbegierige.

Sind es vielleicht die Katakomben, die die unheimliche Armee erobern will? Wollen sie diese zerstören? Was kann an altem, singendem Stein so interessant sein?, fragte sie sich still.

 

Je tiefer ihr Geist in die Geheimnisse eindrang, desto entspannter wurde ihr Atem. Der Schweiß hinterließ ein unangenehmes Gefühl, doch ihr Geist schärfte sich wieder. Sie erschrak sich vor einem heulenden Geräusch und ihre Gedanken wurden unterbrochen.

Eine neue Salve Brandpfeile ergoss sich über die Angreifer, die kein sichtbares Banner führten. Obwohl Enori geschützt war, duckte sie sich instinktiv, als eine Hitzewoge der verstärkten Munition sie erreichte. Die Pfeile sahen in der Dunkelheit spektakulär aus, aber sie zeigten nur wenig Wirkung.

Jede andere Armee hätte vor den brennenden Geschossen Respekt gehabt, aber auf Enori wirkte es, als ob die Angreifer nach ihnen regelrecht suchen würden. Das Feuer schien ihnen nichts anhaben zu können. Die Salve erwiderten sie mit brennenden, klebrigen Kugeln. Ein Soldat wurde von ihnen getroffen und fing sofort Feuer. Seine Kameraden warfen ihn geistesgegenwärtig in einen Trog voller Wasser. Mit einem Zischen erstarben die Flammen.



Enori fasste neuen Mut und erhob sich, um sich leicht über die Brüstung zu beugen. Sie hoffte, einen genaueren Blick auf die Armee werfen zu können.

Ihre Rüstungen waren tiefrot und, soweit Enori es erkennen konnte, mit Handwerksgeschick hergestellt. Sie verstand nicht viel davon. Doch sie sah, dass die Rüstungen in dem spärlichen Licht viele Details reflektierten. Und nicht wenige dieser Details waren scharfe Klingen, die als zusätzliche Waffen dienten. Die Armee hatte sogar einige Netzweber unter sich, die die Verteidigung der Feste mit ihrem Arsenal beschossen. Die Schreie der Getroffenen gingen Enori in Mark und Bein. Sie selbst war eine Adeptin der Künste und war ausgebildet, um die unheimliche Wirkung der Ebenen im Kampf zu erkennen. Es gab jene, die zu purer Zerstörung imstande waren. Doch die gefährlichen Netze legten sich um den Geist der Angegriffenen und lähmten sie.

Die Abwehrkristalle der Feste hielten nur bedingt stand. Zu machtvoll waren die Salven der Angreifer. Wieder und wieder vibrierte die Festung. Doch Welle um Welle von Worten der Macht und Netzen der Vernichtung prasselten auf die Verteidiger ein.

 

Enori wollte nicht länger tatenlos zusehen! Sie musste handeln.

Sie nutzte einen Moment, in dem sie sich sicher wähnte, und konzentrierte sich auf ein Wort der Macht.

Sie atmete tief ein und sprach beim Ausatmen: „Sekdalem!“

Ihre Finger bewegten sich in einer Weise, die seit Ewigkeiten überliefert wurde. Ihre Sicht wurde trüb und sie musste sich einen Moment anstrengen, um sich zu fokussieren.

Sekdalem schärfte die Sinne und erlaube es, Plätze zu sehen und Dinge zu hören, die vorher verborgen waren. Es war ein einfaches Wort der Macht, doch nun waren ihre Sinne dem Schlachtfeld nah und sie warf einen genaueren Blick darauf. Es war, als schwebte sie inmitten des Kampfes.

Sofort verfluchte sie ihre Idee als töricht. Ihre geschärften Sinne konnten verbrannte und zerstückelte Leiber sehen und riechen. Die Angst und Verzweiflung wurden greifbar und legten sich wie ein dicker Mantel um Enori. Ihr wurde übel und sie drohte, den Fokus zu verlieren.

Die Ebene ist die Quelle, das Wort ist das Tor und ich bin der Schlüssel“, murmelte sie eine alte Formel zur Konzentration. Diese Formeln unterbrachen die Wörter nicht, sondern verstärkten sie. Sie war eine junge Schülerin und machte sich Formeln ständig zunutze. Sie konzentrierte sich weiter.



Dichter Rauch und das Nachhallen von fremden Energien beherrschten die Szenerie. Die Angreifer waren menschlich, sie hatten keine Bestien dabei. So viel konnte sie mit Sicherheit sagen.

Doch dann spürte sie etwas!

Sie bemerkte eine fremde, machtvolle Präsenz, die mit einem Mal erschien. Enori erschrak und zog sich blitzschnell zurück. Sie entband sich von dem Wort Sekdalem.

Wie naiv von mir, dachte sie, natürlich würden sie mich entdecken!

Die Sucher der Angreifer füllten das Schlachtfeld und drangen in die Verteidigung der Feste ein. Gilde und andere Netzwirker waren am gefährlichsten und damit das Hauptziel.

„Und ich als Sucherin gebe mich so einfach preis“, murmelte sie, als sie sich ihrer eigenen Torheit bewusstwurde. Ihr Wort hatte sie zu einem Ziel gemacht. Sie hatte Angst, gefunden zu werden, so harmlos sie auch sein mochte.

Wieder schlugen Geschosse in ihrer Nähe ein und sie duckte sich instinktiv. Doch irgendetwas schien sie zu beschützen. Sie konnte die tastenden Netze der Angreifer wahrnehmen.

 

Und sie fühlte, wie sie an ihr vorbeieilten. Sie fanden sie nicht, so sehr sie auch nach ihr suchten.

Nun überwog wieder ihre Wissensgier. Enori fasste sich ein Herz und glitt zurück.

Die Ebene ist die Quelle, das Wort ist das Tor und ich bin der Schlüssel“, wiederholte sie. Etwas war da unten. Etwas, das nur sie sah.

Selbst wenn ein Sucher sie erspähen konnte, sie hatte sich in eine Ecke geduckt und war von außen nicht angreifbar. Von ihr ging keine Gefahr aus, das würde ein erfahrener Sucher spüren.

Enoris Sinne waren wieder auf dem Schlachtfeld. Ihre Macht wob ein Netz, das bis in ihre Augen und Ohren verwebt war.

Die Verteidiger waren ihren Angreifern mutig entgegengetreten und hatten sich nicht auf eine Belagerung eingelassen. Enori hatte kein Wissen über Kriegsstrategien, doch sie ahnte, dass die Feste bei einer Belagerung untergehen würde. Viel Zeit zur Vorbereitung der Verteidigung war ihnen nicht geblieben. Vorräte hatten die Festungsbewohner garantiert nicht anlegen können. Außerdem nahte die Zeit der Kälte und der Entbehrung. Die Bäume trugen schon weniger Früchte und der Morgenfrost verhärtete den Boden.



Sie konzentrierte sich und wagte sich noch näher an das Heer der Angreifer. Die roten Rüstungen waren aufwendig gefertigt, das hatte sie schon gesehen. Hunderte von Metallplatten, verstärkt mit Kristallen, übersäht von Klingen und Kanten.

Werkzeuge des Krieges und des Schmerzes. Aber sie waren ohne Schmuck und Insignien. Es war ungewöhnlich, dass eine solche Armee nicht ihre Herkunft zeigte. Unter dem Einfluss ihres Wortes Sekdalem wagte sich Enori näher.

Nun konnte sie Narben auf den Gesichtern der unbarmherzigen Soldaten sehen. Narben, die absichtlich zugefügt worden waren. Zu symmetrisch und zu zahlreich waren sie. Und die Soldaten hatten Brandspuren im Gesicht. Feuer, das sie gebrandmarkt hatte.

Enoris überkam ein Gefühl der Panik: Der Orden Calor hatte es auf die Feste abgesehen! Ein Schauer lief ihren Rücken hinab und kalter Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn.

Wir sind alle zum Tode verdammt!

Schnell ließ sie die Energie ihres aktiven Wortes in die Ebenen fließen. Ihre Sinne kehrten zurück und sie war wieder Herrin über ihren Körper. Sie schloss schnell Hände und Finger und atmete unruhig.

Calor so weit an der Küste? Um eine alte, unbedeutende Feste einzunehmen?

Sie waren für viele Dinge bekannt, und eines davon war, dass sie niemals Gefangene machten. Sie kamen, verfolgten furchtlos ihr Ziel und hinterließen keine Zeugen. Aber warum waren sie dann hier? Calor kamen aus den dampfenden Geysirebenen. Nichts war bekannt über ihren Glauben und ihre Absichten.

Die Schatten munkelten, sie seien mit Mächten aus den Ebenen im Bunde, über die Gilde nicht einmal Worte schrieb.

Das war auch der Grund, warum die Portale nicht funktionierten. Die Calor hatten sie blockiert, um keine Zeugen zu hinterlassen.

Auf dem Seeweg war zu dieser Zeit des Zyklus die Feste nicht zu verlassen. Die See war unruhig und näherte sich der Zeit der ewig Ertrinkenden.

Ihre Angreifer hatten alles genau geplant.

Enori war in Todesangst. Fieberhaft überlegte sie, was sie nun tun konnte. Sie war eine Sucherin, die ihre Fähigkeiten einsetzte, um Wissen zu erlangen und zu bewahren. Die Gilde entsandte Sucher nicht als Kämpfer, sondern als Gelehrte. Auf dem Schlachtfeld war sie nur ein Hindernis. Weder Offensivwörter beherrschte sie noch den Umgang mit Waffen. Sie kannte Worte der Heilung, die nützlich waren. Doch sie hatte zu viel Angst, um in den Innenhof zu gehen. Noch hielten die Verteidiger stand, aber es würde nicht lange dauern, bis das Heer der Angreifer die Feste betreten würde. Dann würden nur noch Verzweiflung und Tod folgen. Wieder vibrierten die Schutzkristalle der Festung unter dem Angriff. Stein begann zu bröckeln und Staub fiel auf Enori, so dass sie husten musste.



Die junge Frau war allein hier. Sie hatte keinen Meister, keinen Orden bei sich, die Schutz bieten würden. Sie war auf einer Wanderung der Suche.

Das Brennen in der Luft wurde stärker, die Schreie verzweifelter. Und mit jeder Sekunde der Schlacht wuchs auch die Furcht in Enori. Keine Seele war je lebendig einem Angriff der Calor entkommen.

Würden sie sie töten? Foltern, oder gar Schlimmerem aussetzen? Sie hatte von der Macht aus den tiefsten, den wahrlich dunklen Ebenen gehört.

Mit einem Mal änderte sich etwas. Das Gefüge der Ebenen verschob sich erneut. Ihre Nackenhaare stellten sich auf, als sie eine neue Präsenz spürte. Erst unscheinbar, doch nun jeden Moment in ihrer Macht wachsend. Zögernd stand sie wieder aus ihrer kauernden Haltung auf und blickte aus dem Fenster.

Nichts hatte sich verändert!

Die Wogen der rot gerüsteten Soldaten schmetterten unbarmherzig gegen die Verteidigung der Burg. Enori schloss die Augen und konzentrierte sich. Sekdalem war noch nicht lange vergangen und sie benötigte wenig Kraft, um ihre Sinne erneut zu schärfen. Zerfetzte Leiber, das Prasseln der Angriffsmächte. Verlorene Waffen und kämpfende Soldaten.

Woher kommt nur diese unglaubliche neue Energie?, fragte sie sich.

Dann sah sie ihn! Es war der Fremde, der sich seit ein paar Tagen in die Kavernen der Feste zurückgezogen hatte und dort studierte. Außer ein paar wenigen Bediensteten hatte ihn niemand zu Gesicht bekommen.

Dort war er vor ihr. Gehüllt in fließende, schmucklose schwarze Roben schritt er langsam über das Schlachtfeld. Er lief in einer achtlosen Haltung, keine Gefahr scheuend.

Sein Gang war nicht der eines Kriegers auf dem Schlachtfeld, sondern eines Wanderers in stiller Natur. Es wirkte fast, als genösse er den Kampf und den Tod um sich herum.

Sie ahnte, dass er seine physische Gestalt maskiert hatte. Starke Schleier umgaben ihn, die ihn für das übernatürliche und das wirkliche Auge nahezu unsichtbar machten. Furchtlos und ohne Waffen in der Hand stieg er über Leichen und näherte sich dem Mittelpunkt der Schlacht, das ungefähr hundert Schritt von den Mauern der Feste entfernt war.

Enoris Herz pochte.

Was macht er nur?, fragte sie sich still.



Warum ihr Wort der Erkennung ihn sichtbar gemacht hatte, während selbst die ausgebildeten Netzwirker der Angreifer ihn nicht sahen, vermochte sie nicht zu verstehen. Sie war eine schwache Ebenenreisende und noch am Anfang ihrer Ausbildung, um eine Meisterin zu werden. Noch nie hatte sie solche Fähigkeiten gesehen.

Selbst die Netzweber der Calor sahen den Fremden nicht!

Je länger ihr Blick auf ihm und der Selbstverständlichkeit und Furchtlosigkeit ruhte, mit der er über das Schlachtfeld schritt, desto mehr konnte Enori ihn wahrnehmen. Er war etliche Schritte von ihr entfernt, doch sie spürte ihn, als ob er neben ihr stünde. Seine Ausstrahlung war so vertraut und fremd zugleich. Sie fühlte eine seltsame Verbundenheit, die sich nicht erklären vermochte.

Gespannt hatte sie mit den Händen die Brüstung umklammert und sie nahm den Blick nicht von dem Fremden. Ihre Furcht vor Entdeckung war Faszination gewichen.

Seine Macht war anders als die der Meister in Marestal. Seine Verbindungen dichter und hinein bis in die tiefsten aller Ebenen gewebt.

Enori schrie fast auf, als ein Soldat auf den Fremden zurannte. Obwohl sie seine Absichten nicht kannte, wollte sie ihm eine Warnung zurufen. Sie hielt sich mit beiden Händen den Mund zu. Kein Laut verließ ihre Kehle.

Es war ein schwer gepanzerter Krieger, der den Fremden angriff. Die Rüstung war scharlachrot und mit etlichen scharfen Kanten und Klingen versehen. Der Träger brauchte eigentlich keine weiteren Waffen mehr. Doch der Krieger hielt mit beiden Armen ein Langschwert über dem Kopf fest umklammert.

Durch ihr Wort Sekdalem konnte sie ihn Schreien hören. Sie spürte förmlich, wie seine Füße auf den matschigen Boden stampften. Er war wie von Sinnen.

Sie verstand nicht, warum dieser Krieger den Fremden wahrnahm. Immunität gegen die Ebenen und ihre Macht war rar gesät. Für alle anderen auf dem Schlachtfeld, egal auf welcher Seite, schien der Fremde unsichtbar zu sein.

Der Krieger stieß sich vom Boden ab und streckte den Körper.

Das gezackte und mit Haken versehene Schwert über den Kopf erhoben, flog er fast auf den Fremden zu. Enori hatte noch niemals einen Menschen so hoch springen sehen. Sie war sich sicher, dass hier Kräfte am Werk waren, die die Truppen verstärkten.



Weit war die Klinge ausgeholt zum tödlichen Schlag gegen den Fremden. Den Mann, der keine Notiz von ihm nahm.

Enori schrie eine Warnung durch den Lärm der Schlacht. Doch der Fremde konnte sie nicht hören. Er war zu weit weg und das Schlachtfeld war zu laut.

Wenige Fuß trennten den Krieger noch vom Fremden. Die Klinge senkte sich und sprühte Funken. Nun war ihr klar, dass Ebenenkräfte im Spiel waren. Etwas hatte aus dem Krieger ein Werkzeug gemacht und ihn durch die Luft geschleudert wie ein Spielzeug. Ein tödliches Spielzeug, das den Fremden völlig schutzlos treffen würde.

Nun hielt der Fremde inne. Seine rechte Hand wurde sichtbar, die er vorher unten den Roben verborgen hatte.

Enori hörte das Wort der Macht, doch sie verstand es nicht. Es klang in ihrem Kopf wider und hallte dort, bis es sich verlor. Es war in einer Sprache, die selbst die Gelehrten längst vergessen hatten.

„Taresbendar!“

Aus den Fingern des Robenträgers schossen grünliche Schwaden dem Krieger entgegen, der augenblicklich niederfiel. Es war, als ob das Wort ihn aus der Luft gepflückt und auf den Boden gerissen hätte. Der Matsch spritze um ihn, als er mit einem dumpfen Klatschen aufschlug.

Sie sah den geisterhaften Nebel, der wie ein Parasit durch die Rüstungslücken in alle Körperöffnungen kroch.

Einen Moment zuvor hatte er sich mit solcher Kraft und Rage auf den Fremden gestürzt. Und nun hatte ihn alle Kraft verlassen. Enori würde das langsam verblassende Leben in den Augen des Kriegers nie vergessen.

Noch nie hatte sie jemanden aus solcher Nähe sterben sehen. Es faszinierte sie, ohne dass sie Abscheu empfand. Es war, als ob die Kraft des Lebens und der Wut, die ihn angetrieben hatten, einfach erstickt wurden. Es glich einem Kerzendocht, der mit zwei Fingern verlöscht wurde. Doch er starb nicht, etwas Unheimliches trieb ihn weiter voran.

Enori fühlte mit einem Mal eine weitere Macht. Etwas Uraltes, etwas Elementares. Und dieses Unbekannte fuhr wie eine Stichflamme in den Körper des sterbenden Soldaten.

Sie spürte das Lodern einer Flamme in seinem Inneren, die in ihm brannte. Das Feuer war nun sein letztes Lebenslicht. Dieses Feuer ließ ihn nicht sterben.




Die Lücken zwischen den Elementen seiner Rüstung begannen zu glimmen und das Feuer erfüllte ihn mit unglaublicher Macht, die ihn zugleich verbrannte. Er schrie in Todesqual. Geifer quoll aus seinem Mund und Blut rann aus Ohren und Nase.

Das Gewicht der Rüstung drückte ihn gen Boden, das Schwert hatte er verloren, doch krallte er die Hände in den blutigen Matsch und zog sich weiter voran. Dort, wo er den Boden berührte, zischte es und Dampf stieg auf. Enori sah, dass die Panzerhandschuhe auch mit scharfen Klingen versetzt waren.

Der Fremde trug keine Rüstung und würde, wenn er keine andere Verteidigung hatte, den Angriffen schutzlos ausgeliefert sein. Auch wenn ihn die Kräfte immer weiter verließen, hatte der Krieger den Fremden erreicht und versuchte, mit der brennenden rechten Hand ein Bein zu fassen. Wild fauchend, fast wie ein Tier. Das glühende Metall der Rüstung troff zu Boden wie Lava.

Für Enori sah es weiterhin danach aus, als ob der Fremde den Angreifer ignorierte, denn er wandte sich ihm nicht zu. Die Hand des Kriegers fiel endlich leblos zu Boden, als das Wort der Macht des Fremden seine endgültige Wirkung entfaltet hatte.

Dann drehte sich der Fremde seinem auf dem Boden liegenden Angreifer zu und schaute nach unten. Er setzte den Absatz seines Stiefels in die Lücke zwischen dem Helm und der Rüstung. Er ignorierte das Brennen und sein Bein machte eine kurze Bewegung. Enori hörte durch den Lärm des Kampfes hindurch das Genick mit einem widerlichen Geräusch brechen. Schlagartig wurde ihr übel.

Der Krieger am Boden rührte sich nicht mehr. Das Feuer in seinem Inneren erstarb unmittelbar.

Die junge Sucherin hielt die Luft an, denn der Fremde drehte sich weiter um und hob den Kopf.

Sein Gesicht blieb unter einer Kapuze verborgen, unter die selbst Enoris Wort der Macht kein Licht bringen konnte. Aber sie bemerkte seinen Blick. Sie fühlte, dass er sie ansah!

Eine unerbittliche Woge der Macht floss auf sie zu. Analysierte sie, forderte sie, bedrängte sie.

Enori!, hallte es in ihrem Kopf. Es war eine ruhige, männliche Stimme. Die Stimme des Fremden? Rief er nach ihr? Sie hielt den Atem an und lauschte erneut.

Stille in ihrem Kopf.





So schnell die Energien gekommen waren, so schnell waren sie wieder verschwunden.

Erst Sekunden später wagte sie, wieder zu atmen, und blickte erneut nach unten. Der Fremde hatte sich abgewandt und schritt weiter unbehelligt auf das Herz der Schlacht zu.

Was hatte er nur vor?

Momente später war er an seinem Ziel angelangt. Irgendwo in der Mitte der Kämpfenden stoppte er. Er hielt inne und begann zu flüstern. Obwohl der Lärm der Schlacht laut war, hörte sie seine leise Stimme.

Wieder diese Sprache. Alt und vergessen.

Verboten?, fragte sie sich. Sie wusste es nicht. Die Stimme war kraftvoll und sprach mit Mächten in der Tiefe. Sein Flüstern wurde zu einer Diskussion mit einem unsichtbaren Gesprächspartner.

Enori!, hallte es erneut in ihrem Verstand. Der Fremde verlangte ihre Aufmerksamkeit, so schien es. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Sie nahm erneut all ihre Konzentration zusammen und fokussierte Sekdalem erneut.

„Die Ebene ist die Quelle, das Wort ist das Tor und ich bin der Schlüssel.“ Ihr wurde schwindelig und Übelkeit stieg in ihr auf. Es kostete so viel Kraft! Mehr konnte sie nicht geben, doch der Fremde war nun wieder in ihrem Fokus.

Enori beobachtete, wie dunkle Schleier von ihm ausgingen und sich die Kämpfer aus seiner Umgebung wegbewegten. Es sah aus, als ob unsichtbare Hände sie von dem Fremden wegschoben.

Viele Rituale benötigten Zirkel, einen Kreis oder schlichtweg einen Raum, in dem der Netzweber agierten. Sie selbst war ausgebildet, um Bannkreise zu ziehen, die allerdings mehr die Elemente fernhielten und weniger auf dem Schlachtfeld von Nutzen waren.

So, wie es der Fremde tat, hatte sie es noch nie gesehen. Niemand nahm von ihm Kenntnis. Er schien für keine der beiden Parteien zu existieren, und so hatte er eine kreisrunde Fläche von ungefähr fünf Schritten Durchmesser geschaffen, in der er allein war. Die Fläche sog das Licht der Umgebung auf und verfiel in Dunkelheit. Dort, wo auf dem Boden Feuer gewesen waren, verloschen sie. Kälte ging von ihm aus und überzog den Boden mit leichtem Frost. Doch sie konnte den Unbekannten weiterhin klar sehen. Langsam ging er in die Knie und der Gesang in der fremden Sprache wurde intensiver.



Enori sah, wie das Licht um den Fremden herum immer düsterer wurde. Die Kämpfe um ihn herum wurden langsamer, fast schleppend. Enori konnte das Leben und die Energien der ersten Ebenen versiegen sehen. Es war, als ob er dort inmitten der Sterbenden die tiefsten Tiefen selbst öffnete. Sie fröstelte und hüllte sich fester in ihr Gewand.

Der Fremde kniete langsam auf den Boden und streifte mit einer Bewegung seiner Schultern die Robe ab, die zu Boden glitt. Nur noch seine Beine waren verhüllt und sie sah die Sohlen seiner Stiefel. Blut und Schlamm klebten an ihnen. Ein vielfach bestückter Gürtel mit Taschen lag um seine Hüften. Sein Oberkörper und der Kopf waren allerdings nun unbedeckt. Der Mann war schmal, aber nicht hager, und seine Haut hatte, soweit Enori das erkannte, einen bleichen Ton. Sein Haar war dunkel und kurz geschnitten.

Dann sah sie es. Das Symbol! Es war auf seine rechte Schulter tätowiert und leuchtete von innen heraus. Enori hatte es schon einmal gesehen, nur erinnerte sie sich nicht, wo. Das Symbol war alt und es war mächtig. Und es brannte sich in diesem Moment tief in ihren Geist. Sie musste sich erneut fokussieren und ihre Konzentration zurückgewinnen.

Noch immer nahmen die Kämpfenden um ihn herum keine Notiz. Enori spürte die Macht, die von dem Fremden ausging und die bedrohlich immer weiter anschwoll. Seine Gesänge wurden fordernder, als ob er mit fremden Mächten stritt. Obwohl sie die Sprache nicht verstand, bemerkte sie den Konflikt.

Es war nicht einfach ein Wort, das er dort sprach, und einfache Netze, die er in die Ebenen wob. Es war ein Dialog mit Mächten. Mit alten Mächten, das nahm sie wahr.

Er wollte viel und die Ebenen waren nicht bereit, ihm das zu überlassen. Das Dunkle in ihm und um ihn herum wurde stärker und intensiver. In sein Flüstern mischte sich ein Rufen.

Er forderte weiter, er flehte, bis er letztlich befahl und ihm die Mächte, die er anrief, gehorchten. Aus der Kälte, die sie umgab, wurde bitterer Frost und Enori zitterte.

Sie beobachtete, wie sein Körper hagerer wurde, die Rippen und die Wirbel wurden sichtbar. Schwarze Schriftzeichen, die sie vorher nicht bemerkt hatte, zogen sich über seinen ganzen Körper. Fast sah es aus, als ob seine Knochen aus dem Körper sprießen wollten.



Mit einem Mal streckte er die Arme zur Seite, die Handflächen auf den Boden gerichtet. Seine Finger öffneten und schlossen sich rhythmisch im Gesang. Langsam erhob er sich und er verstummte mit einem Mal. Enori hörte für einen Moment auf zu atmen. Mächte, die sie noch nie zuvor gespürt hatte, gingen von dem Fremden aus und suchten sich auf dem Schlachtfeld ihre Ziele.

Sie sah Ausläufer dieser Energien um ihre Finger wirbeln. Sie erschrak und versuchte, sie abzuschütteln. Doch die schwarze Energie spielte nur mit ihr, das ahnte sie.

Sie forderten sie heraus!

Wozu nur? Enori war aufgestanden und schaute auf ihre Finger. Was wollt ihr von mir? Sie sprach den Gedanken nicht aus. Ihre Finger kribbelten und dann waren die Schwaden verschwunden. Sie glaubte, Opfer eines Hirngespinsts zu sein, und blickte wieder hinaus

Der Fremde stand nun wieder, die Arme weiterhin ausgestreckt. Langsam drehte er die Handflächen gen Himmel und hob seine Arme leicht. Mehr geflüstert als gesprochen stieß er ein einziges Wort aus.

Ein Wort, das Enori verstand: „Thasmudyan.“

Das Wort traf sie wie eine Faust in die Magengrube. Fast musste sie sich übergeben, als ein Schauer der Macht sie wie ein Fieberanfall traf. Sie krallte sich an das Fenster und konzentrierte sich, ihren Atem zu kontrollieren. Sie nahm tiefe Züge, auch wenn die Luft widerlich roch.

Der Frost war wieder der Hitze des Gefechts gewichen und ein Schleier aus Schweiß hatte sich erneut unangenehm auf ihre Haut gelegt. Ihr Herz pochte bis zu Hals.

„Die Ebene ist die Quelle, Das Wort ist das Tor und ich bin der Schlüssel. Die Ebene ist die Quelle, Das Wort ist das Tor und ich bin der Schlüssel.“ Doch sie fand weder Konzentration noch Kontrolle.

Wieder fiel ihr Blick auf das Schlachtfeld. Sekunden später kam Unruhe in den Angriff der Calor. Überall erhoben sich gefallene Soldaten auf beiden Seiten und griffen zu ihren Waffen.

Es war ein geisterhafter Anblick, den die Kämpfenden zuerst nicht bemerkten. Doch dann kam zuerst die Panik in die Soldaten der Verteidiger. Sie rannten Todesangst in Richtung der Festung.

Das Wort des Fremden verfehlte seine Wirkung nicht. Die Untoten bauten sich wie eine Mauer gegen die Armee der Calor auf und drängten sie zurück. Doch die Befehlshaber der Angreifer kannten keine Gnade für ihre eigenen Leute und trieben sie in den sicheren Tod.



Aus dem Kampf wurde ein Gemetzel. Die Wiederbelebten kannten keine Gnade, keine Müdigkeit und keine Freunde.

Enori hatte von Unlebenden gehört. Sie kannte die verbotenen Legenden. Sie wusste, dass Netzweber Untote erschaffen konnten. Langsame Zombies, die kriechend und schlurfend seelenlos die Befehle ihrer Erschaffer befolgten. Vanshu nannte sie das Wüstenvolk weit hinter den fruchtbaren Tälern der Saluin und in der Areiawüste.

Doch was sie nun erblickte, hätte sie niemals für möglich gehalten.

Der Fremde war von schwarzen Schwaden umgeben, die ihn gleich eines Sturms dunkler Mächte umfluteten. Von den Schwaden gingen hunderte dünner Fäden in die Körper der Wiederbelebten aus.

Und diese waren weit entfernt von den Zombies aus Büchern und Geschichten! Wilde, fauchende Furien rasten auf die Angreifer zu. Sie kämpften, als ob die Erfahrung von Generationen und die Wut ganzer Völker in ihnen tobte. Wenn sie keine Waffen trugen, nutzen sie Hände und Zähne, um ihre Gegner anzugreifen.

Die Untoten Calor nutzen die Klingen der Rüstungen, um Gegner regelrecht zu zerfetzen. Dort, wo ein Soldat fiel, erhob er sich Momente später. Und dort, wo nur noch Teile eines Körpers übrig waren, griffen selbst diese in die Schlacht ein. Es war, als ob abgehackte Arme die Lebenden in die Tiefen ziehen wollten.

 

Es gab keine Siegesschreie oder Kommandos mehr.

Es gab nur noch Schrecken und den Tod.

Ein paar tapfere Soldaten der Festung standen am Eingang und hielten die Stellung. Doch Enori bezweifelte, dass sie etwas hätten ausrichten können, wenn die Unlebenden plötzlich ihre Ziele ändern würden.

 

Der Fremde war nur schemenhaft zu erkennen, doch Enori sah, dass er inmitten eines dunklen Energiesturms kämpfte. Seine Bewegungen waren schnell und präzise, wie der Kampf eines Schwertmeisters gegen Schattengegner. Es sah beinahe danach aus, als ob er jeden einzelnen der Kämpfe selbst focht. Sie beobachtete, wie er unsichtbare Gegner mit den Händen entzweiriss oder seine Zähne in einen Hals bohrte. Er war wie ein Bote des Todes und jeder seine Hiebe und Bisse befeuerte seine Armee.

Die Armee der Angreifer war ohne Chance. Alle Gefallenen, ob Freund oder Feind fielen in Raserei über die Angreifer her.



 

Wie ist das möglich? Sie war sich sicher, in keinem der Bücher, auch nicht in den verschlossenen, etwas Derartiges zu finden. Was sie hier sah, war älteste Macht, aus dem Ursprung der Dunkelheit. Es war etwas, das kein Lebender zu vollbringen imstande sein sollte! Die Mächte, die dort unten wirkten, pulsierten in ihr. Sie war nicht fähig es zu kontrollieren und sah an sich herab. Mit jeder Bewegung des Fremden, zuckte einer ihrer Finger oder ein Armmuskel, fast wie ein Laut, der widerhallte. Enori spürte, dass das Netz des Fremden sie umfangen hatte. So sehr sie es versuchte, sie widerstand dem Einfluss der Tiefen nicht.

Obwohl der Kampf grausam war, konnte sie nicht wegsehen. Sie blendete das Grauen aus und konzentrierte sich auf ihn.

Eine solche Macht hätte sie niemals für möglich gehalten. Selbst die übertriebenen Geschichten und Verse der Barden hatten so etwas nie erzählt. Geschweige denn die Lehrer und Bücher der Schulen, für die Monster und Zombies Schreckgespenster für kleine Kinder waren. „Die tiefsten aller Tiefen waren für die Sterblichen nicht zu verstehen“, lehrte die Gilde.

Entweder war der Fremde unsterblich, oder die Gilde hatte unrecht.

Die Truppen der Verteidiger beobachteten weiterhin das unheimliche Schauspiel. Viele ihrer Kameraden waren gefallen und hatten sich erneut in die Schlacht gestürzt. Wilde, untote Bestien mit der Kraft dunkelster Mächte. Leiber wurden aufgerissen und Gliedmaßen verstümmelt.

Enori war hin- und hergerissen. Ihre Vernunft gebot ihr, zu fliehen. Hier oben war sie nicht sicher. Sie stellte sich vor, wie die untoten Bestien die Mauern im Flug erklimmen würden. Aber etwas hielt sie hier, ein Gefühl, eine Ahnung.

Was bezweckt der Fremde? Ist er Teil des Angriffs? Oder will er die Feste und ihre Bewohner schützen?

Angreifer für Angreifer fiel den Untoten zum Opfer. Zwar trafen auch die Hiebe der feindlichen Soldaten, aber weder abgehackte Arme noch Beine hinderten die Armee der Toten daran, ihren Auftrag auszuführen. Dann manifestierte sich erneut die zweite Präsenz, die Enori wahrgenommen hatte. Es war dieselbe Energie, die den Calorkrieger in Flammen gesetzt hatte.

Und nun erzeugte diese Macht ein weiteres Feuer. Sie sah, dass Körper anfingen, zu glimmen und zu brennen. Einige der brennenden Leichen auf dem Boden erhoben sich nicht mehr als Untote, dennoch bewegten sie sich. Als ob etwas sie über den Boden schleifte und sie auf einen Haufen werfen wollte.



Die Macht des Fremden kämpfte dagegen, doch das Feuer wurde immer heißer. Die Flammen sammelten sich und formierten sich zu einer Kugel. Enori spürte erneut eine Urgewalt an Energie. Es war kein normales Feuer, das hier brannte. Dieses hier war anders. Es war Feuer der ältesten Art. Feuer, das längst verloschen war.

Die Energien brannten und nutzen die Körper dafür. Die Hitze war so stark, dass Enori glaubte, sie bis in ihr Versteck zu fühlen.

Ihre Haut schmerzte und sie schwitzte. Das Feuer war zu weit von ihr entfernt, doch es strahlte eine unglaubliche Macht aus.

Die Kugel schwebte über dem Schlachtfeld und gewann rasch an Größe. Alles in wenigen Fuß Nähe wurde verbrannt oder in die Kugel gesogen. Es war ein fliegendes Inferno.

Enoris Blick fiel auf den Fremden, der seinen Tanz beendet hatte. Die Schwärze um ihn herum war vergangen und so auch die Kälte. Er hatte die Robe wieder angelegt und blieb weiterhin unbehelligt von dem Geschehen um ihn herum. Obwohl er nah an dem Feuer war, schien es ihm nichts auszumachen. Die flammende Kugel war keine zwanzig Schritt von ihm entfernt. Ihre Kehle wurde immer trockener und sie sehnte sich nach einem Schluck. Wasser.

Wie kann er nur diesem Feuer widerstehen?, fragte sie sich.

Ihre Sinne fühlten, dass das Feuer sie direkt beeinflussen wollte. Die Flammen gierten nach ihrem Leben. Nur der Rest der Schutzkristalle Ertrodais bewahrten sie und die anderen Bewohner vor einem grausamen Tod.

Enori konzentrierte sich wieder auf den Fremden. Er war der Schlüssel zu dem Ganzen.

Calor waren keine mehr in seiner Nähe und die Soldaten der Festung alle geflüchtet. Langsam marschierte er auf die Kugel aus Flammen zu. Doch weder seine Kleidung noch seine Haare fingen Feuer. Funken stoben aus der Kugel und schlugen wie kleine Meteore auf den Boden ein.

Sie hatte von Feuerbällen als Kampfkraft gehört. Sie hatte sogar einmal in der Kriegsakademie Marestals einen Meister bei den Vorbereitungen gesehen. Es war ein machtvolles Wort, das nur von Erfahrenen benutzt wurde. Doch die junge Frau konnte den Ursprung der Flammen nicht finden. Entweder waren sie genauso maskiert wie der Fremde, der weiter furchtlos auf die Flammen zutrat, oder aber ihr Wort der Macht war zu schwach dafür. Außerdem strahlten diese Flammen etwas Boshaftes aus.



„Ir´desch sekdaram des Vanshu!“ Die Stimme dröhnte mit einer Urgewalt aus der flammenden Kugel, dass sie Enori in Mark und Bein ging. Gläser und Fensterscheiben klirrten. Selbst die Steine der Festung wurden von der Stimme beeinflusst. Einige Schutzkristalle barsten laut.

Die Sprache kannte sie nicht. Sie stammte aus einer Sphäre, die Menschen nicht betreten sollten. Der Fremde hielt inne und blickte ruhig in Richtung der Kugel. Er klopfte sich beiläufig etwas Staub von der Robe.

„Dein Weg endet hier“, antwortete der Fremde. Seine Stimme war ruhig und wohlklingend. Es ist die Stimme in meinem Kopf!

Er sprach die Worte mit Bedacht aus, als ob er sie lange im Voraus gewählt hätte. Fast wie jemand, der das Sprechen nicht gewohnt war.

„Vorait!“, schrie die Kugel. Diesmal barsten einige Fenster und locker sitzende Steine brachen aus ihren Fugen. Und auch ohne, dass Enori die Sprache kannte, verstand sie, was sie geschrien hatte: „Lüge!“

Die Flammen waren wütend, Spitzen zuckten aus der Kugel. Eine Welle der Hitze ging von der Kugel aus und erfasste Enori. Schützend hielt sie den rechten Arm vor das Gesicht. Sie roch, wie die feinen Haare auf ihrem Arm angesengt wurden.

Ertrodais Schutzkristalle vibrierten und versetzten die Festung in ein unruhiges Beben.

Der Fremde lachte. Es war das tiefe Lachen eines Mannes, der sich an diesen Laut gewöhnen musste. Er schüttelte den Kopf und machte Anstalten, sich umzudrehen.

„Vorait!“ Diesmal galt der Ruf nur dem Fremden. Gewaltige Energien brausten auf und Enori schlug ein Schwall an Hitze entgegen.

Auf der Kugel bildeten sich hunderte von Fratzen mit reißenden Zähnen, die nun voller Wut auf den Fremden zuschossen, um ihn zu verbrennen.

Sie schrie erneut auf und musste sich die Hand vor den Mund halten.

Die rasenden Flammen waren noch einige Schritt von dem Fremden entfernt, als dieser seinen Kopf erneut in Enoris Richtung drehte. Diesmal war sie sicher, dass er sie ansah, und sein Blick durchdrang sie.

„Enori!“ Nun erkannte sie seine Stimme, die in ihrem Verstand erklang. Dann sprach er ein weiteres Wort, dass Enori nicht kannte: „Serenderek

Für Enori schien es, als ob die Zeit langsamer ablief. Warum blickte er sie an, während dieses Feuer der Vernichtung auf ihn zuschoss? Wenn er keine Abwehr beschwor, würde es ihn ausbrennen. Die Hitze war unaufhaltsam!



„Was willst du von mir?“ Sie schrie es hinaus.

Dann war es wieder da, dieses unheimliche und ungeübte Lachen.

Doch er antwortete nicht.

„Verspotte mich nicht, Fremder.“ Diesmal flüsterte Enori die Worte.

Die Zeit verlief immer langsamer für sie. Die Flammen müssten den Fremden längst erreicht haben. Ihre Hände krallten sich am Rand des Fensters fest. Ihre Augen tränten vor Erregung und wieder bildete sich Schweiß auf ihrer Stirn.

„Oh, das tue ich nicht, ganz im Gegenteil“, kam die Antwort in ihrem Kopf. Sie spürte seinen Blick, der suchend und herausfordernd war. Sie erwartete, dass jeden Moment der Fremde von den flammenden Fratzen zu einem Haufen Asche verwandelt wurde. Panik kam in ihr auf.

„Was tust du da? Gleich werden die Flammen dich vernichten.“ Sie bemühte sich, zu flüstern, obwohl sie schreien wollte.

Und dann, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, begriff sie es!

Es gab sie, diese Geschichten, die sich Adepten in langen dunklen Nächten erzählten. Diese Geschichten über die Worte der Macht, die mit der Quelle sprachen.

Doch nun wurde es ihr klar. Der Fremde dort unten hatte ein Wort der Quelle gewirkt. Auch sie hatte den Liedern gelauscht, aber es für Schreckgespenster gehalten. Doch das Wissen in ihr war mit einem Mal so präsent wie der Fremde selbst.

Er hatte die Zeit verlangsamt!

Schnell blickte sie auf das Schlachtfeld und darauf, was um die Flammen und den Fremden herum geschah. Alles schien wie eingefroren. Solch machtvolle Magie hatte sie noch nie gesehen. Selbst die Flammenzungen wurden von der uralten Macht kontrolliert.

„Crodisdal, Enori!“ Erneut hörte sie die Stimme des Fremden in ihrem Kopf. Er rief sie, er forderte sie heraus. Er hatte eine Hand nach ihr ausgestreckt, als ob er erwartete, dass sie diese ergriff.

Sie kannte den Begriff nicht, aber sie vermutete, dass es ein Wort der Macht sein musste. Doch Worte wirkten nicht nur dadurch, dass sie aufgesagt wurden. Je machtvoller die Worte waren, desto länger musste die Aussprache an geschützten Orten abseits der Pfade zu den Ebenen geübt werden. Und dann das Machtweben nachstellen und langsam eins mit dem Wort werden.

„Was soll ich damit? Ich kenne die Pfade nicht! Ich kenne keine Struktur dazu!“ Enori war der Verzweiflung nah, die Situation überforderte sie.



Doch der Fremde blieb hartnäckig. Er machte weiterhin keine Anstalten, sich zu verteidigen.

„Crodisdal!“, wiederholte er das Wort und sein Kopf wandte sich den Flammen zu. Er ließ die Hand sinken und hob den Kopf. Es wirkte fast, als ob er sich verbrennen lassen wollte.

Enori spürte, wie das Quellenwort an Macht verlor und die Zeit wieder schneller lief. Soldaten begannen zu rennen und die Schreie wurden lauter. Die Flammen der Kugel lechzten nach dem Fremden.

Ihr Blick fiel auf ihn. Regungslos erwartete er das Unvermeidliche.

Sie stand in der Mitte des Fensters und verschränkte die Arme, in einer Art, wie sie es noch nie getan hatte. Ihr Geist suchte nach einem Pfad und fand ihn. Sie schloss die Augen, obwohl sie ahnte, dass ihr nur Sekundenbruchteile blieben.

Das Leben schwand aus ihrem Körper. Ihre Haut erbleichte und graue Strähnen bildeten sich in ihrem blonden Haar. Sie fühlte, wie sich ihr Geist und ihr Körper mit den tiefsten der Tiefen verbanden.

Doch sie empfand keine Angst.

Der Pfad zehrte von ihr und sog ihr Leben aus, wenn sie nicht schnell mit dem Wort schloss. Sie öffnete die Augen, die nun im Licht der Schlacht grau schienen. Ihre Hände glichen mit dünnem Papier überzogenen Knochen. Sie hielt sich am Rand des Fensters fest. Diesmal hatte sie keine Furcht, sich zu zeigen.

Dann flüsterte sie das Wort in den Nachthimmel: Crodisdal!

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Kommentare

  1. Du hast eine sehr schöne lebendige Art dir Sachen zu erzählen und man kann gut abtauchen. Ich hatte kaum Probleme, zu folgen.
    Mir ist aber aufgefallen, dass das Kapitel sehr lang ist. Ich persönlich mag das nicht so gern, weil es sich dann ungewollt ziehen kann. Ist aber Geschmackssache.
    Bin schon gespannt, ob man von der Geschichte noch mehr zu lesen bekommt.

    1. Hallo und Danke für das Feedback. Das ganze Buch ist schon eine Weile veröffentlicht. Ich habs hier nur als Test und kleinen Appetizer gepostet. Und ja: Grade das Kapitel ist sehr lang, aber ich wollte es irgendwie nicht aufteilen 🙂