Kapitel 4 – Unheiliger Boden
Jubins Gedanken werden von einem lauten Seufzen unterbrochen. Ein hagerer Friedhofsgärtner betrachtet das Grab etwas ratlos. Der ältere Herr mit dem silberfarbenen Haar und den leichten Bartansatz kratzt sich nachdenklich am Kinn.
„Vielleicht die Dollarflecken-Krankheit, aber dafür sind die Grasschäden zu groß. Rasenrost? Ne, vielleicht doch die Dürre.“
„Nein, Bernd. Es liegt nicht an Ihnen, Sie haben getan, was Sie konnten“, meldet sich eine zierliche Frauenstimme im Hintergrund.
Jubin blickt zu der Pastorin, die Joleens Bestattung übernommen hat. Die Brünette mittleren Alters blickt durch ihre Brille zum Gärtner rüber, dennoch bleibt sie auf Abstand zum Grab.
„Bewässert wird das Rasenstück. Vielleicht versuche ich es mit Kalkdünger“, grübelt Bernd.
Die Geistliche tritt mit einem Schritt respektvoll näher heran und schüttelt auffällig ihren Kopf.
„Lassen Sie es gut sein. Das hier ist unheiliger Boden.“
„Unheiliger Boden?“ Der Gärtner blickt grimmig auf. „Ich denke es ist die Dürre, wenn nicht, dann kann es nur eine Pilzerkrankung sein.“
Jubin schaltet sich ein und nähert sich gezielt der Pastorin.
„Unheiliger Boden? Was meinen Sie damit?“
Nur kurz sieht die Pastorin zu ihm, schließlich senkt sie traurig den Blick auf das Grab.
„Ich fürchte, die Seele kommt nicht zur Ruhe. Etwas hält Frau Tiger noch in der Welt der Sterblichen.“
„Sie ist jung gestorben“, bemerkt der Gärtner.
„Das ist sie“, bestätigt die Pfarrerin.
Jubin muss sich zusammenreißen, denn es brennen ihm so viele Fragen auf der Zunge. Die Pastorin könnte ihm vielleicht weiterhelfen. Eine Chance, die er wahrnehmen möchte.
Bewusst tritt Jubin einen Schritt näher an das Grab.
„Kann man nichts dagegen unternehmen?“, hinterfragt er.
Eine bleischwere Stille sinkt zwischen sie. Die Pastorin wagt es nicht mal zu atmen. Ihr Gesicht nimmt eine ungesunde Blässe an. Einen langen Moment rührt sie sich nicht und um einer Vermutung auf den Grund zu gehen, macht Jubin einen weiteren Schritt Richtung Grab. Wie aus einer Schockstarre winkt die Pastorin ihn an sich heran. Ganz langsam, als wolle sie ihn nicht verschrecken.
„Sie …“, beginnt die Pastorin ehrfürchtig. „Sie sollten nicht näher rangehen.“
Ihre Stimme ist leise, als fürchte sie, etwas Böses zu wecken.
„Warum?“
Der Gärtner kommt ihr jedoch zuvor: „Was auch immer dem Boden zusetzt, könnte sich in deinen Schuhen verfangen und ohne, dass du es bemerkt, verbreitest du die Krankheit.“
Er wirkt voller Tatendrang und krempelt sich die Ärmel zurecht, als wolle er das Übel sofort an der Wurzel packen. Etwas, was der lieben Frau nicht entgehen zu scheint.
„Ich möchte, dass Sie sich ebenfalls von dem Fleck fernhalten, Bernd.“
Ein warnender Blick und auch der strenge Tonfall zeigen, dass die Angelegenheit ernst von ihr genommen wird und sie keine Widerworte duldet. Doch Bernd kräuselt seine Stirn.
„Bei aller Liebe. Ignorieren wir das, dann könnte der Schaden fatal werden. Die Angehörigen der zwei Nachbargräber werden von unseren Leuten gepflegt und in Takt gehalten. Dieser Zustand beschwört nur unzufriedene Kunden herauf.“
„Ich lasse mir etwas einfallen“, versichert sie ihm.
Stirnrunzelnd blickt der hagere Kerl auf, bevor er ihr zu nickt und davonschreitet.
Die Pastorin atmet erleichtert durch, bis sie Jubins bestehende Anwesenheit bemerkt.
Sie zwingt sich schließlich zu einem Lächeln. „Wie kann ich helfen?“
„Glauben Sie an Geister?“ Sie öffnet bereits ihren Mund, um ihn zu antworten. Da verbessert sich Jubin schnell. „An böse Geister.“
„Durch Güte und Treue wird Missetat gesühnt, und durch die Furcht des Herrn meidet man das Böse. Sprüche 16,6 LUT17.“
Ich soll auf meine Furcht hören? Wie wird es dann Lyra nur ergehen?
Der Gedanke, seine Schwester wird von Joleens kalten und toten Fingern gepackt und wohin auch immer verschleppt, ist ihm jedoch zu wider.
„Hören Sie, die Lage ist wirklich ernst. Ich kenne das tote Mädchen und sie treibt in unserem Haus das Unwesen“, rückt Jubin mit der Wahrheit heraus.
Hoffentlich bereut er diese Entscheidung nicht, denn es ist nie gut, zu behaupten, Geister oder Ähnliches zu sehen. Auch die Pastorin wirkt überrascht und blinzelt mehrmals.
Dennoch hat sie die Ruhe weg und versucht es nun so: „Unheimliche Geräusche haben oft einen völlig normalen Ursprung. Ich treffe immer wieder auf Leute, die glauben Etwas gesehen zu haben, was nicht wirklich da war. Haben Sie viel Stress? Klausurenstress oder Ärger mit Freunden? Oft spielt uns die Psyche einen Streich.“
„Nein!“ Jubin schüttelt seinen Kopf. „Das hier ist anders! Glauben Sie mir doch!“
Mitfühlend betrachtet die Pastorin ihn und Jubin erträgt diesen Blick keine Minute länger, also verabschiedet er sich freundlich. Die Flucht aus dieser peinlichen Situation ist in seinen Augen die beste Lösung.
Schnellen Schrittes begibt sich Jubin zu einen der drei Ausgänge. Fast hätte er Friedhof hinter sich gelassen, als ihm die Blutspur auf seinem Arm ins Auge springt. Sein Magen rebelliert, je länger er sich Joleens Geschenk ansieht. Geekelt blickt er umher und macht die Brunnenanlage zum Glück schnell ausfindig. Das Blut ist geronnen und zuerst widerspenstig. Es kostet einige Anläufe, bis der Handabdruck abgewaschen ist. Jubin nutzt die Gelegenheit, um mit dem kühlen Wasser sein Gesicht zu erfrischen. Als spüle er die Last von seiner Seele fort, wird seine Haltung gleich entspannter.
An der Bushaltestelle stellt Jubin jedoch fest, dass er einige Anrufe verpasst hat. Für den Grabbesuch hat er bewusst das Handy auf stumm geschaltet und nun bekommt er zusehen, dass seine Schwester ihn mehrere Male angerufen hat. Ein Blick auf den Fahrplan zeigt, dass der nächste Bus erst in acht Minuten eintrifft, also ruft er zurück.
Lyra klingt ziemlich aufgewühlt, als sie den Anruf entgegennimmt: „Jubin? Mensch! Wo warst du?“
„Ich hatte noch etwas zu erledigen.“
„Du hättest mir Bescheid geben können“, wirft sie ihn mit zittriger Stimme vor den Kopf. „Eine Nachricht hätte gereicht.“
Er weiß, sie hat Recht. Daran hatte Jubin einfach nicht gedacht. Schuldbewusst schlägt er die Augen nieder.
„Entschuldige, Lyra.“
„Kannst du mich abholen?“
Mit klopfendem Herzen blickt Jubin auf. „Was meinst du mit abholen?“
„Ich bin bei Maxim und möchte hier einfach nur weg.“
„Wie kommt es, dass du bei ihm bist?“
„Ich dachte, du wärst dort.“
Verständlich. Jubin und Maxim verbringen viel Zeit miteinander.
„Ist gut, ich komme vorbei.“
Erleichterung macht sich in Lyras Stimme breit. „Danke, Bruderherz.“
Bevor Jubin nachfragen kann, was seine Schwester bedrückt, legt Lyra auch schon auf. Der lästige Ton der bereits toten Leitung dringt in sein Ohr. Zögernd steckt Jubin sein Handy in die Tasche und hält nach dem Bus Ausschau. Er muss sich noch einen Moment gedulden, schließlich geht es mit der Linie zum nächsten Knotenpunkt. Zweimal umsteigen, ein Fußweg von zehn Minuten und schon befindet er sich nahe des kleinen Familienhauses, wo Maxims Familie sich nieder gelassen hat. Sein Freund ist ein Einzelkind und erfüllt sämtliche Vorurteile als verwöhntes Kind in jeder Hinsicht. Seine Eltern sind beide Anwälte, sie verdienen gut und sind wenig zu Hause. Statt mehr Luxus ins Eigenheim zu bringen, genießen sie exklusive Urlaube und teure Restaurantbesuche. Meist ohne ihren Nachwuchs. Maxim findet ihre Ausgänge schließlich sterbenslangweilig und verbringt die Zeit lieber mit seinen Freunden.
Womit Maxims Eltern sicherlich nicht rechnen, ist das Absperrband rund ums Grundstück. In Blaulicht getaucht wandert die Mordkommission umher. Die Spuren werden bereits gesichert und entsprechend dokumentiert. Stirnrunzelnd nähert sich Jubin dem gelben Absperrband, daraufhin wird er auch schon von den Beamten entdeckt. Einer der Polizisten nähert sich ihm. Es handelt sich um einen stämmigen Kerl mit wenig Haaren auf den Kopf. Die dunklen Augen des Polizisten mustern den Jungen, während sich das Funkgerät an seiner Hüfte ununterbrochen meldet. Die knisternde Leitung lenkt Jubin immer wieder ab.
Da von ihm nichts kommt, spricht der Gesetzhüter ihn an: „Kann ich dir helfen?“
„Meine Schwester Lyra ist zu Besuch bei einem Freund von mir, sie hat angerufen und gebeten, dass ich sie abhole.“
Der Name seiner Schwester scheint dem Herrn geläufig zu sein. „Lyra Olstwind?“
„Ja.“ Jubin nickt. „Steckt sie in Schwierigkeiten?“
„Ihre Schwester ist ein wichtiger Zeuge, Herr Olstwind. Ihren Vater bekommen wir nicht erreicht. Wissen Sie, wo er steckt?“
„Auf der Arbeit.“
Die Antwort scheint den Polizisten nicht sonderlich überraschen. Der Kerl nickt zufrieden und hebt das Absperrband.
„Treten Sie ein. Ich bringe Sie zu Ihrer Schwester. Später müssen wir jedoch die Zeugenaussagen auf dem Revier aufnehmen und hätten noch Fragen an Sie. Also bitten wir höflichst darum, uns zum Revier zu begleiten. Vorher schauen wir aber noch auf der Arbeit Ihres Vaters vorbei.“
Jubin ist die Verwirrung ins Gesicht geschrieben. „Was ist denn passiert?“
Von allen Seiten wird er bereits taxiert. Jubin wird das Gefühl nicht los, verdächtigt zu werden. Dieser Moment wirkt surreal auf ihn. Als wäre er durch den Fernsehbildschirm in eine Krimiserie gestolpert. Nur mit dem Unterschied, dass dieses Haus seinem besten Freund gehört.
Fern von der neugierigen Meute erfährt Jubin von der schrecklichen Tat. Die Hiobsbotschaft von Mikas Tod trifft ihn wie ein Blitzschlag. Verdächtigt wirken seine Schwester und Maxim, da sich sonst niemand zur Tatzeit im Haus befand. Nichts deutet auf einen Einbruch hin und laut den Ermittlern hat niemand das Haus nach dem Zeitpunkt des Todes verlassen. Und doch entgeht Jubin die Verwunderung nicht. Etwas, scheint nicht zu stimmen. Laut dem Polizisten soll Mika an einer tödlichen Verletzung gestorben sein. Mehr möchte die Polizei nicht preisgeben.
Während Lyra völlig am Ende ihrer Nerven scheint und mit Tränen in Jubins Arme fällt, steht Maxim unter Schock. Sein bester Freund ist bleich wie Kreide und würde sich sein Brustkorb nicht heben und senken, dann hätte Jubin ihn auch für eine naturgetreue Wachsfigur halten können. Während die Spurensicherung und die Mordkommission sich weiter mit dem Tatort beschäftigen, werden die Jugendlichen abgeführt. Es folgt ein kurzer Abstecher. Auf der Arbeit jongliert Lyras und Jubins Vater laut den Polizisten. Sobald sich aber die Möglichkeit bietet, beendet er seine Schicht und macht sich sofort auf zum Polizeirevier.
Zwischen klingelnden Telefon, Konferenzräumen, auf und ab laufenden Polizisten werden die Zeugenaussagen getrennt im Revier aufgenommen. Jubin hingegen soll sich zu Mikas Wesen und seiner Beziehung zu den Zeugen äußern. Eine keine leichte Aufgabe, denn allein aus Gewohnheit spricht Jubin über Mika, als würde er noch unter den Lebenden verweilen. Nie spricht er in Vergangenheit über seinen Freund und selbst nachdem er seine Aussage getätigt hat, fühlt es sich für ihn immer noch an, als wäre sein Freund noch unter ihnen.
Außerhalb der Büros geduldet sich Jubin auf einer Bank. Sein Vater soll ihn und seine Schwester schon bald abholen. Bei dem ständigen Lärm der Telefone muss sich Jubin fragen, wie man es freiwillig an solch einem Ort aushält. Laufend läutet es durch die Flure. Der Lärm nimmt einfach kein Ende. Wenig später bekommt er Gesellschaft von seiner Schwester. Ihre angeschwollen Augen und die hängenden Schultern sagen bereits viel aus. Völlig erschöpft lässt sie sich auf den Platz neben ihn plumpsen und lehnt sich gegen seine Schulter. Statt sie mit Fragen zu konfrontieren, legt Jubin seinen Arm um Lyra. Wenige Augenblicke kommt auch Maxim hinzu. Er setzt sich wortlos auf Lyras freie Seite.
Die Stille wird unterbrochen, als Maxim ihnen mitteilt: „Unsere Eltern sind eingetroffen.“
Jubin runzelt die Stirn. „Hast du sie gesehen?“
„Ja.“ Maxim macht eine dramatische Pause. Sein Blick ist immer noch stur nach vorne gerichtet, als fixere er etwas an. „Meine Eltern sind schockiert. Ich kann immer noch nicht glauben, dass all das real ist. Bitte sag mir, dass ich träume.“
Lyra löst sich aus Jubin Armen, sie blickt müde hinüber. Ihre Hand fängt die von Maxims ein und drückt diese sanft. Nun bewegt Maxim den Kopf zu ihr. Er betrachtet sie überrascht und lässt sich von ihrem milden Lächeln wärmen.
Dann trudeln auch schon ihre Eltern ein. Maxims schickfrisierte Eltern in feinster Kleidung bieten einen starken Kontrast zu Lyras und Jubin Vater, der noch in Arbeitskleidung steckt. Auf seiner Schürze herrscht das reinste Fleckenparadies. Das Imbisslogo mit dem glücklich blickenden Huhn prangt auf der Brustseite seines rötlichen T-Shirts. Während Maxims Eltern mit durchgedrückten Rücken herumstolzieren, ihr Kinn stolz recken und von einer wohlduftenden Parfümwolke umgeben sind, lässt sich ihr Vater hängen und trägt den Frittösengeruch mit sich.
Und doch sind Lyra und Jubin dankbar für die Anwesenheit ihres alten Herrn. Si erheben sich und laufen ihrem Vater entgegen, der seine Arme herzlich ausbreitet und sie in eine tröstende Umarmung schließt. Während Maxim sich nervös erhebt und seinen Eltern bis zu einen Meter Abstand nähert, als wäre er ansteckend.
„Geht es euch gut, Kinder?“, erkundigt sich der besorgte Vater.
„Ich möchte nach Hause, Dad“, gesteht Lyra traurig.
Ihr Vater nickt und blickt an den beiden vorbei. „Das werden wir, aber wir nehmen Maxim mit. Er wird eine Weile bei uns leben, bis sich die Sache geklärt hat. Geht das für euch klar?“
Als hätten die beiden Geschwister etwas dagegen und auch Maxim wirkt nicht betroffen von der Entscheidung. Während die Eltern in einem luxuriösen Hotel übernachten, bevorzugt er eine Unterbringung bei seinem besten Freund. Sicherlich geht es hier um Lyra und die Tatsache, dass sich der Sohn von seinen Eltern entfremdet. Maxim hat die Harmonie in Jubins Familie schon immer mit Neid betrachtet, dabei hat sein bester Freund fast keine Verpflichtungen, jedes Jahr hammermäßigen Urlaub an Traumstränden und keine Geldsorgen. Einmal scherzte Jubin mit ihm und schlug vor, die Familien zu tauschen. Zu seiner Verwunderung wäre Maxim jeder Zeit dazu bereit.



































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