Schattenlinien

Riley konnte den Blick nicht von dem Satz auf der Rückseite des Notizbuchs lösen.„Sie sieht uns jetzt.“

Die Worte brannten sich ein wie eine Warnung, deren Bedeutung sie noch nicht ganz verstand – und vielleicht auch nicht verstehen wollte. Ihr Herz schlug zu schnell. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr Körper längst mehr wissen als ihr Verstand.

„Wir sollten das mitnehmen“, flüsterte Mia. Riley nickte stumm. Ihre Finger umklammerten das Notizbuch fester, als könnte es ihr entwischen, wenn sie es losließ. Draußen rauschte ein Windstoß gegen das Fenster, das Glas vibrierte leise, und für einen Moment meinte Riley, etwas Dunkles im Fensterspiegel zu sehen – eine Bewegung hinter ihrem eigenen Spiegelbild. Sie wirbelte herum.

Doch da war nichts. „Komm“, sagte sie schließlich. Ihre Stimme war rau. „Lass uns hier raus, bevor noch jemand kommt.“ Sie verließen Izzys Zimmer leise, schlossen die Tür hinter sich mit einem leisen Klicken, als wollten sie ein Geheimnis wieder einschließen. Auf dem Gang war es still, nur irgendwo das entfernte Summen der Beleuchtung, der schwache Geruch nach Reinigungsmittel und Papier. Riley hatte das Gefühl, als würde etwas in den Schatten hinter ihnen lauern, wie ein Gedanke, der sich nicht fassen ließ.

 

„Wohin jetzt?“ fragte Mia, als sie die Treppen hinunterstiegen. Riley zögerte. Dann sagte sie: „Zum Archiv. Du hast gesagt, Izzy hat dort geforscht. Vielleicht finden wir raus, was sie wusste. Oder wonach sie gesucht hat.“ Mia nickte. „Okay. Aber wir sollten nicht zu viel Zeit dort verbringen. Wenn jemand merkt, dass wir in ihrem Zimmer waren…“ „Dann tun wir überrascht.“ Riley klang mutiger, als sie sich fühlte. Das Campus-Archiv war im ältesten Gebäude der Universität untergebracht, einem sandsteinfarbenen Bau mit hohen Fenstern und knarrenden Holzböden. Drinnen roch es nach Staub, Papier und der stillen Beharrlichkeit der Vergangenheit. Eine Archivarin – Mitte fünfzig, graues Haar zum Dutt gebunden – sah kaum von ihrem Bildschirm auf, als Mia ihren Studentenausweis zückte „Lesesaal ist hinten links. Kein Essen, keine Getränke, keine Taschen.“

Ihre Stimme war tonlos, als hätte sie das hundertmal am Tag gesagt. Riley und Mia steuerten einen langen Tisch an, flankiert von metergroßen Regalen. Mia holte ein paar Mappen hervor, Zeitungsausschnitte, alte Hefte der Uni-Zeitung, handschriftliche Kopien von Vorlesungsplänen. „Izzy hat das alles durchgearbeitet“, murmelte Mia. „Manchmal stundenlang. Ich hab sie gefragt, warum – sie meinte nur, es gäbe Muster. Dinge, die sich wiederholen.“ Riley öffnete eine der Mappen. Ein vergilbter Artikel fiel heraus, datiert auf 1998. „Studentin spurlos verschwunden – Polizei tappt im Dunkeln.“



Darunter ein Schwarzweißfoto: eine junge Frau mit offenen Haaren, Lächeln, das mehr wie ein Zucken wirkte.

 

Riley überflog den Artikel.

Keine Zeugen. Kein Abschiedsbrief. Kein Hinweis. Sie war einfach nicht mehr aufgetaucht. Freunde sagten, sie habe sich in den Wochen zuvor merkwürdig verhalten, von Schatten gesprochen, von Stimmen im Spiegel. Die Polizei ging von einem psychischen Zusammenbruch aus. „Izzy hat den Namen mal erwähnt“, sagte Mia leise. „Aber es gab nicht nur sie. Alle paar Jahre… jemand Neues. Immer in dieser Gegend. Immer dieselbe Geschichte.“ Sie schob Riley eine weitere Seite hin. Wieder ein Artikel. Diesmal von 1983. Dann 1969. Immer der gleiche Tenor. Junge Leute. Spurlos verschwunden. Und immer gab es Gerüchte – über Flüstern, Schlaflosigkeit, eine Art… Verfall, der ihnen voranging. „Was, wenn das nicht nur Geschichten sind?“ flüsterte Riley. „Was, wenn es wirklich… etwas ist, das sie geholt hat?“ Mia sah sie lange an.

„Dann läuft hier seit Jahrzehnten etwas falsch. Und niemand redet drüber.“ Riley blätterte in Izzys Notizbuch, las erneut die wirren Worte auf der kritzeligen Seite:

„Tür – nicht allein – Stimmen – Spiegel – Tiefe – tiefer – tiefer – tiefer –“ Sie konnte nicht sagen, ob Izzy in Panik geschrieben hatte – oder in einer Art Trance. Vielleicht beides. „Was, wenn sie nicht verschwunden ist… sondern irgendwo hingegangen ist?“, fragte sie schließlich. „Nicht freiwillig. Aber auch nicht einfach weg. Sondern… woanders.“ Mia schüttelte langsam den Kopf. „Du meinst, wie eine andere Realität?“

Riley zuckte die Schultern. „Ich weiß es nicht. Aber sie hat von einer Tür geschrieben. Von Tiefe. Spiegeln. Was, wenn es eine Art Zugang gibt? Ein Übergang. Und was, wenn wir anfangen, ihn zu sehen?“ Mia schwieg.

Dann:

„Als ich klein war, hatte ich mal einen Albtraum. Immer denselben. Ich war in meinem Zimmer, alles war normal – aber im Spiegel war nicht mein Spiegelbild. Da war jemand, der wie ich aussah, aber nicht… ich war. Und sie hat mich angesehen. Immer. Bis ich aufwachte.“ Riley lief ein Schauder über den Rücken. „Vielleicht sind das keine Albträume. Vielleicht ist das… das Erste, was sie tun. Sie zeigen sich.“ Für einen Moment war da nur Stille zwischen ihnen.



Dann schloss Riley das Notizbuch, als müsste sie es versiegeln. „Wir sind zu tief drin, Mia. Oder gerade tief genug, um die Wahrheit zu sehen.“

Wie gut gefällt dir dieses Buch?

Klicke auf einen Stern zum bewerten.

Durchschnitt 0 / 5. Anzahl: 0

Bisher keine Bewertungen

Kommentare