Geschüttelt, nicht gerührt

Wow, das war hundertmal cooler als vor der Playstation. Willy saß angeschnallt im »Cockpit« des seltsamen Saugers. Zwei Joysticks hatte er in den Pfoten. Vor ihm war ein raumgroßes 3D-Display installiert. Es gab ihm das Gefühl, direkt vor Evelyn zu schweben. Sie würde grob in die Richtung schwenken, er müsste zielen und abdrücken. In diesem Moment tauchte der hagere Mann mit der kaputten Brille auf. Sein Körper war wieder einmal auf dem Asphalt zerschellt. Er hatte sich gerade zusammengesetzt.

»Alles klar, Kleiner«, ertönte ihre Stimme blechern aus dem Lautsprecher. »Ich öffne jetzt das Portal. Du zielst und schießt.«

Das Milchige verschwand, und ein rotes Fadenkreuz blitzte auf. Mit vorsichtigen Bewegungen visierte er den Rücken an. Er wollte gerade den Auslöser des Steuerknüppels betätigen. Da drehte sich der Mann um – und sah das offene Portal. Scheiße. Willy drückte ab. Er hatte erwartet, dass ein Energiestrahl herausschießen würde. Das war nicht der Fall. Sein eigener Körper schoss mit irrsinniger Geschwindigkeit vorwärts. Er war die Pistolenkugel. Aber der Dürre war schneller und bog seinen Oberkörper in einer fast komischen Bewegung zur Seite. Willy flog an ihm vorbei und prallte gegen die nächste Zapfsäule. Der schmerzhafte Aufschlag blieb aus. Stattdessen lag er immer noch angeschnallt in seinem Cockpit. What the fuck …?

»Hey, Eve, was zur Hölle war das?«

»Du bist vorbeigeschossen«, kam ihre lapidare Antwort. Sie wandte sich wieder dem Dürren zu.

»Das meinte ich nicht.«

»Ach so, das Gerät feuert eine Projektion deines Astralkörpers ab. Wenn du damit eine der Entitäten in dieser Dimension berührst, sollte der Effekt derselbe sein wie bei dem Texaner vorhin. Nur dass wir seine Essenz direkt einfangen.«

Aha. Mit anderen Worten, sie schoss seine Seele in die Hölle. Falls sie dort einen der Verdammten berührte, löste sich dieser auf. Und sie saugte dessen Energie ein.

»Das hättest du mir vorher sagen können.«

»Hätte das etwas geändert?«

Grummelnd richtete er das Fadenkreuz aus. Währenddessen rannte der Mann schreiend und mit erhobenen Händen auf den Laden zu. Dort trat der andere aus dem Schatten. Der Dämon, wie er vermutete. Er hatte keine Zeit zu verlieren. Also drückte er erneut ab. Wieder schoss er nach vorne. Diesmal traf er. Peitschend und knisternd jagten elektrische Funken über ihn und sein Opfer. An dessen Rücken klebte er. Zum Glück merkte er nichts davon. Einen Augenblick später knallte es, und er war zurück in seinem Cockpit. Ein Glücksgefühl und neue Energie durchströmten ihn. Sie ließen sein Fell prickeln. Wow. Das war besser als Sex. Zumindest besser als Sex mit anderen Ratten. Was nicht viel heißen wollte.

Evelyn schien es ähnlich zu gehen. Plötzlich wurde er hochgeschleudert und sah die Decke. »Ha! Wir haben ihn! Wenn man … oh.«

»Was ist?«, fragte er. Aber sie hatte den Sauger schon wieder heruntergenommen.

Der Kerl im schwarzen Mantel stürmte auf sie zu. Er hob die Hand, sammelte Energie und schleuderte sie direkt auf sie. Ohne nachzudenken, zielte Willy auf die Kugel und schoss ihr entgegen. Sie prallten zusammen. Für einen Moment schien die Zeit still zu stehen. Dann gab es eine weitere Entladung, und er war zurück im Cockpit. Shit. Aber es hatte funktioniert.

Die Irre sagte etwas, das er nicht hörte. Sie visierte den Kerl an. Okay, auf ein Neues. Langsam reichte es ihm. Es wurde anstrengend. Inzwischen war ihm schwindelig vom ständigen Herumballern. Egal. Noch einmal zielte er und drückte ab. Der Dämon war höllisch schnell. Er sprang mit einer lockeren Schulterrolle zur Seite. Willy verpuffte in der Luft. Oh Mann. Allmählich wurde ihm richtig übel. Wenn das so weiterging, würde er gleich auf die Instrumente kotzen.

»Eve, ich …« Aber sie ignorierte ihn. Sie plauderte lieber mit dem Dämon. Die war ja wirklich völlig durchgeknallt. Während er tief Luft holte und versuchte, sich zu sammeln, schrie Evelyn auf. Wie auf einer Achterbahn wurde er herumgewirbelt und in die Gurte gepresst. Er konnte nichts dagegen tun und kotzte seine Frühstücksreste aus. Sie flogen im Cockpit herum. Es folgte ein harter Aufprall. Der presste ihm die Luft aus den Lungen. Sein Kopf knallte schmerzhaft gegen die Konsole. Seine Welt löschte aus.

⌁⋅⌁

Das Klappern einer Tastatur weckte ihn. Sein Schädel hämmerte in einem Rhythmus. Der wollte nicht zu dem ständigen Takka-Ta-Tak-Tak-Ta-Tak passen. Er lag auf einem weichen Kissen, das nach Synthetik roch. Langsam öffnete Willy die Augen und rollte sich auf den Bauch. Vor ihm saß Evelyn. Ihr Gesicht war vom bläulichen Schein ihrer Monitore erhellt. Ihre Finger flogen über die Tasten. Er selbst befand sich in einer Art Mini-Katzenkorb. Vor ihm stand eine Schale. Sie war bis zum Rand mit Sonnenblumenkernen gefüllt. Hm … das letzte Mal war das kein gutes Zeichen gewesen. Aber sein Magen knurrte. Was soll’s. Er nahm einen Kern, knackte ihn mit den Zähnen und schob sich den essbaren Rest in den Mund. Als er beim fünften oder sechsten angekommen war, hielt Evelyn inne und sah ihn an.

»Oh, unsere Schlafmütze ist wach?«

»Machst du Witze?«, antwortete er nuschelnd. »Du hast mir erst ein Schleudertrauma und dann eine Gehirnerschütterung verpasst.«

»Sei nicht so nachtragend, du Miesepeter-Ratte. Dafür habe ich uns das Leben gerettet.«

Er hielt einen Moment inne. »Was meinst du damit?«

»Als die Dimension zusammengebrochen ist, konnte ich im letzten Augenblick das Portal schließen. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn dieses Nichts uns erwischt hätte.«

»Du kannst die Dimension ruhig beim Namen nennen: Sie ist die Hölle.«

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung: »Ach, komm schon. Es könnte genauso gut eine Paralleldimension sein. Die Backrooms, das Spiegeluniversum oder Bielefeld.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich wurde wiedergeboren. Als Ratte. Nur deshalb hat es funktioniert. Das ist bestimmt kein Zufall. Und der Typ im schwarzen Mantel mit den Hörnern? Der hatte übernatürliche Kräfte und schien sich dort zu Hause zu fühlen.«

»Nicht jeder glaubt an Himmel und Hölle, also kann es sie nicht geben. Was ist mit Buddhisten, Hindus, Schamanen, Naturgläubigen und so weiter? Die wären sicher überrascht, wenn sie plötzlich vor einem goldenen Tor von flauschigen Engeln begrüßt würden.«

»Was glaubst du, wie überrascht ich war, als ich im Körper einer Ratte wiedergeboren wurde, hm? Ich war nie gläubig. Ich dachte immer, wenn ich abkratze, dann war’s das. Aus und vorbei. Deshalb habe ich mich auf das Hier und Jetzt konzentriert. Ich wollte mein Leben genießen. Es war mir egal, was andere darüber denken oder ob ich dafür später in die Hölle komme.«

»Das war vielleicht nicht so schlau, aber was soll’s«, wies sie sein Argument zurück. »Fakt ist, dass wir – dank deiner Hilfe – ein Tor in eine andere Dimension geöffnet haben. Himmel, Hölle oder was auch immer. Und dass wir ihr problemlos eine Menge Energie entziehen konnten.«

Über das »problemlos« konnte man sicher streiten. Aber ihn interessierte etwas anderes: »Was genau willst du damit eigentlich erreichen? Im Namen der Wissenschaft und so …«

»Guck mal da drüben.« Sie zeigte auf die andere Seite des Labors. Dort stand an der Wand ein mannshoher Edelstahlzylinder mit einer ovalen Scheibe in der Mitte. Dahinter schwebte eine rote Kugel wie ein winziger Stern. »Was alle wollen: das Energieproblem unserer Zeit zu lösen. Diese andere Dimension strotzt nur so vor Energie. Die Entität des Menschen …«

»… seine Seele …«, unterbrach Willy sie.

»… diese Entität«, fuhr sie unbeirrt fort, »und die Kugel, die Vincent …«

»… Vincent? Du kennst ihn?«

»Ja. Nein. Jedenfalls die, die dieser umwerfend gut aussehende, gehörnte Kerl auf uns geworfen hat, die hatte es in sich. Das waren locker vier Megawattstunden.« Sie drehte sich zu ihm um und schaute ihn mit einem Lächeln an. Als würde sie jetzt Applaus erwarten.

»Aha.«

»Damit kann man einen Durchschnittshaushalt ein Jahr lang mit Strom versorgen.«

Meinte sie das ernst? So etwas Banales? »Und dafür habe ich meine Seele durch die Gegend schießen lassen? Ich dachte, du wolltest die Weltherrschaft an dich reißen oder so.«

»Du bist also Pinky und ich bin der Brain?« Sie lachte. »Ja, das ist gut. Denn sobald ich diese andere Dimension als unendliche Energiequelle erschlossen habe … was meinst du, wer dann auf der Welt das Sagen hat, hm?«

Die Aussicht, als dauernder Blitzableiter zu dienen, behagte ihm gar nicht. Nur damit irgendeine Familie kostenlos ihre Wäsche waschen konnte. »Du weißt, dass ich das nicht lange durchhalte, oder? Die drei Schüsse waren ganz schön heftig.«

»Du wirst dich daran gewöhnen. Aber mach dir keine Sorgen, ich habe Größeres vor. Dafür brauchen wir ständigen Zugang und Zugriff auf die Billionen von Entitäten, die da draußen vor sich hinvegetieren.«

»Du weißt, dass das menschliche Seelen sind, oder?«

»Sei nicht albern. Und wenn schon. Du hast selbst gesagt, dass es die Hölle ist. Dann können diese armen Seelen doch froh sein, wenn wir sie erlösen, oder? Wir tun ihnen etwas Gutes, wenn wir sie einer neuen Bestimmung zuführen.«

»Du meinst, als Strom für eine Waschmaschine?«

»Zum Beispiel.«

Das entbehrte nicht einer gewissen Logik. Und doch blieb das störende Gefühl, dass ihr Plan alles andere als ausgereift war. Nicht nur, weil seine Seele direkt involviert sein würde. Sondern auch, weil die Herrscher vor Ort, wie dieser Vincent, mit Sicherheit nicht einverstanden sein würden. Sie sah ihn an und schien auf eine Antwort zu warten.

»Gut«, lenkte er ein, »und was habe ich davon?«

»Ich würde vorschlagen, dass wir ein paar dieser Entitäten für dich abzweigen. Mit einer von ihnen hast du das Sprechen gelernt. Wer weiß, vielleicht verwandelst du dich wieder in einen Menschen, wenn du dir mehr von ihnen einverleibst.«

Einverleiben. Das klang, als wäre er ein Seelenfresser und keine harmlose Laborratte. Aber diese Logik und die Aussicht, menschlich zu werden, gefielen ihm. Was mit den anderen Bewohnern dort geschah, interessierte ihn nicht besonders. Und wie Evelyn so schön gesagt hatte: Im Grunde taten sie ihnen einen Gefallen. Sie erlösten sie von ihren Qualen. Quasi eine Win-Win-Situation.

»Einverstanden. Ich bin dabei. Was machen wir jetzt?«

»Wir suchen Vincent und versuchen, ihn zu überreden, uns zu helfen.«

Er schluckte. »Wenn du ›wir‹ sagst …«

»… meine ich dich. Ganz genau. Du mischst dich unter die … äh … Leute und redest mit ihm. Wie eine Art Spion. Natürlich helfe ich dabei, das Portal zu steuern, um ihn zu finden.«