SdS – Kapitel 9

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Wenn die letzte Hoffnung stirbt, beginnt das Reich der Sterne, seine Tore zu öffnen.
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Nicoles Hand schwebte einladend vor mir, doch irgendetwas in mir sträubte sich, der mir eigentlich fremden Frau einfach so zu vertrauen. Am liebsten würde ich mich intensiv im Raum umsehen, ob sich da irgendwo eine Geheimtür befand. Doch ich wagte es nicht, mich herumzudrehen und alles in Augenschein zu nehmen. Ich wagte nicht einmal, meinen Kopf zu drehen. Aber die Gedanken sprudelten wie ein Quellbach in meinem Kopf umher. Wohin wollte sie mich führen? Vielleicht war es dumm gewesen, ihr einfach so nach oben zu folgen. Nicht einmal meine Schwester kannte die Heilpraktikerin. War ein Parkschild Beweis genug, dass jemand seriös war? Und nur weil die Mutter einer Bekannten von jemanden gehört hatte … Das klang doch eher wenig vertrauenerweckend. Durfte ich ihr vertrauen?
„Wenn du möchtest“, sagte Nicole mit einem Mal in meinen Gedankenstrom hinein, „können wir zurück zu deiner Schwester gehen.“
Sofort schossen mir andere Gedanken durch den Kopf. Ich war hier, weil ich Hilfe brauchte. Wenn ich nun zu Lisa zurückging, ohne es versucht zu haben, hatte ich dann nicht irgendwie ein Stück versagt? Und war nicht genau diese ewige Angst, zu versagen, der Grund, weshalb ich überhaupt hier war?
Ich hob meine Hand und sah, wie sie zitterte. Ich war schwach und voller Zweifel, ich wagte es nicht einmal, meine Hand an meinen Körper zu pressen, um das Zittern zu verbergen.
Dann hob ich meinen Kopf und sah zur Zimmerdecke hoch. Warum ich das tat, wusste ich nicht, doch es fühlte sich richtig an. Ich sah auf die vielen Sterne, die zu blinken und funkeln schienen. Dort oben bei den Sternen war alles still, es gab kein Versagen, keine Forderungen, nur ein warmes Glitzern.
„Verena?“
Nicoles Stimme klang warm und vertraut. Ich senkte meinen Kopf, blickte wieder auf ihre Hand – und legte meine in ihre.
Ein Gefühl von Ruhe und Sicherheit strömte durch meine Finger, als ich die Wärme ihrer Haut an meiner spürte. Geborgenheit. Ich sah in ihre Augen, sah ihr leichtes Lächeln und das Nicken ihres Kopfes.
„Vertraue dem Sternenpfad, Verena“, sprach sie mir Mut zu und drückte kurz meine Hand. Danach hob sie unsere Arme und begann, mit leiser Stimme in einer Art Gesang zu rezitieren.




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Sternenpfad, so alt und weit,
trag uns sanft durch Raum und Zeit.
Leuchte auf in dunkler Nacht,
in der ein neues Herz erwacht.
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Und dann geschah etwas Unglaubliches, nein, weit mehr, etwas Unmögliches. Die Luft vor uns begann zu flimmern wie der Asphalt in der Stadt bei großer Hitze. Die Wände verschwanden, die Kissen verloren sich in einem Nebel aus silbernen und blauen Funken. Sie verwoben sich zu einem Pfad, der dunkelblau glänzte und mit silbernen Sternen übersät war. Der Sternenpfad führte zum Himmel hoch, obwohl das gar nicht möglich war.
„Komm“, sagte Nicole und trat auf den Pfad, der sich vor uns gebildet hatte. Noch immer hielt sie meine Hand und zog mich leicht mit sich. Ich hatte Angst, gleichzeitig spürte ich, dass ich ihr folgen musste. Wenn ich eine Hilfe aus meinem Leben voller Angst und Zwängen bekommen wollte, durfte ich nicht zurückweichen. Vielleicht – auch daran klammerte sich mein Verstand – war das hier alles nur eine Illusion. Ich konnte mich zwar nicht daran erinnern, einen fremden, betörenden Duft wahrgenommen zu haben, dennoch wollte ich Halluzinationen unter Drogeneinfluss nicht ausschließen.
Kaum dass meine Füße diesen seltsamen glänzenden Weg berührten, hörte ich einen hellen Klang, ein kühler Wind wehte um mich herum, und der süßliche Duft von frisch gebackenen Plätzchen drang in meine Nase. Ich brauchte einen Moment, ehe ich begriff, dass der helle Klang von kleinen Glöckchen herrührte, die meine Mutter in der Weihnachtsnacht immer vor das Fenster gehängt hatte. Wenn sie bimmelten, wussten wir, dass das Christkind unterwegs war, um die Geschenke zu bringen. Dann mussten wir brav in unserem Zimmer warten, das sich auf der anderen Hausseite befand, wo wir nicht hinaus in den Garten blicken konnten.
Heute wusste ich natürlich, dass es nur der Wind gewesen war, der die kleinen Glöckchen zum Bimmeln gebracht hatte. Doch als Kind hatte ich es geglaubt. Es war aufregend gewesen, zu wissen, dass dort unten das Christkind unsere Geschenke unter den Weihnachtsbaum legte, während wir oben geduldig warteten und die Zeit durch den Geruch von heißem Kakao und leckeren Plätzchen, der zu uns nach oben drang, versüßt wurde.




Aber warum hörte und roch ich diese Dinge, die schon lange nicht mehr Teil meines Lebens waren? Was war das hier für ein Weg, was war das für ein Ort? Gab es das Christkind etwa doch, und wir waren auf dem Weg zu ihm? Unbewusst drückte ich Nicoles Hand fester, und sie blieb stehen, um mir in die Augen zu sehen.
„Was du hier wahrnimmst, Verena, sind deine schönsten Erinnerungen. Sie sollen dir helfen, in das Land jenseits der Sterne einzutauchen.“
Ich brachte kein Wort hervor, sondern nickte nur. Sie lächelte, dann ging sie weiter. Ich folgte ihr und wartete darauf, dass noch andere Erinnerungen kämen. Doch alles, was mich umhüllte, war das vertraute Gefühl des Kinderzimmers, erfüllt von den süßen, schokoladigen Düften, das leise Bimmeln der Glöckchen und das Wissen, das Christkind brachte die Geschenke.
Ich gab es auf, nach weiteren Erinnerungen zu suchen. Ich genoss das unbeschwerte Gefühl aus meiner Kindheit, und da tauchte mit einem Mal ein silberner Schleier vor uns auf, der aus Tausenden Sternen gewoben zu sein schien. Er funkelte und schimmerte so hell, dass ich ihn voller Staunen und Ehrfurcht ansah. Etwas so Schönes hatte ich noch nie gesehen. Es schien mir unmöglich, dort hindurchzugehen. Eine leise Angst keimte in mir heran, dass ich diesen vollkommenen Anblick zerstören könnte, wenn ich ihn berührte.
„Komm“, sprach Nicole mit warmer Stimme, und ehe ich protestieren konnte, hatte sie ihre freie Hand ausgestreckt und war mit ihr durch den Vorhang geglitten. „Komm.“ Wieder schien sie genau gewusst zu haben, was ich gedacht hatte, welche Ängste mich erfüllten.
Sie machte einen Schritt nach vorn, und ich folgte ihr. Das Gefühl, als ich den Schleier berührte, war unbeschreiblich. Warm und kühl. Samtweich, fast flauschig, dennoch glatt und fließend. Ein angenehmer Duft wehte um mich, er erinnerte mich an eine frisch gemähte Wiese oder an die Luft nach einem belebenden Regen. Ein leichter Schauer rann über meinen gesamten Körper, als sich der Sternenvorhang wie eine zweite Haut über mich legte.
Und dann war ich hindurchgeschritten und blickte auf eine Welt, die es nicht geben konnte. Ich musste träumen oder in einem Drogenrausch gefangen sein, denn das, was ich sah, existierte nur in Filmen oder Büchern und war eine Erfindung fantasievoller Menschen.




Das erste Wort, das mir durch den Sinn ging, war Idylle. Doch selbst dieses Wort schien zu schlicht, um das zu beschreiben, was sich vor meinen Augen entfaltete. Ich blickte auf eine farbenreiche Landschaft, die sich mit nichts auf der Welt vergleichen ließ. Nicht einmal die Bilder, die ich von den bunten, schillernden Pflanzen und Tieren des Amazonas-Dschungels gesehen hatte, konnten mit dieser prachtvollen Landschaft mithalten.
Die Bäume hatten silbrig-glänzende Stämme, aus deren Rinden goldene Blütenkelche sprossen, die sich langsam öffneten und feinen Lichtstaub in die Luft entließen. Ihre Blätter schimmerten in Türkis und Lavendel und bewegten sich, als atmeten sie. Um die Äste schlängelten sich durchsichtige Schmetterlingswesen, deren Flügel in sanften Regenbogenfarben flimmerten. Kleine vierbeinige Wesen mit Moos auf dem Rücken hüpften zwischen den hellblauen Halmen einer Graslandschaft umher.
Am Rand einer Lichtung grasten weiße, braune und sogar mitternachtsblaue Einhörner mit glänzenden Mähnen, die sich im Wind wie Meereswellen bewegten. Ihre Hufe schienen über dem Boden zu schweben, der funkelte und glitzerte, als wäre er mit Tausenden Tautropfen übersät. Über unseren Köpfen flatterten kleine Feen, deren Flügel wie die Sterne selbst funkelten. Ihre Stimmen klangen glockenhell, verspielt und lieblich. Die gesamte Luft schien von einer geheimnisvollen Melodie erfüllt, die mein Herz leichter schlagen ließ.
Über einem weiter entfernten Wald flogen Pferde mit riesigen Schwingen. Sie glitten in perfekter Harmonie durch die Lüfte, majestätisch und schön wie aus einer anderen Zeit. Ihre Mähnen und Schweife hinterließen ein leuchtendes Band am Himmel, das sich langsam auflöste.
Magie. Alles hier war von Magie durchtränkt.
Ich atmete tief ein und spürte, wie sich die Angst, die mich so lange umklammert hatte, in dieser idyllischen Landschaft auflöste. Ich fühlte mich leichter und sorgenfrei. Erst jetzt fiel mir auf, dass Nicole meine Hand losgelassen hatte.
„Willkommen im Sternenland“, sagte sie und lächelte mich warmherzig an.

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