SdS – Kapitel 15

Statt zu meiner Schwester zu fahren, suchte ich eine Busverbindung zu mir nach Hause heraus. Während der Fahrt hatte ich viel Zeit zum Nachdenken und überlegte mir mögliche Formulierungen für meine Bewerbung. Ich hatte mir fest vorgenommen, die Stelle im Archiv der Zentralbibliothek zu bekommen. Dafür musste sie natürlich perfekt sein.
Ich stellte mir vor, wie ich durch hohe Regalreihen voller Bücher schritt, den Duft von Papier einatmete und Listen abglich, leise, konzentriert, sicher. Ich hatte mal gehört, dass Papier geruchlos wäre, aber das stimmte nicht. Bücher konnten sehr unterschiedlich riechen, mal süßlich, mal leicht aromatisch. Und die alten Bücher verströmten sogar einen Hauch von Vanille. Nur Tageszeitungen, die frisch aus der Druckerpresse kamen, rochen meist chemisch und unangenehm. Zum Glück gab es von ihnen nicht allzu viele Exemplare in der Zentralbibliothek – und ich würde damit wohl auch nichts zu tun haben.
Ich spürte eine freudige Aufregung in meinen Fingern kribbeln, denn ich sehnte mich danach, diese Stelle zu bekommen. Ich versuchte sogar, mir Frau Behrens vorzustellen, wenn ich ihr mitteilte, dass ich erst einmal nicht kommen brauchte, weil ich eine neue Stelle gefunden hätte. Aber das gelang mir nicht. Außerdem würde sie eher verärgert reagieren, weil ich mich überhaupt beworben hatte, statt mich zunächst bei Nicole heilen zu lassen.
Nicole! Ein Ruck ging durch meinen Körper und ich saß kerzengerade, während ich betroffen auf die Haltestellen-Anzeige im Bus starrte. Ich hatte das Formular vergessen. Es waren zu viele Eindrücke gewesen, der sonderbare Segen, die unglaubliche Tier- und Pflanzenwelt im Sternenland und die Hoffnung auf die Archivstelle. Da war kein Platz gewesen für Frau Behrens und ihr Formular. Jetzt war es zu spät, der Bus war bereits fast an seiner Endhaltestelle. Dort musste ich umsteigen und mit einem anderen Bus in meinen Ort fahren. Heute würde ich garantiert nicht zurück zu Nicole fahren!
Meine Finger glitten über die Visitenkarte in meiner Manteltasche, die mir Jana gegeben hatte und auf der die Sprechzeiten standen. Ich zog sie heraus, holte auch mein Handy hervor und trug mir für den nächsten Tag eine Uhrzeit ein. Wenn ich meine Bewerbung zur Post brachte, konnte ich anschließend in den nächsten Bus steigen und zu Nicole fahren. Bestimmt war es erlaubt, zwei Tage hintereinander das Sternenland aufzusuchen. Jana hatte zumindest nichts anderes gesagt.




Als ich nach Hause kam, stellte ich meine Tasche auf das Regal im Eingangsbereich, die Schuhe in das Schuhregal und zog meine bequemen Slipper an, die ich immer in der Wohnung trug. Danach kochte ich mir einen wohltuenden Tee und setzte mich mit meinem Laptop auf meine kleine Couch.
Ich öffnete ein leeres Dokument und tippte die Sätze, die ich mir im Bus überlegt hatte. Doch leider klang nichts so, wie ich es mir bei der Fahrt überlegt hatte. Also löschte ich alles wieder und versuchte es neu. Dabei fielen mir die Verse ein, die Nicole und Jana gesprochen hatten, um den Sternenpfad herbeizuzaubern.
„Sternenpfad, so alt und weit“, murmelte ich, „trag uns sanft durch Raum und Zeit.“ Mein Blick verlor sich irgendwo in der Ferne, während meine Gedanken den Wörtern nachhingen und sie analysierten. Der Sternenpfad hatte mich weder durch Raum noch Zeit getragen. Auch wenn im Sternenland die Zeit anders verstrich als hier auf der Erde, war dennoch ich selbst gegangen. Ich hatte einen Fuß vor den anderen gesetzt.
„Wie kann ein Gedicht einen Zauber bewirken, wenn der Text gar nicht stimmt?“ Ich runzelte die Stirn und nagte an meiner Unterlippe. Es ergab gar keinen Sinn und war schlichtweg unlogisch. Ebenso wenig Sinn ergab der zweite Satz der magischen Formel. Der Pfad war aufgeleuchtet, aber doch nicht, weil ein neues Herz erwacht war. Was genau sollte das überhaupt bedeuten? Was war ein neues Herz?
Ich seufzte, schüttelte den Kopf und blickte wieder auf den Bildschirm. Ich musste aufhören, alles zu genau zu nehmen, alles zu perfekt machen zu wollen. „Ich darf Fehler machen“, sprach ich mir selbst Mut zu. „Die Bewerbung muss nicht perfekt sein, sondern nur authentisch.“
Ich schloss die Augen, atmete tief durch und versuchte, das Wort „authentisch“ zu streichen. Wenn ich authentisch sein wollte, musste ich perfekt sein, denn ich hasste es, Fehler zu machen. Deswegen hatte ich ein mulmiges Gefühl bei Bewerbungsgesprächen und mittlerweile sogar bei der Bewerbung selbst. Wenn ich abgelehnt wurde, musste ich etwas falsch gemacht haben. Wenn ich in der Probezeit nicht übernommen wurde, musste ich auf jeden Fall etwas falsch gemacht haben. Wer gut war, der wurde niemals entlassen.




Fast schon automatisch öffnete ich ein Browserfenster und tippte ein: Mantra, um das Selbstbewusstsein zu stärken.
Es dauerte nicht lang, nicht einmal eine Sekunde, da ploppten mehrere auf. Eines davon sprach mich direkt an, weswegen ich es kopierte und in das leere Dokument einfügte. Ich würde es am Schluss wieder herauslöschen. Aber vielleicht half es mir, etwas zu schreiben, ohne dass ich den Drang verspürte, den Text sofort wieder zu löschen.
„Ich muss nicht perfekt sein, um wertvoll zu sein.“ Ich sprach den Satz mehrere Male laut vor mich hin, bis er sich richtig anfühlte. Anschließend nahm ich einen Schluck von meinem halb warmen Tee und atmete tief durch.
Konzentriert schrieb ich meine Bewerbung, informierte über meine Liebe zu Büchern, über meine Sorgfalt und Geduld, meine stille Begeisterung für Dinge, die andere übersahen – und mehr fiel mir nicht ein. Das musste reichen. Ich las das neue Mantra, bevor ich es löschte, prüfte meinen Text auf etwaige Fehler und speicherte alles ab. Gerade als ich meinen Laptop ausschalten wollte, ging mir durch den Kopf, dass ich die Bewerbung ausdrucken könnte. Wenn ich sie morgen früh auf dem Papier las, fiel mir vielleicht eher etwas auf, was ich noch ändern könnte.
Ich trank den letzten Schluck Tee, stand auf und schaltete den Drucker ein. Als das Blatt mit leisem Surren in die Ausgabeschale glitt, hob ich es vorsichtig auf und legte es auf den Tisch – meine Bewerbung. Schwarz auf Weiß, ein kleiner Schritt in eine hoffentlich bessere Zukunft – mit etwas mehr Glück als bisher.
Es war früher Nachmittag, und mein Magen meldete sich. Ich zog mir die Jacke an, nicht nur, um frische Luft zu schnappen, sondern auch, um ein wenig den Kopf freizubekommen. Vielleicht könnte ich unterwegs etwas für ein spätes Mittagessen kaufen. Oder ich besuchte meine Eltern und erzählte ihnen von der Bewerbung …
Aber während ich die Schuhe anzog, überkamen mich Zweifel. Sollte ich wirklich schon davon erzählen? Was, wenn ich nicht einmal zu einem Gespräch eingeladen wurde? Vielleicht war es besser, zu warten – bis ich mehr wusste. Oder vielleicht sogar, bis ich eine Zusage hatte. Es war sicherlich besser, es ihnen erst später zu erzählen. Sie sollten sich keine falschen Hoffnungen für mich machen – so wie ich auch nicht.




Mein Hunger wurde spürbarer. Eine Pizza und ein Milchshake waren genau das, worauf ich jetzt Lust hatte. Ich nahm meine Tasche, schloss die Tür hinter mir und machte mich auf den Weg ins Dorf. Für ein Restaurant war unser Ort zu klein, und auch eine Pizzeria suchte man hier vergeblich. Aber immerhin gab es noch das kleine Ladengeschäft an der Hauptstraße – für mich ein Segen, denn in einigen benachbarten Dörfern fuhren nur noch Lieferwagen, um die alternde Bevölkerung zu versorgen.
Ich kaufte eine Pizza Salami und ein kaltes Milchgetränk, natürlich Erdbeere, mein Lieblingsgeschmack. Danach schlenderte ich zurück nach Hause. Der Spaziergang war nicht lang gewesen, aber besser, als wenn ich auf der Couch versackt wäre, Chips in der einen, die Fernbedienung in der anderen Hand. Kurz huschte mir durch den Kopf, dass eine Ernährungsberatung sicher eine Pizza genauso schlecht wie Chips einstufte. Beim nächsten Mal würde ich einfach eine Pizza mit Brokkoli kaufen. Ich sollte langsam anfangen, auf mein Gewicht zu achten. Ein paar Pfunde weniger würden nicht schaden.
Während die Pizza Salami im Ofen brutzelte, machte ich es mir auf dem Sofa gemütlich. Kein Film heute – stattdessen las ich weiter in dem Buch auf meinem Handy, das mich seit Tagen begleitete. Und als die Pizza fertig war, hüllte ich mich in eine kuschlige Decke, trank schaumig geschüttelte Erdbeermilch und genoss die leckere, knusprige Pizza.
Als ich die letzte Seite des Buches gelesen hatte, war es draußen längst dunkel geworden. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie schnell die Zeit vergangen war. Ich streckte mich, gähnte und wollte gerade das Licht löschen, als mein Blick noch einmal zur Bewerbung auf dem Tisch wanderte.
Morgen würde ich sie abschicken. Und morgen würde ich noch einmal zu Nicole fahren – und vielleicht sogar wieder das Sternenland besuchen.

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