Mirani-Kapitel 16

~Mirani~

Obwohl ich mich noch immer ein wenig wackelig auf den Beinen fühlte und ab und an Bilder sah, die mit der Umgebung verschmolzen, gelang es mir doch, Zahira zu folgen. Am liebsten hätte ich mich an Asher festgekrallt, um nicht erneut in jemanden hineinzulaufen, doch ich wollte es noch immer nicht riskieren.
Wie auch schon das letzte Mal, war seine Vergangenheit nicht auf mich eingeprasselt, doch ich wusste immer noch nicht, woran das lag.
Es fiel mir schwer, mich auf den Weg zu konzentrieren. Erst recht, als ich den Duft von Gras wahrnahm, der so gar nicht in diese Gegend passen wollte.
Als ich mich genauer umsah, bemerkte ich, dass die Bäume um uns herum mehr wurden. Palmen und Dattelbäume säumten die Straßen, während die Häuser weniger und die Gärten größer wurden. Hier wurden allerlei Dinge angebaut, die ich nicht kannte.
Mehr interessierte mich jedoch der große See, der wohl eine natürliche Quelle war. Ringsherum wuchsen Gras und Palmen, die angenehmen Schatten spendeten.
Überall spielten Kinder, doch ein Ort, einer der schattigsten, war abgesperrt. Mehrere Werwölfe standen Wache.
Sie trugen ähnliche Kleidung wie die normale Bevölkerung, allerdings versehen mit dem Zeichen der Amqars. Ein heulender Wolf in verschlungenen Linien.
Sie fühlten sich nicht so fehl am Platz an, wie ich mich hier fühlte. Allerdings hatte ich bisher auch nicht davon gehört, dass die Amqars eine Elitegruppe an Kriegern hatten. Zumindest glaubte ich, dass es sich um eine solche Truppe handelte.
Als Zahira sich ihnen näherte, machten sie Platz, beäugten mich aber skeptisch, als würden sie gleich ihre Waffen gegen mich erheben und mich aufhalten.
Ich versuchte sie nicht böse anzublicken und sah weg. Das hier war ein fremdes Land und ich musste vorsichtig sein. Aus den Reisen mit meinem Vater hatte ich viel mitgenommen. Darunter auch, dass gutes Benehmen der Schlüssel war, um keine Probleme zu bekommen. Ich war hier immerhin nur Gast, wenn auch ein geladener.
Als ich mich umsah, entdeckte ich unter einer Palme im Gras ein Fell, auf das Zahira mich zuführte.
Beim genaueren Betrachten stellte ich fest, dass es gar kein Pelz war, sondern ein ausgehungerter, regloser Wolf.




Ein Schauer lief mir den Rücken hinab, als ich ihn mir genauer betrachtete. Ich konnte keine offensichtlichen Verletzungen erkennen und fragte mich, wie er hierhergekommen war.
Zahira ging darauf zu und ließ sich nieder. »Konnte ihn jemand identifizieren?«, fragte sie. Mir war bewusst, dass sie nicht mich fragte, aber ich machte mich dennoch bereit, meine Gabe zu nutzen.
Vielleicht würde ich gar nicht so lange hierbleiben müssen, wie gedacht. Wenn ich herausfand, wer der Wolf war und wer ihn getötet hatte, wäre meine Aufgabe beendet. Dann konnte ich wieder nach Hause. Auch, wenn ich Asher dann vermutlich nie wieder sehen würde.
Dieser Gedanke sorgte für ein Stechen in meiner Brust und ein Gefühl von Trauer, das sich über mich legte. Hatte ich ihn in dieser kurzen Zeit so lieb gewonnen?
»Keine Chance«, erwiderte einer der Männer, der sich jedoch gleichzeitig weiter um den Schutz kümmerte und die Umgebung besah, statt zu Zahira zu schauen.
Zahira betrachtete den Leichnam genau, bevor sie sich erhob. Dann wandte sie sich mir zu. »Vielleicht kannst du diese Frage klären«, sagte sie und deutete auffordernd auf den Wolf.
Ich nickte vorsichtig, auch wenn ich nicht sonderlich erpicht darauf war, den toten Körper zu berühren. Wer wusste schon, wie er gestorben war? Er sah nicht gerade aus, als wäre er friedlich im Schlaf von uns gegangen. Ich würde also seine letzten Momente miterleben. Trotzdem trat ich darauf zu und ließ mich vor ihm nieder.
Wenn wirklich mehr auf diese Art gestorben waren, musste ich tun, was ich konnte, um weitere Opfer zu vermeiden.
Ich konnte nicht erkennen, ob es sich um einen weiblichen oder männlichen Wolf handelte, doch was ich sagen konnte war, dass er ausgetrocknet schien. Fast so, als hätte ihm jemand sämtliches Blut ausgesaugt. Die einzigen Wesen, die Blut tranken, waren die Rakshasa, doch diese hätten deutliche Spuren hinterlassen und den Körper dabei zerfetzt. Vermutlich hätte man gar nichts mehr von ihm gefunden, wenn sie sich über ihn hergemacht hätten.
Langsam streckte ich meine Hand aus und verkrampfte mich. Ich hatte heute bereits eine Flut an Bildern und wusste nicht so recht, ob ich eine andere überleben würde. Doch da der Körper tot war, konnte es durchaus sein, dass meine Fähigkeiten reagierten, als wäre er ein Gegenstand. Also weniger intensiv und steuerbarer für mich.




Es war das erste Mal, dass ich eine Leiche berührte und meine Gabe an ihr nutzte. Daher wusste ich auch nicht recht, auf was ich mich einstellen sollte.
Als ich das Kitzeln des Fells an meinen Fingern spürte, blieb der Sog aus.
Ich runzelte die Stirn und drückte meine Hand fester gegen das Fell. Unter meinen Fingern spürte ich trockene Haut, klammes Fell und Knochen, gepaart mit Kälte.
Ich verspannte mich, während ich darauf wartete, auch nur einen leichten Sog zu spüren, dem ich folgen konnte. Allerdings war da nichts. Gar nichts.
Ich schloss meine Augen und konzentrierte mich stärker. Fokussierte mich darauf, ein leises Flüstern zu spüren, doch auch dieses Mal war da nichts.
Was war das? So etwas hatte ich bisher nur einmal gespürt, aber ich war mir ziemlich sicher, dass dieser Wolf kein Rakshasa war. Aber wieso fühlte es sich so ähnlich an?
»Er ist schon zu lange tot«, entschied ich schließlich, auch wenn ich nicht wusste, ob das der Grund dafür war, dass meine Gabe nicht funktionierte.
Zahira stieß die Luft aus. »Maeve sagte etwas in die Richtung«, murmelte sie, bevor sie sich von mir abwandte. Ich konnte jedoch eine gewisse Spur von Verärgerung sehen. »Scheinbar bist du doch keine Hilfe.«
»Mutter«, mahnte Asher, auch wenn ich nicht verstand, warum.
Ich war mir nicht ganz sicher, ob meine Gabe funktionierte oder nicht. Vielleicht hatte ich sie heute überstrapaziert.
Um sicherzugehen, trat ich an einen Mann heran, der bei uns in der Nähe stand und streifte seine Hand. Sofort prasselten die Bilder seiner Vergangenheit auf mich ein. Der Moment, in dem sie den Wolf gefunden hatten und die Tatsache, dass man danach Zahira gerufen hatte.
Mein Herz klopfte heftig, während ich zitternd versuchte, nicht erneut zusammenzubrechen.
Es gelang mir dieses Mal schneller, die Bilder abzuschütteln und wieder in die Gegenwart zu gelangen.
Meine Gabe war also nicht kaputt. Sie wirkte nur nicht bei diesem Wolf. Aber warum? Hing es damit zusammen, dass sie teilweise auch bei Asher nicht funktionierte?
Es frustrierte mich, da ich gern eine Hilfe gewesen wäre. Aber so konnte ich nichts tun.
Bilder tauchten erneut vor meinen Augen auf. Ich sah durch die Augen des Mannes auf den Wolf. An dessen Hals, zwischen dem Fell, schimmerte etwas.




Sofort wandte ich mich um und rannte auf den Wolf zu, bevor ich mich erneut niederließ, um das Fell an seinem Hals zu untersuchen.
Tatsächlich war da etwas. Eine schlichte, silberne Kette. Sie war tief unter dem Fell versteckt und lag eng um den abgemagerten Hals.
Das könnte reichen.
Ohne Zahira oder Asher etwas zu sagen, legte ich meine Hand an die Kette. Der Sog war da und ich ließ mich sofort von diesem mitnehmen.
Bilder prasselten auf mich ein, die so verschwommen und unscharf waren, dass ich kaum sagen konnte, was genau ich sah. Schwarze Schatten. Ein Schemen, der etwas deutlicher war. Ich spürte eisige Kälte, während Dunkelheit mich umgab. Angst ergriff mich, während sich Schmerzen in mir breit machten.
Ich stieß den Atem aus und zog meine Hand zurück, doch die Gefühle von Angst, Kälte und Schmerzen blieben.
Meine Hände krallten sich in den heißen Sand, während ich um Atem rang. Mein Herz schmerzte. Es fühlte sich an, als würde eine eiskalte Hand es zerdrücken.
»Mirani?«, hörte ich Ashers Stimme, doch ich konnte nicht aufsehen. Stattdessen zitterte mein Körper immer mehr und ich konnte mich nicht mehr halten.
Die Hitze des Bodens umfing mich, doch sie konnte mich nicht wärmen. Stattdessen hatte ich das Gefühl, die Kälte in mir nahm zu und die Dunkelheit zog mich mit sich.

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