Kapitel 16

Mein Herz klopfte heftig in meiner Brust. Dennoch war es anders als sonst.
Die letzten Tage hatte ich jeden Nachmittag für mehrere Stunden im Sternenland verbracht. Die mystischen Tiere sahen in mir keine Fremde mehr, die nur kurz zu Besuch vorbeikam. Glitzernde Feen umschwirrten mich zur Begrüßung, und eines der schimmernden Einhörner ließ sich sogar von mir streicheln. Nur die erhabenen Pegasi hielten weiterhin Distanz zu mir.
Auf der Lichtung hatte ich so viel Liebe gespürt, dass ich mehr und mehr daran glaubte, dass ich genug war, so wie ich war. Das passte auch zu meinem neuen Mantra. Ich muss nicht perfekt sein, um wertvoll zu sein.
Doch in diesem Moment konnte ich die Anspannung nicht ganz vertreiben. Zeitgleich verspürte ich Hoffnung und Angst. Hoffnung, weil ich zum Bewerbungsgespräch eingeladen worden war. Angst, weil ich versagen konnte.
„Denk an die Worte von Nicole“, murmelte ich vor mich hin, während ich mich der Zentralbibliothek näherte. Sie hatte mir gesagt, dass ich nichts zu verlieren habe. Meine Arbeitsvermittlerin hatte mich von der Arbeitssuche freigestellt. Ich sollte zunächst Sitzungen mit Nicole haben, ehe weiter entschieden wurde, was ich tun sollte. Das bedeutete, egal wie das Gespräch heute in der Zentralbibliothek ausgehen würde, ich hätte nichts verloren, doch vielleicht etwas gewonnen.
„Ich muss nicht perfekt sein, um wertvoll zu sein.“ Diesen Satz sprach ich etwas lauter, atmete tief ein und schritt fast schon hastig durch die sich automatisch öffnende Glastür. Nur drei Schritte bis zur nächsten Glastür, die ebenfalls automatisch aufging, und schon war ich im klimatisierten Eingangsbereich der Zentralbibliothek.
Ein riesiger Raum mit einer Garderobenecke zur Rechten, einigen Tischen mit Computern, bei denen man Bestände abrufen konnte, mehreren Terminals, um Zahlungen vorzunehmen: Mahngebühr, Anmeldungen, kostenpflichtige Ausleihen. Zur Linken waren Rückgabeautomaten und eine lang gestreckte Servicetheke. Dahinter befanden sich die Treppe nach oben und ein Fahrstuhl für Rollstuhlfahrer, Kinderwagen oder Rollcontainer. Er war komplett aus Glas, was mich immer nervös machte. Wahrscheinlich diente das aber der Sicherheit der Besucher. Gab es irgendein Problem, konnten es die Angestellten direkt erkennen. In der Mitte der großen Halle befanden sich zwei parallel verlaufende Sitzreihen weißer Stühle, die über eine Metallschiene verbunden waren. Nach jeweils zwei Sitzschalen kam eine weiße Platte, die als Ablagefläche dienen konnte.
Alles in diesem Eingangsbereich strahlte in einem sauberen Weiß, der Fliesenboden war grau-weiß meliert, die Wände weiß gestrichen. Ich hatte keine Ahnung, wie es im Archiv aussah, aber wahrscheinlich nicht viel anders als hier oben. So war eine gründliche Reinigung nach jedem Arbeitstag leicht möglich. Nur in den Lesesälen gab es Teppichboden, der die Schritte der Besucher dämpfte. Gerade an regnerischen Tagen war es bestimmt kein Vergnügen, dort zu reinigen.
Mein Gespräch sollte im vierten Stock stattfinden. Ich blickte zur Treppe, danach zum Fahrstuhl. Sicherlich war die Treppe besser, aber ich war körperlich nicht wirklich trainiert. Außerdem würde das Gespräch in einem Büro stattfinden. Wenn ich Glück hatte, waren die Türen dort oben nicht aus Glas. Dann würde es niemandem auffallen, wenn ich den Fahrstuhl nahm.
Ich entschied mich für den Aufzug, immerhin wollte ich nicht schnaufend und keuchend ins Büro stürzen, völlig außer Atem, weil ich untrainiert war. Wenn ich die Stelle bekam, könnte ich hier anfangen, mehr Treppen zu steigen.
Eine ältere Dame und eine Frau mit zwei Kindern fuhren mit mir nach oben. Die Dame stieg im ersten Stock aus, die Frau und die Kinder im zweiten Stock. Dort stiegen zwei Jugendliche zu, die im dritten Stock herauswollten. Bei jedem Halt beschleunigte sich mein Puls noch einmal mehr. Vielleicht hätte ich doch die Treppe nehmen sollen. Der Weg schien endlos zu dauern. Zumindest war mein schlechtes Gewissen erleichtert. Wenn zwei Jugendliche den Aufzug für eine Etage nutzten, durfte ich ihn für vier Etagen auf jeden Fall nehmen.
Irgendwann hatte ich den vierten Stock erreicht. Dies war eine Büro-Etage, wo sich kaum jemand hin verirrte. Ich stieg aus, kramte in meiner Tasche nach dem Einladungsschreiben und las die Zimmernummer: 403. Dann ging ich die Türreihen ab, bis ich die Nummer gefunden hatte. „Besprechungsraum 2“, stand auf dem goldfarbenen Schild unter der Zahl. Ich starrte die weiße Tür an und wusste nicht, was ich machen sollte. Einfach anklopfen? Es gab keine Stühle zum Hinsetzen, dieser Bereich war wirklich nicht für Publikumsverkehr gedacht.
Mit zittrigen Händen hob ich das Einladungsschreiben an und las mir den Text noch einmal durch. „Melden Sie sich bitte unten an der Anmeldung“, las ich halb laut und schloss tief einatmend die Augen. Klar, hier marschierte man nicht einfach so herein. Man meldete sich an und wurde vielleicht sogar abgeholt. Wie peinlich. Ich konnte spüren, wie meine Wangen heiß wurden.
Rasch steckte ich den Brief zurück in meine Tasche und eilte zum Aufzug. Er wartete noch hier oben, so drückte ich hastig auf den Knopf und stieg ein. Als ich unten ausstieg, schluckte ich nervös, blickte unruhig um mich und hoffte, dass niemand an der Servicetheke gesehen hatte, wo ich herkam. Es war mir peinlich, dass ich unangemeldet hochgefahren war.
Ich muss nicht perfekt sein, um wertvoll zu sein. Ich sollte diesen kleinen Fehler nicht überbewerten. Außerdem redete nur ich mir ein, dass es ein Fehler gewesen war. Nicole würde jetzt sicherlich lächelnd erklären, dass man in der Aufregung durchaus etwas vergisst oder überliest.
Ich holte zur Beruhigung tief Luft, ehe ich zur Anmeldung schritt. Ich hatte vier Arbeitsplätze zur Auswahl, zwei Frauen und zwei Männer, die mit ihren Computern beschäftigt zu sein schienen. Hin und wieder riefen sie sich etwas zu. Ich war unschlüssig, an wen ich mich wenden sollte, da winkte mir einer der Männer zu. „Kommen Sie gern zu mir.“ Er trat an den weißen Tresen. „Guten Morgen, wie kann ich Ihnen helfen?“
„Guten Morgen“, antwortete ich, während ich zu ihm ging. „Ich …“ Ich konnte spüren, wie es in meiner Brust eng wurde. Das untrügliche Zeichen, dass ich gleich stottern würde. Um das zu verhindern, griff ich in meine Tasche, holte das Schreiben hervor und reichte es ihm. Dabei atmete ich ein paar Mal tief ein und aus, ehe ich wieder sprach. „Ich habe heute ein Vorstellungsgespräch. Um zehn Uhr.“
Er nahm den Brief, überflog ihn kurz und lächelte mich dann wieder an. „Einen Moment, ich sehe gleich nach.“ Er drehte sich zu seinem Computer, tippte etwas, klickte mit der Maus herum und sagte schließlich: „Ah, ja, hier stehen Sie, Frau Sommer. Ich rufe oben an und gebe Bescheid, dass Sie da sind. Es kann ein paar Minuten dauern, bis Sie abgeholt werden. Möchten Sie sich so lange setzen?“
Ich nickte erleichtert und nahm mein Schreiben zurück. Bisher lief alles ganz gut. Während er telefonierte und mich anmeldete, ging ich zu den Stuhlreihen und setzte mich. Ich nahm meine Tasche auf meinem Schoß und hielt sie fast schon krampfhaft fest, um das Zittern meiner Finger zu unterdrücken. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich eine Frau in einem Strickkleid, die gerade ein Buchpaket abgab. Dann sah ich eine Angestellte mit einem Rollwagen, auf dem sich etliche Bücher befanden, die sie hinter die Servicetheke fuhr. Jetzt erst bemerkte ich, dass in der Wand eine Tür war, die zu weiteren Räumen führte. Minutenlang starrte ich nur auf diese Tür, beobachtete jeden, der dort hinein und hinaus ging.
Plötzlich hörte ich eine Stimme vor mir: „Frau Sommer?“
Ich hob den Kopf und sprang rasch auf. „Ja.“
Eine schlanke Frau mit lockigem rotbraunem Haar und einem freundlichen Lächeln stand vor mir. „Ich bin Frau Peters, die stellvertretende Abteilungsleiterin im Archiv. Schön, dass Sie da sind. Wenn Sie mir bitte folgen?“
Wir gingen zum Fahrstuhl, was mich etwas beruhigte. Ich musste also nicht beweisen, wie sportlich ich war. Im vierten Stock führte Frau Peters mich zu genau der Tür, vor der ich vor Kurzem noch gestanden hatte. Sie öffnete sie und machte eine Handbewegung nach innen. Ich betrat den Raum und war angenehm überrascht. Statt einer klinikweißen Umgebung war es hier schon fast gemütlich. Mehrere Regale aus hellem Holz standen an den Wänden und waren mit Büchern und Ordnern bestückt. Direkt gegenüber der Tür war ein großes Fenster, durch das man auf das Nachbargebäude sehen konnte. Um zwei lang gestreckte Holztische standen acht Bürostühle mit dunkelrotem Polster. An der Fensterseite saßen zwei Personen: ein grauhaariger Mann mit schwarzer Hornbrille und eine Frau mittleren Alters in einem dunkelblauen Kostümkleid. Ihre braunen Haare fielen ihr lose bis auf die Schultern herab. Beide standen auf und lächelten mir zu.
„Guten Morgen, Frau Sommer, wir freuen uns sehr, dass Sie heute da sind“, begann der Mann. „Ich bin Herr Brack, der Leiter des Archivs. Das ist meine Kollegin Frau Mendes, Sie ist für Personaleinstellungen zuständig.“
Ich erwiderte mit klopfendem Herzen das Lächeln und antwortete: „Guten Morgen, danke für die Einladung.“
Nachdem wir uns alle gesetzt hatten, begann das Gespräch. Ich hielt meine Tasche krampfhaft auf dem Schoß umklammert und hoffte, dass niemand es sah. Die Tischkante lag zum Glück höher.
Herr Brack schlug einen hellblauen Aktenordner auf, dann blickte er zu mir hinüber. „Frau Sommer, wir haben Ihre Bewerbung mit großem Interesse gelesen. Vielleicht erzählen Sie uns zu Beginn einfach ein wenig von sich – was Sie an der Stelle im Archiv besonders reizt?“
Ich schluckte, meine Hände verkrampften sich etwas mehr in die Tasche. Ich muss nicht perfekt sein, um wertvoll zu sein. Das Mantra und die Erinnerung an die idyllischen Stunden im Sternenland gaben mir Kraft.
„Ich … arbeite gern im Hintergrund. Strukturen und Ordnung geben mir Sicherheit – und in einem Archiv findet man beides. Ich habe bei meiner Recherche gesehen, dass Ihr Haus nicht nur Literatur archiviert, sondern auch historische Dokumente verwaltet. Das hat mich besonders interessiert.“ Meine Stimme zitterte zwar leicht, doch ich stotterte nicht. „Außerdem liebe ich Bücher“, fügte ich noch hastig hinzu.
Frau Peters lächelte. „Das freut uns. Die Liebe zu Büchern ist bei uns fast Voraussetzung. Erzählen Sie doch: Wie gehen Sie an neue Aufgaben heran?“
Ich überlegte kurz, bevor ich antwortete: „Ich beobachte und höre erst einmal zu, danach erstelle ich mir eine Struktur, wie die Aufgabe effizient bearbeitet werden kann. Dafür mache ich mir Listen oder kleine Pläne.“
Herr Brack nickte anerkennend. „Das klingt, als würden Sie gut in unser Team passen. Die Arbeit im Archiv ist oft still, aber auch sehr genau. Man braucht Konzentration – und manchmal Geduld, gerade bei Digitalisierungsprozessen.“
„Geduld habe ich“, sagte ich rasch. „Und ich glaube, meine ruhige Art könnte hier sogar ein Vorteil sein.“
Frau Mendes stellte mir noch einige organisatorische Fragen, die ich ebenfalls ohne Stottern beantworten konnte. Mein Herzschlag beruhigte sich im Laufe des Gesprächs, bis Herr Brack nach einem kurzen Blickwechsel mit seiner Kollegin sagte: „Von unserer Seite aus wäre alles geklärt, wir würden Sie dann gern zum Archiv bringen, damit Sie den Arbeitsbereich direkt kennenlernen können.“
Mein Puls schnellte in die Höhe. War das ein gutes Zeichen? Oder zeigten sie jedem nach dem Erstgespräch das Archiv?
Gemeinsam mit Herrn Brack und Frau Peters fuhr ich in den Keller hinunter. Dazu brauchte man einen Schlüssel, um die Etage im Fahrstuhl freizuschalten. Hier unten war es kühler und tatsächlich noch steriler als in den oberen Räumlichkeiten.
„Wir haben verschiedene Abteilungen: Restaurierung, Instandsetzung, Archivierung. Gerade bei der Archivierung wird eine gute bis sehr gute Kenntnis von modernen Datenverarbeitungssystemen verlangt“, erklärte Herr Brack.
Ich nickte, bislang hatte ich keine Kenntnisse, aber ich wusste, dass ich sie mir schnell aneignen könnte. Sie führten mich mehrere Gänge entlang und ließen mich in die unterschiedlichen Räume blicken. Zum Schluss betraten wir einen großen Raum, eher schon eine kleine Halle, die voller Metallregale mit Kisten und Büchern war. An einem Tisch saß eine junge Frau vor einem Computer und tippte konzentriert etwas ein. Sie trug einen Hidschab und ein weites Gewand. Als wir den Raum betraten, wandte sie uns den Kopf zu, und ihre dunkelbraunen Augen sahen mich an. Sie hatten ein wunderbar cremiges Braun, wie geschmolzene Schokolade. Ihre Lippen waren voll und dunkelrot geschminkt, was bei ihrer dunkleren Hautfarbe ansprechend wirkte.
„Das ist Yasmin Derya, mit der Sie zusammenarbeiten würden, wenn Sie die Stelle bekommen“, erklärte Frau Peters.
Yasmin Derya – ein klangvoller Name. Er gefiel mir. Ich wusste nicht, was da gerade in mir passierte, aber ich spürte, ein leichtes Kribbeln im Bauch. Mit einem Mal wünschte ich noch inniger, dass ich die Stelle bekam.
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