EZC – Kapitel 8

Verwirrt stand ich auf. Trotz der durchgemachten Nacht fühlte ich mich ausgeruht. Nachdenklich schlüpfte ich in die Holzschuhe und holte alles zusammen, was man für das Entfachen von Feuer brauchte. Es war so, als ob meine Hände wüssten, was zu tun war. Es dauerte gar nicht lang, da prasselte ein schönes, warmes Feuer im Kamin. Dabei hätte ich nie gedacht, dass ich das hinbekäme. Auch so ein Wunder des Märchens.
Ich eilte in den nächsten Raum, um dort ebenfalls das Feuer zu entzünden. Irgendwo versteckt in meinem Kopf wusste ich, dass ich Wasser holen musste, damit meine Stiefschwestern sich waschen konnten. Ich eilte nach draußen zum Brunnen und begegnete einigen anderen Mägden und Knechten.
„Guten Morgen, Aschenputtel“, rief eine mollige Frau mir zu, „was bist du so früh auf? Deine Stiefmutter und deine Stiefschwestern werden lang schlafen nach dem gestrigen Fest.“
„Guten Morgen.“ Ich lächelte. „Vielleicht wachen sie früher auf. Da soll doch alles bereit sein.“
„So ein fleißiges Mädchen“, hörte ich noch die Frau murmeln, während sie weiter eilte. „Aschenputtel hätte mit zum Ball gehen sollen. Das wäre eine feine Königsbraut geworden.“
Ich schöpfte einen Eimer Wasser und versuchte, die Verlegenheit zu verdrängen. Immerhin wusste ich nicht nur, dass Aschenputtel beim Ball gewesen war, sondern auch, dass sie den Königssohn heiraten würde.
Kaum machte ich die ersten paar Schritte mit dem schweren Wassereimer Richtung Haus, durchfuhr mich ein heißer Schreck. Mir fiel ein, dass ich noch sehr viel mehr wusste. Irgendwann am Morgen würde der Königssohn mit meinem goldenen Pantoffel kommen, den meine Stiefschwestern anprobieren mussten. Vielleicht empfanden Märchengestalten solche grausamen Verstümmelungen, wie sie den beiden Mädchen von meiner Stiefmutter angetan werden würden, als völlig normal. Doch mir drehte sich gedanklich der Magen rum. Ich wollte das auf gar keinen Fall miterleben! Und die Hochzeit wäre die nächste abscheuliche Katastrophe. Wie hatte Aschenputtel es gelassen hinnehmen können, dass ihre Tauben den Mädchen die Augen aushackten. Und wieso waren die nicht geflohen, als die Tauben anfingen, auf sie einzupicken?
Mir fiel der Wassereimer aus der Hand. Eisige Kälte rann meinen Rücken hinunter. Ich konnte spüren, wie sich auf meinen Armen Gänsehaut bildete. Auch wenn ich in gewisser Hinsicht mit der Märchengestalt verschmolzen war und Tätigkeiten verrichtete, die ich als Anara überhaupt nicht beherrschte, so war ich tief im Herzen ich geblieben. Blut und Verstümmelungen gehörten nicht in meine Welt. Ich war mir gar nicht sicher, ob ich das ertragen könnte, ohne mich zu übergeben.
Der nächste eisige Schauer glitt über mich. Natürlich wusste ich, dass Aschenputtel keinen blutigen Pantoffel anprobiert hatte. Aber allein der Gedanke, dass das Blut beider Stiefschwestern an ihm klebte, machte es mir schier unmöglich, ihn anziehen zu wollen. Und danach sogar glückselig mit dem Königssohn davonzureiten. Unmöglich!
Ich blickte nach unten und seufzte. Nicht nur der Eimer war heruntergefallen. Er war natürlich umgekippt und hatte meine Holzschuhe und meinen Kleidersaum durchnässt. Das gäbe Ärger, wenn ich mit den nassen, klobigen Schuhen durchs Haus trampelte. Bestimmt wurde ich zum Wischen verdonnert.
Obwohl ich gern den Mund missmutig verzogen hätte, konnte ich nicht anders, als zu lächeln. Auch das war für mich ein Beweis, dass meine inneren Gefühle durchaus im Widerspruch zu Aschenputtels Wesen stehen konnten. Nach außen zeigte ich ein liebreizendes, freundliches Wesen, obwohl ich tief drinnen grummelte. Ich durfte ganz einfach nicht in diesem Märchen sein. Schließlich endete es mit der Hochzeit, die zur Katastrophe für die Stiefschwestern wurde. Wenn ich Pech hatte, war mein Leben damit beendet. Und wenn ich noch mehr Pech hatte, geriet ich in eine „Märchenschleife“ und musste immerzu von Neuem dieses grausame Märchen durchleben. Wie furchtbar!
„Ich soll mich nicht beschweren?“, zischte ich aufgebracht, als ich den Eimer erneut in den Brunnen hinabließ, um ihn zu befüllen. „Ich habe alles Recht der Welt, mich zu beschweren!“ Dieses Mal passte ich auf, dass ich den Eimer nicht erneut fallenließ. „Und wenn ihr, Fauna, Flora und Sonnenschein, mir nicht helft, dann … dann …“ Ich presste die Lippen fest aufeinander. Denn ich hatte keine Ahnung, womit ich drei Feen aus dem Märchen „The sleeping Beauty“ bedrohen könnte. Immerhin steckte ich in Aschenputtel fest.
Natürlich zeigte mein Gesicht ein sanftes Lächeln, als ich das Haus betrat. Meine Schuhe und mein Gewand waren wieder trocken. So ging ich die Treppen nach oben, betrat möglichst leise die Zimmer meiner Stiefschwestern und füllte deren Krüge auf. Sie ließen sich durch kein Geräusch wecken, sondern schnarchten leise vor sich hin. Das entlockte mir ein Grinsen. Ganz so schlimm war mein Leben doch nicht. Ich war mir sehr sicher, dass Aschenputtel nicht schnarchte.
Ich eilte nach unten und fasste einen Plan. Geschwind holte ich frisches Wasser aus dem Brunnen. Mit einem Tuch schrubbte ich meine Hände, wusch mein Gesicht und betupfte sogar Hals und Ausschnitt. Als ich richtig sauber war, schüttete ich das Wasser fort und schritt ins Haus zurück. Leider fand ich keine Stelle, wo ich mich verstecken konnte.
„Du musst ihnen zuvorkommen“, murmelte ich und nagte an der Unterlippe. Mein Herz klopfte wie wild. Es war vielleicht dumm oder sogar riskant. Aber wenn ich die blutige Szene abwenden wollte, musste ich rasch handeln. So schnell ich konnte, lief ich wieder aus dem Haus hinaus. Hastig eilte ich in die Richtung, aus der ich gestern hierhergekommen war. Von dort musste der Königssohn kommen.
„Aschenputtel, wo läufst du denn hin?“, fragte mich der Stallbursche.
„Ach, ich wollte nur zum Grab der Mutter.“
„Na, solange die Herrschaften schlafen, wird das wohl gehen“, erwiderte er und nickte begütigend.
Mir war ein wenig flau im Magen. Immerhin hatte ich gelogen. Andererseits musste der Königssohn am Grab vorbeikommen. Dort im Haselbaum saßen zwei Tauben, die meine Stiefschwestern im Märchen verraten hatten. Also war das mein Weg. Etwas Besseres fiel mir nicht ein. Und über die Hochzeit, da konnte ich mir später Gedanken machen.
Wieder schmerzten mich die Füße, als ich mit den schweren Holzschuhen vorwärts marschierte. Mir kam das Märchen immer märchenhafter vor. Unter Garantie hatte kein Mädchen zierliche, feine Füße, das den ganzen Tag in solchen Schuhen laufen musste. Es gab kein Fußbett, keine weiche Sohle zum Abrollen, die Knochen und Gelenke waren mit Sicherheit extrem geschädigt von jedem Kind, das stundenlang darin laufen musste!
Endlich, ich konnte in der Ferne bereits den Haselbaum sehen, hörte ich auch Hufgetrappel. Der Königssohn war auf dem Weg! Erleichtert blieb ich stehen und wartete, bis er in Hörweite war. Es wunderte mich zwar, dass er allein kam, aber im Märchen hatte er auch keinen Hofstaat dabei oder Begleiter.
„Eure Hoheit“, rief ich und machte einen unbeholfenen Knicks, „bringt Ihr mir meinen goldenen Pantoffel?“
Er zügelte sein Pferd und blickte verwundert zu mir herab. Einen Moment befürchtete ich, dass er einfach weiterreiten würde. Aber eine Textstelle vom Märchen zuckte mir durch den Kopf: Und als es sich in die Höhe richtete und der König ihm ins Gesicht sah, so erkannte er das schöne Mädchen, das mit ihm getanzt hatte.
Ich hatte zwar das Märchen ziemlich abgeändert mit meinem Fußmarsch, dennoch klappte es mit dieser Szene. Er sprang von seinem Pferd herab und hielt mir den Pantoffel hin.
„Keine andere soll meine Gemahlin werden“, sprach er und lächelte mich freundlich an, „als die, an deren Fuß dieser goldene Schuh passt.“
Mein Herz machte einen Überschlag, so heiß rann mir seine Stimme durch die Adern. Es war dieselbe Stimme wie am Abend zuvor. Aber jetzt war er so nah, die Stimme so wohltönend. Er sah atemberaubend gut aus! Kein Märchenfilm konnte seiner Schönheit gerecht werden. Mit offenem Mund starrte ich ihn an. Da hob er mich hoch auf sein Pferd, ergriff meinen Fuß, streifte den schweren Holzschuh ab und zog mir den goldenen Pantoffel über. Er passte perfekt.
„Das ist die rechte Braut!“, rief er, schwang sich hoch zu mir in den Sattel und umfasste mich. Ich hob den Kopf zu ihm. Es war unglaublich, er hatte eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf mich. Da konnte nicht einmal Elio mithalten, der doch der schönste Junge an unserer Schule war.
Der Königssohn lächelte mich an. Alles an ihm war pure Verführung. Ich konnte mich seiner betörenden Ausstrahlung nicht entziehen und wollte es auch gar nicht. Als er den Kopf zu mir hinab beugte, streckte ich mich ihm entgegen. Es war dumm, ganz bestimmt war es verrückt. Durften sich unverheiratete Paare überhaupt küssen? Es war mir egal, in diesem Augenblick war es mir vollkommen egal.
Ich legte vertrauensvoll meine Hände an seine Brust, drängte mich näher an ihn. Kaum spürte ich seine linke Hand in meinem Nacken, zerfloss ich in einem Gefühl von seidiger Wärme. Seine Lippen hauchten einen zarten Kuss auf meinen Mund. Hitze durchströmte mich, und ich schloss die Augen. Ein flirrendes Beben breitete sich in mir aus, erfüllte meinen Brustkorb bis hin zum Unterleib. In meinen Ohren rauschte es, und ich wünschte mir, dieser Kuss möge niemals enden. Ich hielt den Atem an, genoss das Prickeln, und für den Bruchteil einer Sekunde hörte mein Herz im glückseligen Rausch auf zu schlagen.
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