SdS – Kapitel 10

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Dort, wo Worte versagen, beginnen die Sterne, zu flüstern.
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„Sternenland“, flüsterte ich – und das Wort fühlte sich viel zu schlicht an für das, was sich vor meinen Augen offenbarte. Diese Welt war ein Wunder, gewebt aus Farben, Licht und Fantasie. Mein Verstand konnte nicht verarbeiten, was auf ihn einströmte. Nichts war vertraut, alles fremd und märchenhaft – so überwältigend schön, dass es beinahe wehtat.
„Komm mit“, sagte Nicole, „ich bringe dich zu meinen Schwestern.“
Ohne einander zu berühren, schritten wir voran. Es dauerte etwas, bis ich merkte, dass wir einem kaum sichtbaren Pfad folgten, der sich wie ein feines Band aus schimmernden Sternen durch das wundersame Land wand. Der Boden unter unseren Füßen war samtig weich. Um uns herum rauschte es leise – nicht nur wegen des Windes, der durch die Blätter der Bäume und Büsche fuhr, sondern auch durch die Flügel der Pferde und zahlloser anderer fliegender Tiere. Das Summen der Insekten und das glockenhelle Lachen der kleinen Feen verband sich zu einer magischen Melodie, die ich nicht verstand und doch mit jeder Faser meines Herzens spürte.
In der Luft lag ein Duft, der mich für einen Moment den Atem anhalten ließ. Es war, als hätte jemand das Aroma von Lavendel, frisch geriebenen Pfefferminzblättern und einem Hauch von Vanille gemischt. Der Geruch war belebend und erfrischend. Ich wusste nicht, woher er kam – ob von den Pflanzen ringsum, den umherschwirrenden Wesen oder von der Welt selbst. Ob jeder hier etwas anderes roch? Ich dachte an den Sternenpfad, der mir meine schönste Erinnerung gezeigt hatte. Vielleicht war auch der Duft in diesem Land individuell, je nachdem, was man persönlich am liebsten mochte.
Nicole führte mich zu einem Wasserfall, dessen Wasser kristallklar von einem eisblauen Berg herunterstürzte. Von dem Teich, in den das Wasser sprudelnd hineinfiel, tranken zwei Hirschwesen mit goldenen Hörnern. Sie hatten ein prachtvolles Geweih, das mit blühenden Ranken bewachsen war. Hunderte Lilien in allen Farben des Regenbogens, manche davon riesengroß wie Sonnenblumen, neigten sich uns zu, als wollten sie uns grüßen. Staunend blieb ich stehen. Diese Szene war so friedvoll und erhaben, dass mir ganz warm wurde. Ein sanftes Lächeln huschte über mein Gesicht, und ich fühlte mich so glücklich wie niemals zuvor.
Wie in dem Zimmer unter dem Dach hielt Nicole mir auch hier ihre Hand hin. „Komm, Verena, wir müssen durch den Wasserfall gehen, um zu meinen Schwestern zu gelangen.“
Mit großen Augen sah ich sie an. Es sollte in dieser magischen Welt noch eine geheimnisvollere, magischere Gegend geben? War das überhaupt möglich? Neugier erwachte in mir. Dieses Mal spürte ich keine Angst und keinen Zweifel. Ich legte vertrauensvoll meine Hand in ihre und ließ mich durch den Wasserfall führen. Erst jetzt merkte ich, dass es gar kein Wasser war, was da herunter sprudelte. Es war silbrig schimmerndes Sternenlicht, das mich – wie vorhin der Schleier auf dem Sternenpfad – samtweich und kühl umhüllte. Dann war ich hindurchgeschritten und befand mich tatsächlich in einer ganz anderen Umgebung.
Vor meinen Augen erstreckte sich eine Blumenwiese, die sich bis zur Unendlichkeit auszudehnen schien. Zwischen den grünen Grashalmen wuchsen dunkelblaue Pflanzen mit leuchtenden, runden Blüten, die sich sanft im Wind hin und her bewegten. Der Himmel war mitternachtsblau und übersät mit Millionen Sternen in allen Größen, die blinkten, strahlten und ein magisches Licht verbreiteten. Auf der Wiese lagen, saßen oder tanzten Frauen in wallenden, farbenfrohen Gewändern. Manche waren barfuß, andere trugen Pantoffel aus Blüten oder schimmernden Blättern. In ihren Haaren hatten sie Federn, Gräser und allerlei glitzernde Dinge eingeflochten.
Nicole zog mich mit sich auf eine Gruppe von Frauen zu, die im Kreis saßen. Eine spielte auf einer Harfe, deren Saiten aus glitzernden Fäden bestanden, während eine andere auf einem Instrument mit vielen Glöckchen klingende Töne spielte. Die anderen Frauen sangen mit lieblichen Stimmen ein Lied, das meinen gesamten Körper erfasste und mich fast dazu bewegte, mich im Takt zu wiegen.
Wenn der Mond die Sterne küsst,
und der Tau den Morgen grüßt,
singen wir mit Herz und Mut,
denn das Leben ist so gut.
🌟 La-la-la, wir singen frei,
Sternenstaub ist stets dabei.
🌟 La-la-la, wir tanzen sacht,
wenn die Nacht vor Freude lacht.
Wenn ein Wunsch sich leise webt,
und im Herzen Liebe lebt,
singen wir mit Herz im Chor,
und der Klang schwebt hoch empor.
🌟 La-la-la, wir singen frei,
Sternenstaub ist stets dabei.
🌟 La-la-la, wir tanzen sacht,
wenn die Nacht vor Freude lacht.
Als wir uns der Gruppe näherten, beendeten sie ihr Lied und sprangen auf. Auch die anderen Frauen wurden auf uns aufmerksam und kamen uns entgegen. Sofort begann mein Herz, heftig zu schlagen. Ich wollte nicht im Mittelpunkt stehen. Warum konnten sie nicht einfach mit dem weitermachen, was sie bisher getan hatten? Nicht nur mein Herzschlag beschleunigte sich, auch meine Handinnenflächen wurden feucht. Ich konnte nichts gegen die aufsteigende Panik tun. Dabei hatte ich gedacht, dass ich hier, in dieser zauberhaften Idylle, so etwas niemals fühlen könnte.
„Seid willkommen“, sagte eine Frau mit langen silbernen Haaren, die sie wie eine Krone um ihre Stirn geflochten trug. Ihre Stimme war tief und beruhigend. Tatsächlich ebbte meine Panik ab.
Nicole neigte ehrfürchtig den Kopf. „Schwestern, dies ist Verena. Eine Seele, die viel trägt. Sie hat mich um Hilfe gebeten.“
Die Frauen blickten einander an, dann wandten sie sich lächelnd zu mir. „Willkommen, Verena.“ Eine löste sich aus der großen Gruppe und trat an mich heran. „Verena“, sagte sie mit einer hellen Stimme. Ihre Augen schimmerten in einem silbrigen Blau, und sie verströmte einen sanften Duft von Veilchen. „Wenn du es wünschst, werden wir zu den Sternen sprechen. Wir werden bitten, dass sie dir einen Segen schenken. Aber es ist deine Entscheidung – nichts geschieht hier ohne deinen Willen.“
Noch immer spürte ich Nicoles Hand, die meine fest umschloss. Nein, nicht wirklich, ich umschloss ihre ganz fest. Als mir das bewusst wurde, versuchte ich, locker zu lassen. Aber noch saß die Unsicherheit zu tief in mir. Es waren so viele Frauen auf dieser Wiese, viel zu viele Frauen. Damit hatte ich nicht gerechnet. Eigentlich hatte ich erwartet, dass Nicole mich zu einer kleinen Gruppe von vielleicht fünf oder höchstens sechs Frauen bringen würde. Doch nun stand ich hier, in einer fremden Welt, umringt von fremden Frauen – und sie alle nannten sich Töchter der Sterne.
„Hab keine Angst“, sprach Nicole mir Mut zu. „Was immer du dir wünschst, wir respektieren es. Du kannst auch einfach mit einigen der Schwestern im Gras sitzen und musizieren. Oder du lauschst ihrem Gesang und entspannst. Ganz wie du möchtest.“
Konnte ich das wirklich – einfach so das Angebot des Segens ablehnen? Wieder musste ich an Lisa denken, die im Wartezimmer saß und darauf vertraute, dass ich jede Hilfe annahm, die man mir bot. „Ich … Ich möchte gern …“ Nervös schluckte ich, spürte den ermutigenden Druck von Nicoles Hand und sprach weiter. „Ich möchte gern den Segen erhalten – wenn ich darf.“
„Aber natürlich!“ Ein fröhliches Stimmengewirr erklang, und die Frauen huschten aufgeregt umher, bis sie schließlich einen großen Kreis um mich bildeten. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass Nicole sich von mir gelöst hatte, um sich gemeinsam mit den anderen vielen Frauen in einem Kreis um mich herum zu stellen. Die Frau mit den silbernen Haaren hob ihre Arme, und alle anderen taten es ihr gleich. Stille kehrte ein. Ängstlich verschränkte ich meine Finger und suchte nach Nicole. Als ich sie entdeckte, atmete ich erleichtert auf.
Mit einem Mal begann die Frau mit den silbernen Haaren zu singen. Es klang melodisch, doch konnte ich die Worte nicht verstehen. Es war ein Lied in einer mir fremden Sprache, mit sanften Tönen, die mal hell und mal dunkel klangen. Weitere Frauen stimmten in den Gesang mit ein, immer lauter erklang die Melodie, bis sich alle Stimmen zu einer vereinten und hoch in den Himmel zu den Sternen getragen wurden. Selbst die Blumen wiegten sich im sanften Takt des Liedes und schimmerten heller und lebendiger. Die ganze Lichtung schien zu leuchten und zu vibrieren.
Dann veränderte sich etwas.
Der Himmel über uns begann zu flirren, als hätte sich ein hauchzarter Schleier gelöst. Die Sterne funkelten intensiver. Mit offenem Mund starrte ich hinauf und beobachtete, wie sich sogar die Himmelslichter im Gleichklang zur Musik bewegten. Sie schienen zu leben, drehten sich, wirbelten in fröhlichen Kreisen umher und klirrten leise, wenn sie einander berührten. Sie bewegten sich immer schneller, bis sich von einigen kleine Funken lösten, die auf die Wiese hinunter schwebten.
Meine Augen wurden größer, als ich begriff, dass sie nicht irgendwohin schwebten. Sie strömten alle auf mich zu – wie kleine Schneeflocken, die der Wind herumwirbelte. Ich hob meine Hände, um die Lichtfunken zu fangen. Sie ließen sich auf meine Fingerspitzen nieder, berührten meine Haare, mein Gesicht, meine Schultern, bis sie meinen kompletten Körper eingehüllt hatten in glitzernden, funkelnden Sternenstaub. Das Gefühl, das mich durchdrang, war unbeschreiblich. Es war so viel besser als jedes Weihnachten, als jedes Geschenk, das ich jemals erhalten hatte. Ich vergaß völlig, dass Hunderte von Frauen um mich herumstanden. Ich vergaß, dass ich in einer fremden Welt war, die es gar nicht geben konnte. Nichts war mehr wichtig. In diesem Augenblick zählte nur das warme, vertraute Gefühl, die tiefe, innige Geborgenheit, die mich umhüllte.
Mein Herz wurde leicht. Ein unbegreiflicher Friede senkte sich in mich hinein, so sanft, dass ich zu weinen begann, ohne zu wissen warum. Während die Tränen über meine Wangen strömten, geschah das nächste Wunder. Ein Stern, größer als die anderen, schwebte vom Himmel herunter direkt zu mir. Die Frau mit den silbernen Haaren unterbrach den Gesang und trat auf mich zu. „Verena“, sagte sie mit ihrer tiefen, klangvollen Stimme. „Die Sterne haben deinen Wunsch gespürt. Sie erkennen dich als eine von uns. Sie schenken dir ihren Segen.“
Ich konnte nicht sprechen, also nickte ich nur. Noch immer liefen mir die Tränen die Wangen hinunter. Dennoch hob ich mein Gesicht dem Stern entgegen. Mit seinen Strahlen berührte er meine Stirn und schenkte mir den Segen, von dem die Töchter der Sterne gesprochen hatten. Es war ein sanftes Fließen von klingender Helligkeit bis tief in mich hinein. Es durchdrang mich, erfüllte mich und ließ meine Tränen versiegen. Ich schloss die Augen und genoss das Gefühl der Ruhe in mir.
Als ich meine Augen wieder öffnete, war der Stern verschwunden. Die Frauen hatten aufgehört, zu singen. Sie lächelten mich an, nickten mir freundlich zu, danach verteilten sie sich über die weite Wiese und taten genau das, was ich mir vor wenigen Momenten noch so sehr gewünscht hatte: Sie machten mit dem weiter, was sie die ganze Zeit über getan hatten.
Nicole trat an meine Seite und lächelte ebenso freundlich wie ihre Schwestern. Auch die Frau mit den silbernen Haaren blieb bei mir. „Du darfst jederzeit hierher zurückkehren, Verena“, sagte sie. „So oft du willst.“
„Und wenn wir gleich zurückgehen“, fügte Nicole hinzu, „wirst du das Licht der Sterne in dir tragen. Es wird dich nicht verlassen. Auch wenn du es nicht immer spürst – es ist da.“
Ich nickte und brachte kaum das Wort „Danke“ heraus. Aber ich meinte es wirklich so. Was mir Nicole hier geschenkt hatte, was mir durch die Sterne geschenkt worden war, hatte mich verändert. Hier hatte niemand auf meine Schwächen geschaut und mich verurteilt. Alle hatten mich angenommen, so wie ich war. Die Töchter der Sterne waren wie eine zweite Familie für mich geworden.
„Ich …“, begann ich zögerlich und sah von der Frau mit den silbernen Haaren zu Nicole, „ich bin bereit, heimzukehren.“
Wieder hielt mir Nicole ihre Hand hin. „Dann komm“, sagte sie – und ich legte meine Hand vertrauensvoll in ihre.
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