Zwischenspiel 1a
Müdigkeit machte sich in ihm breit.
Es war so anstrengend gewesen und es tat so weh! Es fühlte sich so sinnlos an! Die ganze Zerstörung dort draußen, alle, die gestorben waren. Alle, die gestorben waren, weil sie in ihrem Leichtsinn die falschen Entscheidungen getroffen hatten. Oder andere.
Wäre der verdammte Arzt gestern Vormittag vorbeigekommen, dann hätten sie die Stadt schon am Mittag verlassen, und hätten den Rest der Familie besucht. Vom Schnee hätten sie erst in den Nachrichten erfahren, wenn überhaupt.
Hätten sich Dimitri und er nicht dafür entschieden, Snacks und Getränke aus dem Automaten im Wartebereich zu holen, hätten sie nicht den Mann getroffen, der von den Bikern zusammengeschlagen worden war.
Hätten sie nichts davon gewusst, dann hätte sich ihr verdammtes Gewissen nicht gemeldet, das ihnen mit säuselnder Stimme einredete, dass sie die Leute im Wartezimmer beschützen müssen. Vor allem aber hätten sie nichts vom Rettungseinsatz am frühen Morgen erfahren. Das war das Schlimmste und der eigentliche Auslöser für alles, was danach folgte.
Wut stieg in ihm auf und brannte in seiner Brust. Nur, auf wen war er eigentlich wütend?
Das Rettungsteam hätte die Gefahr richtig einschätzen und im Krankenhaus bleiben können. Aber das entsprach nicht ihrer Berufung. Sie lebten dafür, andere zu retten. Genauso wie er nicht einfach tatenlos zusehen konnte.
Er hätte Daniel auch nicht folgen müssen, als es zum Zylinder ging. Vielleicht hätten sie es doch im Krankenhaus ausgehalten. Dann wäre seine Mama jetzt nicht verletzt.
Sollte er etwa auf Daniel wütend sein? Oder auf die Wölfe oder alles andere, was hier frei herumlief? Gab es denn niemanden, der hinter all dem steckte, auf den er seinen Zorn fokussieren konnte? Er ballte die Faust, bereit, dem Erstbesten eine zu verpassen, der vor ihm auftauchte. Aber es kam niemand.
Seine Mama war neben ihm eingeschlafen. Vor Erschöpfung und im Glauben, dass ihr an diesem Ort nichts geschehen konnte. Wie er sie so sah, entspannte er sich und öffnete die Faust. Er fühlte sich selbst sicher und geborgen. Die Tür war verschlossen, die Gefahren der Welt ausgesperrt. Jetzt konnte er sich endlich zurücklehnen und musste nicht mehr stark sein. Niemanden mehr beschützen. Zufrieden schloss Sergej seine Augen.
. * .
Er erwachte.
Um ihn herum hörte er Blubbern. Das Geräusch von Sauerstoff, der an die Wasseroberfläche aufstieg. Er war umgeben von einer Flüssigkeit und fühlte sich schwerelos. Eigentlich sollte ihn Panik erfassen, das wäre die richtige Emotion in dieser Situation gewesen. Er blieb ruhig, denn er hatte nicht das Gefühl zu ertrinken. Es war nur so kalt. Eisig kalt. Er hörte ein dumpfes Klopfen, wie auf Glas, dann ein anderes Geräusch. Der gleiche Ton, den der beschlagene Spiegel morgens nach dem Duschen von sich gab, wenn er ihn frei wischte, um sich zu rasieren.
Sergej öffnete die Augen und fand sich umgeben von schimmerndem Blau. Viel mehr konnte er nicht erkennen.
Er hörte Töne. Es hörte sich an wie Worte, aber dumpf und unverständlich und von einem Rauschen durchzogen. Wie, wenn man einen Radiosender auf die richtige Frequenz einstellte und den Sprecher erst nicht verstand oder seine Stimme von einem anderen Programm überlagert wurde. Dann wurden die Töne klar.
„Deine Mutter ist tot!“
Ein Stechen im Inneren und sein Puls stieg an. Panik! Ja, jetzt kam sie doch, die Panik. Wie konnte das sein? Sie saß gerade noch neben ihm.
„Dein Bruder ist tot!“
Sein Gesicht verkrampfte sich zu einer Grimasse. Das wusste er bereits, aber jeder Gedanke daran schmerzte aufs Neue.
„Und du? Du bist so gut wie tot!“
Er fühlte sich schwach. Hilflos. Alleine. Die Stimme hatte recht.
„Es ist ein Gift. Als ihr die Tür geschlossen habt … und ein Infekt, als dich …“ Die Stimme zögerte einen Moment, als ob sie nach den richtigen Worten suchte. „… der Wolf mit seiner Klaue gekratzt hat. Du wirst deinen Arm verlieren und es wird sich weiter ausbreiten.“
Der Schreck traf ihn in der Magengrube, dann trieb er das Blut aus seinem Kopf. Sergej fühlte, wie er benommen wurde. Doch statt nachzugeben, loderte Zorn in ihm auf. Was wurde ihm heute denn noch alles genommen? Reichte das etwa nicht?
„Gut, es ist noch Lebenswillen in dir. Ich kann dich retten.“
Er war wütend, ja! Aber wollte er gerettet werden, wenn er schon so viel verloren hatte? Welchen Sinn hatte das?
„Was bist du?“ Das wollte er fragen, konnte es aber nur denken.
Die Stimme zögerte.
„Ein Engel, Sergej. Ein Engel mit einem Auftrag für dich.“
Seine Familie war zwar religiös, aber sein Glaube war bestenfalls halbherzig. Zu viel Tradition und zu viele Riten. Zu wenig Echtes. Seine Mama hatte daran stets festgehalten. Sie hatte, bis sie die Tür erreichten, gebetet. War das jetzt die Folge davon?
„Deine Lage ist nicht deine Schuld. Andere sind verantwortlich.“
Die Selbstzweifel, die vor seinem Schlaf an ihm genagt hatten, kamen wieder an die Oberfläche. So wie die Luft, die um ihn herum nach oben stieg. Doch das Gewicht der Schuld, das ihn unter Wasser hielt, lastete nicht nur auf ihm.
Er war nicht schuld, dass der Arzt nicht gekommen war!
Es war wohl kaum seine Idee gewesen, dass Leute so blöd waren, mitten in der Nacht auf die Straße zu gehen!
Was konnte er denn dafür, dass sie sich nicht selbst wehren konnten?
„Die Kreaturen, die draußen herumlaufen, gehören nicht dorthin.“, unterbrach die Stimme seinen Gedankengang. „Sie gehören hier hinein. In den … Zylinder, wie ihr ihn nennt.“
„Warum fängst du sie nicht ein? Du bist doch ein Engel!“
„Menschen sind daran schuld, dass sie frei herumlaufen, Menschen müssen sie auch wieder einsperren. Euch Menschen wurde die Aufgabe übertragen, über sie zu herrschen.“
Das kam ihm vage bekannt vor. Kamen jetzt Bibelzitate? Sergej verzog angewidert das Gesicht.
„Es wird jene geben, die sich dir in den Weg stellen. Aber du bist ein Krieger. Und ich werde dir Kraft geben, um die Hindernisse aus dem Weg zu räumen.“
„Wer wird sich mir in den Weg stellen?“
Gab es doch jemanden, auf den er seine Wut richten konnte? Die Wut, die gerade erst als Funke aufgetaucht war, glomm jetzt hell und klar.
„Ein Mann, in Eis gehüllt. Er wird nur der Erste sein. Du hast noch andere Feinde. Jene, die für deine Lage verantwortlich sind.“
Ja, es gab bereits andere. Die Ärztin, Dr. Pfaff. Sie hatte ihn durch den Rettungseinsatz zu den Wölfen geführt. Sie war schuld, dass sein Bruder tot war. Daniel, denn er wollte zum Zylinder. Er war schuld, dass seine Mama tot war.
Der Wunsch nach Rache keimte auf, geschürt von seiner Wut.
„Sei nicht zu voreilig. Du wirst sie brauchen, um deine Aufgabe zu erfüllen.“
„Was kommt danach? Wenn ich es geschafft habe?“
„Dann bist du wieder ein freier Mann. Frei von deinem Zorn und frei von denen, die ihn zu verantworten haben. Die Welt wird sicher sein. Die Menschen auch, die zu beschützen dir so am Herzen liegt.“
Ein freier Mann in einer Welt ohne Familie? Bitter! Aber es musste wohl sein. Wenn er nichts tat, wären sie sinnlos gestorben. Und wer wusste, wie viele andere ihnen folgen würden.
„Wie ist deine Antwort, Sergej?“
War das besser als der Tod? Würde ihm seine Rache am Ende Erfüllung bringen? Würde die Rettung der Stadt auch ihn davor retten, sich in seiner Wut zu verlieren? Es war ein Hoffnungsschimmer. Er konnte diese Welt noch nicht verlassen.
„Ja, ich werde den Auftrag annehmen.“
„So sei es.“
Ein roter Punkt erschien auf seinem Bizeps und bewegte sich, erst langsam, dann immer schneller um den Arm herum. Ein kitzliges Gefühl, bis Sergej den Schmerz spürte und verstand, was da geschah. Der Schmerz steigerte sich ins Unerträgliche und er biss die Zähne zusammen, bis sie knirschten und der Kiefer knackte. Sein Arm löste sich komplett im roten Licht auf und zurück blieb nur roter Nebel, der in der Flüssigkeit rund um den Stumpf seines Arms schwebte.
Er würde verdammt noch mal verbluten! Er würde doch sterben, egal was die Stimme gesagt hatte!
Graue Stangen erschienen aus dem Nichts im Wasser und bewegten sich auf den Armstumpf zu. Grüne Strahlen, die Arm und Stangen trafen. Unter stechenden Schmerzen verbanden sich Stangen und Arm. Die Frequenz, in der die Strahlen aufleuchteten, erhöhte sich. Sie waren so grell, dass er nur noch kurze Schnappschüsse davon sehen konnte, was eigentlich geschah.
Die Stangen veränderten sich. Gewannen an Masse und glichen immer mehr einem richtigen Arm. Beginnend an den Resten seines Oberarms bis hin zu den Schultern wölbte sich die Haut und graue Bahnen traten hervor. Sergej spannte seine Muskeln an und sie zuckten.
Der Schmerz ebbte jetzt ab und einen Moment später war er ganz verschwunden. War das eine Art Prothese? So etwas hatte er noch nie gesehen.
Er drehte seinen Unterarm und bewegte die Finger. Es fühlte sich an, als bewegte er tatsächlich seine eigenen Finger! Er tastete mit der anderen Hand den Arm ab. Er bestand aus einem harten grauen Material, über das sich ein bläulicher Schimmer zog. Selbst diese Berührung konnte er mit seinem neuen Arm spüren.
Er verstand nicht wirklich, was seinen Arm ersetzt hatte, aber das musste er auch nicht. Er hatte einen Auftrag. Alle Werkzeuge, die ihm halfen, ihn zu verwirklichen, würde er nutzen.
Die Flüssigkeit wurde aus seinen Lungen gepumpt, sank und floss zu seinen Füßen ab. Er befand sich in einem Glasbehälter und atmete wieder echte Luft. Mit einem Klacken verschwand ein Teil des Behälters vor ihm in der Luft und er stieg hinaus.


































Hm, die Mutter ist tot? Oder hat der „Engel“ das nur behauptet, damit Sergej die Aufgabe annimmt?
Die Schuld nur bei anderen zu suchen, ist eine blöde Vermeidungstaktik, mein Lieber. Beruhigt vielleicht das eigene Gewissen, aber ist dennoch falsch.