Kapitel 16

Es war ihr erster freier Tag im Harem. Immer war sie beschäftigt, hatte ihre Ausbildung und musste den Highlord begleiten. Nun wäre eine passende Gelegenheit, sich ein wenig umzusehen. Es gab viele Gärten und es wäre nicht überraschend, wenn es auch einen Kräutergarten gäbe. Dann könnte sie für Chiana einige Öle herstellen, die ihr vielleicht helfen würden, schneller schwanger zu werden.
Die Rothaarige trat vom Fenster zurück und warf sich einen langen Mantel über, der in der Farbe Beige gehalten war, ehe sie sich nach draußen begab.
Da es Herbst war, war es schon recht kühl und windig.
Die Blätter der Bäume waren bereits verfärbt, doch das störte Lilitha wenig. Selbst um diese Jahreszeit gab es noch Pflanzen, die sehr interessant waren.
Abwesend schlenderte sie über die Wege, die weitgehend leer waren. So gut wie niemand war unterwegs, was vermutlich daran lag, dass die meisten Frauen ihre Zeit damit verbrachten, irgendwie nützlich zu sein. Die Dienstmädchen arbeiteten. Die Unterhalterinnen übten ihre Auftritte. Die Gelehrten studierten ihre Bücher. Die Geliebten waren in den Bädern, um ihre makellose Haut zu reinigen und ihr Aussehen in Schach zu halten. Und die Favoritin …, die lag in ihrem Bett und trauerte über unerwiderte Liebe.
Und Lilitha hatte nichts zu tun. Schon früher hatte sie es gehasst, wenn sie nichts zu tun hatte. Dann schweiften ihre Gedanken immer wieder zu den unangenehmen Teilen ihres Lebens.
Doch heute würde sie den Tag damit verbringen, den Kräutergarten zu suchen und vielleicht würde sie sich dann noch in die Bibliothek begeben.
Es wurde Zeit, dass sie ihre Lesekenntnisse noch ein wenig nutzte.
Ihre Mutter hatte sie in vielen Dingen ausgebildet. Sie war immerhin schon neunundneunzig Jahre alt.
Für einen Vampir nicht wirklich alt, doch die Zeit war dennoch lang genug gewesen, damit sie vieles lernte. Trotz der Tatsache, dass ihr Körper und ihr Geist noch sehr jung waren.
Vampire waren zwar erst ab einem gewissen Zeitpunkt richtig unsterblich und vollwertige Vampire, doch alles, was sie in ihren jungen Jahren lernten, kam irgendwann wieder. Auch, wenn sie vielleicht nicht sofort etwas mit den Dingen anfangen konnte. Das war auch der Grund, warum sie viele Dinge, die Chiana ihr erklärt hatte, erst jetzt richtig zu verstehen begann. Ein Vampir zu sein, war nicht immer einfach.
Vielleicht sollte sie auch einige Stunden draußen verbringen und die Übungen machen, die sie sich, in der Zeit auf der Straße, von den Wachen abgeschaut hatte und die, die ihr Vater ihr beigebracht hatte. Möglicherweise würde sie dann herausfinden, ob ihr Körper schon so weit war und sie bald in ihre Reife eintrat. So zumindest Lilithas Denkprozess.
Dehnübungen und Übungen, um ihre Bewegung zu schulen, damit sie in Form blieb.
Sie war in motorischen Dingen eben nicht sehr gut veranlagt, doch als Kammerzofe war es wichtig schnell und präzise zu handeln. Es war ihre Arbeit, in Form zu bleiben.
Sie blickte sich immer mal wieder aufmerksam um, doch weit und breit gab es keinerlei Kräuterbeete.
Sie fand nur einen Blumengarten, der zwar wunderschön war und sogar einige wenige heilende Blumen verbarg, doch es war eben kein Kräutergarten.
Ein wenig bekümmert lief sie weiter.
Die Mauern des Palastes hatten viele Außenbereiche. Vielleicht fand sie irgendwo anders einen.
Ihre Schritte trugen sie über die feinen Wege und ab und an konnte sie einige Dienstmädchen sehen, die sich um die Gärten kümmerten.
Natürlich konnte sie fragen, doch es machte ihr viel mehr Spaß, ihre neue Umgebung selbst zu erkunden.
Deshalb kam sie irgendwann in einen Bereich, in dem sie Stimmen hörte und das Aufeinanderschlagen von Metall.
Es verursachte ihr einen Schauer, denn dieses Geräusch kam ihr sehr bekannt vor.
Schwerter!
Lilitha lauschte, doch es klang nicht, als würde es näherkommen.
Vielleicht übte jemand? Sie erinnerte sich an die Worte des Highlords. Möglicherweise absolvierte er sein Schwerttraining.
Auch wenn es Lilitha eigentlich zuwider war, so gewann ihre Neugier doch die Oberhand. Somit folgte sie vorsichtig dem Geräusch, bis sie an einen kleinen Abhang kam, auf dem mehrere Leute standen.
Dank ihrer geschärften, vampirischen Sinne konnte sie selbst aus dieser Entfernung den Highlord ausmachen, der wohl gerade einen Übungskampf hatte.
Sie bemerkte selbst nicht wirklich, dass sie stehengeblieben war und den flüssigen und koordinierten Bewegungen ihres Gebieters mit ihren goldenen Augen folgte.
Er bewegte sich so geschmeidig, dass es faszinierend war, ihm zuzusehen. Fast, als würde er tanzen. Aber eben nur fast.
Dennoch fesselte sie dieser Anblick. Wie der Schweiß auf seiner Stirn schimmerte und seine starken Arme das Schwert führten, als wäre es eine natürliche Verlängerung seines Arms. Wenn sie ihn so sah, konnte sie sich gut vorstellen, warum er Herrscher geworden war.
Ob er wohl auch an der Front kämpfte?
Obwohl es vermutlich viel zu gefährlich war, den Herrscher einer Dynastie an den Kriegsstreifen zu schicken, in dem er im Grunde nur eine laufende Zielscheibe war. Auch wenn er stark, taktisch und präzise war, so konnte er das nicht gegen Tausende von Männern gleichzeitig sein.
Mit einer fast schon ruckartigen Bewegung wirbelte er um seinen Gegner herum, als sein Schwert diesen streifte und ein wenig Blut floss. Der Kampf wurde beendet und der Highlord reichte sein Schwert seinem Berater, der schon sofort zur Stelle war. Sie unterhielten sich ein wenig, wobei der Highlord nur nickte, als würde er überhaupt nicht zuhören.
Einerseits brachte das Lilitha zum Schmunzeln, andererseits wusste sie auch nicht, worüber sie sprachen.
Der Highlord drehte sich zu dem Berater um, um ihm zu antworten, als sein Blick an ihm vorbei zu Lilitha glitt und sich an sie heftete.
Diese versteifte sich unter seinem Blick, senkte den Kopf und machte, dass sie wegkam.
Wie konnte sie nur so dumm sein und sich auch noch erwischen lassen?
Es war besser, wenn sie sich jetzt zurückzog. Wahrscheinlich war es nicht gestattet, dass man dem Highlord beim Training zusah. Womöglich wollte er das nicht.
Lilitha schüttelte im Rennen den Kopf und wurde dann langsamer, als sie sich der Bibliothek näherte. Ein gutes Buch würde sie vielleicht ablenken.
Sie betrat das Gebäude und hoffte, diese peinliche Situation hinter sich lassen zu können.
Man hatte ihr sowieso schon zu viel durchgehen lassen, aber nein, sie musste es ja immer weiter provozieren, ihren Kopf auf einem Pfahl zu wissen.
Auch wenn die Bibliothek recht groß war, so fiel ihr direkt auf, dass viele Frauen hier waren. Die blauen Halsbänder, die für die Gelehrten und Schreiber standen.
Sie beachteten Lilitha fast gar nicht, sondern gingen nur ihren Tätigkeiten nach.
Doch das eigentlich beeindruckende waren die unsagbar hohen Bücherregale, welche sich Reihe um Reihe vor der Vampirin auftürmten. Dieser Ort musste ein herrlicher Quell des Wissens sein.
Weiter in der Mitte, in der eine große Sitzfläche mit Kissen und allen möglichen Polstern war, hörte sie Gelächter und Gerede. Vermutlich hatten sich dort einige Frauen versammelt.
Lilitha reagierte nicht weiter darauf.
Sie nahm sich ein Buch über Kräuter und ließ sich nieder.
Allerdings konnte sie sich kaum darauf konzentrieren zu lesen, denn sie vernahm immer wieder die Stimmen der anderen Frauen.
Diese sprachen über ein Fest, das Lilithas Neugierde weckte.
Sie war schon seit Ewigkeiten nicht mehr auf einem Fest gewesen und es klang so, als wären auch die Diener dazu eingeladen. Doch wieso hatte sie davon noch nichts gehört, wenn dem so war?
»Ich frage mich, wen der Lord dieses Mal hochstuft«, sagte eine der Frauen lachend.
»Die kleine Beth ist sehr begabt und würde uns sicherlich nützlich sein«, verkündete eine andere.
Anders als unter den roten Halsbändern, arbeiteten die blauen Halsbänder zusammen. Sie hatten nur ihre Forschungen im Kopf und wie sie damit dem Lord helfen und beistehen konnten.
Viele der Damen hier kannten sich noch besser mit Politik aus, als viele ahnten.
»Ich bin jedenfalls davon überzeugt, dass er Rya zu seiner neuen Favoritin macht. Ist euch nicht aufgefallen, dass Chiana nur noch zum Essen bei ihm ist? Da kann er sich auch eine von uns holen und richtige Gespräche führen«, mutmaßte eine weitere, die ein wenig abseits auf dem Rücken lag und andere Dinge im Kopf zu haben schien. Natürlich gab es immer wieder Vereinzelte, die sich nach einer anderen Stufe sehnten, als die, die sie hatten.
Was Lilitha durchaus nachvollziehen konnte.
Sie würde auch gerne die Privilegien einiger anderer Stufen haben. Als Gelehrte konnte sie den ganzen Tag nur schmökern, doch das war auf Dauer auch nichts für sie. Sie brauchte etwas zu tun.
Vielleicht sollte sie sich überlegen, ob sie es nicht darauf ankommen ließ und versuchte einen Platz bei den Grünen zu erhaschen. Der Highlord schien ihre Massagen zu schätzen.
Oder sie tanzte ihm etwas vor. Der Tanz ihres Clans war schon immer sehr beliebt gewesen.
Was Lilitha jedoch wusste, war, dass sie nicht zu den roten Halsbändern wollte.
Die Vorstellung, mit dem Highlord das Bett zu teilen, war zwar nicht so abstoßend, wie sie anfangs erwartet hatte, doch sie glaubte an die Liebe. Ihr Körper gehörte ihr und sie wollte selbst entscheiden, wem sie diesen Körper schenkte.
Sie spielte kurz mit dem Gedanken, die Frauen auf dieses besagte Fest anzusprechen, doch sie schienen so eingegliedert und vertraut untereinander, dass Lilitha diese Ordnung nicht stören wollte.
»Ich denke, ich werde dem Highlord an diesem Tag nicht die Ehre erweisen. Ich bin kein Freund davon, um Aufmerksamkeit zu betteln«, knirschte eine Frau mit violettem Haar und einem Buch auf ihrem Schoß. »Anwesenheit ist Pflicht«, mahnte sie eine andere, worauf die Violetthaarige den Blick argwöhnisch senkte.
Lilitha erkannte sie wieder, da sie ebenso neu war, wie sie selbst. Eine der Sklaven, welche die Händler mit ihr hergebracht hatten.
Trotz dieses Wissens traute sie sich nicht danach zu fragen. Wenn Anwesenheit Pflicht war, würde sie schon jemand darüber informieren.
Vielleicht sollte sie die Zeit bis dahin auch nutzen, um den Tanz ihrer Familie richtig zu lernen. In der Theorie beherrschte sie diesen. Aber eben nur in der Theorie.
Lilitha lauschte weiterhin gespannt den Frauen, doch diese unterhielten sich nur noch über andere Haremsfrauen und darüber, welche Geheimnisse diese verbargen.
Etwas, worüber Lilitha nicht unbedingt etwas wissen wollte. Wie zum Beispiel, dass eine der Mätressen Mann und Kinder zu Hause hatte, aber sich in den Harem flüchtete, in der Hoffnung, ihrem Bettlerleben zu entkommen und stattdessen einen Thronfolger zu zeugen.
Ein trauriger Gedanke, seine Familie aufgrund von Machtgelüsten zurückzulassen.
Die Rothaarige klappte das Buch auf ihrem Schoß zu und drückte es an ihre Brust, um es mitzunehmen.
Sie würde es in ihrem Zimmer lesen, wo sie keine eingeprägten Meinungen über andere Frauen aufschnappte. Das sorgte nur für Vorurteile.
Lilitha verließ langsam und in Gedanken versunken, wieder die Bibliothek.
Während sie durch den Garten schlenderte, genoss sie das Wetter und beobachtete längere Zeit zwei Vögel, die miteinander tanzten.
Sie liebte die Natur und wenn sie könnte, würde sie viel mehr Zeit hier draußen verbringen. Vielleicht sollte sie sich auf das Gras, an einen Baum setzten und lesen? Oder sich etwas bewegen? Hier war es viel ruhiger als in den Palastmauern.
Sobald sich dieser Gedanke etabliert hatte, sah sie auch schon einen prächtigen Ahorn, der selbst zu dieser Jahreszeit noch wundervoll aussah. Die Blätter hatten eine wunderschöne, orangerote Farbe und nur wenige von ihnen langen auf dem Boden. Der perfekte Platz zum Sitzen.
Entspannt ließ sich Lilitha auf den Blättern nieder und genoss die frische Luft, die sie umhüllte.
Langsam fuhr sie mit ihren zierlichen Fingern die Verzierungen am Rande des Buches nach, ehe sie dieses aufklappte und begann einige Passagen zu studieren.
Es war ein gutes Buch, auch wenn es schwer geschrieben war. Wer auch immer es angefertigt hatte, hatte Ahnung von Pflanzen, aber nicht von Wörtern.
Das war auch der Grund, warum sie einige Passagen mehrmals lesen musste. Schließlich brauchte ihr Kopf ein wenig Erholung und so legte sie das Buch auf die Blütenblätter und erhob sich. Der Mantel glitt zu Boden und sie begann mit einigen Dehnungen, die ihr Vater ihr beigebracht hatte. Es war wichtig, dass sie vor dem Tanz immer ordentlich gedehnt war, hatte ihre Mutter ihr beigebracht. Sonst konnte sie sich schlimme Muskelzerrungen zuziehen und das wollte sie nicht.
Auch wenn ihr Herz bei der Erinnerung an ihre Eltern, wie sie ihr die einzelnen Schritte beigebracht hatten, schmerzte, so hielt sie sich dennoch zurück, nicht die Fassung zu verlieren.
Sie schluckte und stellte sich gerade hin, um die erste Bewegung zu üben. Sie war zum Glück nicht sonderlich kompliziert und somit für sie noch machbar. Auch wenn sie bereits jetzt schon leicht ins Schwanken geriet.
Der Yukata war auch nicht sonderlich praktisch und so landete sie öfter im Gras, als ihr lieb war.
Einmal schaffte sie es auch so ungünstig zu fallen, dass sie danach ihren Arm massieren musste, damit er aufhörte wehzutun.
Dennoch gab sie nicht auf. Sie wollte diesen Tanz beherrschen. Nicht nur, um das Erbe ihrer Eltern zu bewahren!
Es wurde Zeit, dass ihre Koordination besser wurde.
Angestrengt machte sie nochmal einige separate Übungen, die ihr halfen, das Gleichgewicht zu halten und versuchte es dann noch einmal. Doch ihre Kleidung machte es ihr alles andere als einfach. Allein die zu langen Hosenbeine verhedderten sich stets mit ihren Füßen und ließen sie auf den Grund segeln.
Trotzdem gab sie nicht auf und versuchte es immer wieder.
































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