Kapitel 17

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In den verborgensten Winkeln unserer Angst wächst oft der Samen der größten Wunder.

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Ich saß im weichen Gras des Sternenlandes und genoss den silbrig-kühlen Duft von Minze und Jasmin, der von den blauen Blüten verströmt wurde, die hier überall wuchsen und mit ihrem sanften Leuchten die Wiese in ein diffuses Licht tauchten. Auch wenn wir über die Wiese schritten, manche Frauen fröhlich tanzten, brach nie eine Pflanze ab, knickten keine Grashalme um. Das war eines der vielen Wunder in diesem Land, die ich wohl nie verstehen konnte.

Ich war mir sehr sicher, dass es noch viel mehr zu entdecken gab, als nur den kleinen Wald, an dem der Sternenpfad vorbeiführte, die Wasserfalllichtung und diese unendlich weite Wiese. Die Einhörner, Feen und Pegasi konnten nicht alles sein, was hier an mystischen Kreaturen lebte. Bestimmt war es nur ein kleines Gebiet, das ich sehen konnte.

„Weißt du, Verena“, sprach Nicole mit leiser Stimme, als sie sich neben mir niederließ, „diese magische Welt hat es nicht immer gegeben.“ Ich sah sie an und schüttelte verwirrt den Kopf. Wieder einmal überkam mich das Gefühl, dass sie meine Gedanken lesen konnte. „Vor langer Zeit lebten die mystischen Wesen wie wir auf der Erde. Hexen, Zauberer, Zwerge, Elfen – sie alle lebten friedvoll zusammen.“

Meine Augen weiteten sich. „Du meinst …?“ Ich konnte es nicht aussprechen, es war unmöglich.

„Ja, Verena, ich meine.“ Nicole lächelte mich an. „Die Sterne“, sie zeigte nach oben, wo es am dunkelblauen Himmel funkelte und strahlte, „leuchten hier und auch auf unserer Erde. Sie wachen über uns. Und sie haben erkannt, dass die Menschen gnadenlos sein können. Darum haben sie dieses Sternenland erschaffen.“

„Aber ich habe nie Zwerge oder Elfen gesehen. Hier sind doch nur Frauen.“ Ich war verwirrt. Zwar hatte ich mit anderen magischen Tieren gerechnet, aber doch nicht mit menschenähnlichen Wesen!

„Das Sternenland ist so groß, wie es deine Fantasie zulässt. Man braucht mehr als ein Leben, wenn man alles entdecken will, was die Sterne hier schützen.“

Ich sah hinauf zu den Sternen, dann über die Wiese, auf der Hunderte von Frauen tanzten, sangen oder nur träumend beisammen saßen. Als ich Nicole in die Augen blickte, sah ich in ihnen den glitzernden Schimmer der Sterne.



„Ich verstehe“, murmelte ich. „Ich habe keine Fantasie – oder nur sehr wenig. Da sind nur kleine Reste aus meiner Kindheit, von Serien, die ich gesehen habe. Und deshalb sehe ich auch nur so wenig.“

Nicole streckte ihre Hand aus, um mich zu berühren, zog sie dann jedoch wieder zurück. „Das ist nicht schlimm. Die Sterne haben dich gesegnet, sie haben dich als eine von uns erkannt, eine Schwester, die an das Gute glaubt und unschuldig ist.“

„Ich wünschte, meine Schwester hätte mich früher zu dir gebracht.“ Ich seufzte leise. „Hier ist es wundervoll, so harmonisch und beruhigend. Es tut mir gut und gibt mir Selbstvertrauen.“ Ein Lächeln huschte über mein Gesicht.

„Du lächelst.“ Nicoles Stimme klang warm, mit einem Hauch Neugierde.

„Ich hatte dir doch erzählt, dass ich mich für die Stelle im Archiv der Zentralbibliothek beworben habe.“ Nicole nickte. „Weißt du, vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber da habe ich eine Frau gesehen …“ Ich zögerte, es auszusprechen. Es war fast so unwirklich wie der Glaube an Zwerge und Elfen, Gnome und Trolle. „Sie … Sie hat etwas in mir berührt. Ihre Augen sind wie cremige Schokolade, sanft und unglaublich empfindsam.“ Ich spürte, wie mir die Hitze in die Wangen schoss. Das klang sicher dumm. Augen wie cremige Schokolade. Wie war mir nur so etwas Unsinniges eingefallen?

„Das ist schön“, sagte Nicole. „Die Sterne haben deinen Blick geweitet und deine Emotionen für das Besondere in jedem Wesen geöffnet.“

„Nein“, entgegnete ich, „so meine ich das nicht. Ich meine … also …“ Ich brach ab. Ich konnte niemanden erzählen, dass ich ein Kribbeln verspürt hatte. Es waren doch nur Sekunden gewesen, die ich Yasmin gesehen hatte. Wie konnte in so einer kurzen Zeit irgendein Gefühl geweckt werden?

„Ich habe die Stelle bekommen“, sagte ich hastig, um mich von meinen Gedanken abzulenken. „Nächste Woche, am Monatsanfang, da fange ich an.“

„Das ist wundervoll!“ Nicole klang ehrlich begeistert. „Möchtest du das mit den anderen Schwestern teilen?“

Ich dachte an Amara, die mich schon so oft zum Sternenschleier begleitet hatte, damit ich in meine Welt zurückgelangen konnte. Und auch Silvia, die Älteste dieser Gemeinschaft, würde es bestimmt gern erfahren.



„Ja“, sagte ich, „das möchte ich.“

„Dann komm.“ Nicole stand auf und hielt mir ihre Hand hin. Ich ergriff sie und ließ mir aufhelfen. Gemeinsam schritten wir zu einer kleinen Gruppe. Mein Herz klopfte schneller. Noch immer war es eine Herausforderung für mich, auf mehrere Menschen zu treffen, die ich nicht oder kaum kannte. Aber hier fühlte ich mich wie zu Hause, alle waren freundlich, und niemand forderte etwas. Wir waren alle Schwestern, irgendwie.

„Kommt zu uns“, rief Amara und hielt mir ihre Hand hin. „Myriel hat gerade erzählt, dass sie bei der Geburt eines Einhornfohlens dabei gewesen ist.“ Ihre Augen strahlten, und als ich zu Myriel blickte, strahlte auch sie. Es musste etwas ganz Besonderes sein, solch einen Moment miterleben zu dürfen.

„Das ist ganz wundervoll“, sagte Nicole. „Und nun hört, was uns Verena Schönes zu erzählen hat.“

Automatisch verschränkte ich meine Finger. Viel lieber hätte ich mich hingesetzt und Myriel zugehört. Ihre Geschichte klang viel aufregender als meine. Doch nun waren alle Blicke auf mich gerichtet, und niemand vermittelte mir das Gefühl, ich sei nicht so wichtig.

„Ich habe eine Stelle im Archiv der Zentralbibliothek bekommen.“ Ich sah niemanden wirklich an. Mein Blick verlor sich in der Ferne, fixierte eine der blauen Blumen. Und dann fügte ich hastig hinzu, damit meine Information etwas wertvoller wirkte: „Und ich habe dort eine Frau kennengelernt.“

Ein fröhliches Raunen ging durch die Runde. „Oh wie schön“, sagte Rose, „davon hast du doch geträumt: eine ruhige Arbeit im Archiv.“

„Und dann hast du dort sogar jemanden kennengelernt.“ Amara klatschte aufgeregt in die Hände. „Wie heißt sie denn?“ Tabea ergänzte mit ebenso begeisterter Stimme: „Vielleicht kannst du sie einmal mit hierherbringen.“

„Sie heißt Yasmin Derya“, antwortete ich und lächelte unsicher. „Wir werden zusammenarbeiten. Ich weiß kaum etwas über sie – nur dass sie wunderschöne Augen hat. So ein tiefes, warmes Braun, wie … wie flüssige Schokolade.“ Verlegen blickte ich Amara an, ehe ich meinen Blick senkte und einen Grashalm anstarrte. „Und sie hat … so ruhig und freundlich geschaut. Ich weiß nicht, aber … aber ich hab mich gefreut, dass sie da war. Und dass sie … dass sie zu mir geschaut hat.“



Amara lächelte wissend. „Manchmal erkennt das Herz etwas, lange bevor der Kopf es versteht.“

„Vielleicht spürt die Seele etwas, das noch kommen will“, murmelte Myriel, die ganz in sich versunken wirkte. „Dort, wo die Angst in uns dem Sternenlicht weicht, entstehen oft die größten Wunder.“

Ich schluckte, weil mich ihre Worte tief berührten. War es ein Wunder, dass ich dieses Kribbeln im Bauch verspürte, wenn ich an Yasmin dachte? Ich hob meine Augen zu den Sternen empor, die glitzernd und funkelnd über mir waren. Ein wohliger Schauer glitt über meinen Körper.

„Ich glaube“, sagte ich nach einem Moment der andächtigen Stille, „ich habe mich noch nie so auf eine Arbeit gefreut. Ich meine, nicht nur auf die Arbeit. Sondern … weil da jemand ist, den ich gern wiedersehen möchte.“

Die Frauen lachten leise, und Silvia, die bei meinen letzten Worten hinzugetreten war, fragte: „Ah, hat da eine unserer Schwestern das berühmte Sternenflattern im Bauch?“

Ich errötete bei den Worten. Sternenflattern. Ja, vielleicht war es das wirklich.

„Kommt, lasst uns gemeinsam ein Dankeslied zu den Sternen singen“, schlug Nicole vor, und wir stimmten alle zu. Sogar ich konnte mitsingen, denn viele Lieder hatten sich mir im Laufe der letzten Besuche eingeprägt. Aber mein Herz und meine Gedanken waren bei den wunderschönsten braunen Augen, die ich je gesehen hatte.

Als unsere Stimmen verklangen, blieb ein silbriger Nachhall in der Luft zurück – zart wie der glitzernde Sternenstaub. Ich schloss die Augen, und wie von selbst tauchte das sanfte Gesicht von Yasmin vor mir auf. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass mein Leben eine Wendung genommen hatte, dass es in eine Richtung strebte, die ich noch nicht kannte. Der kurze Blick von ihr hatte etwas in mir verändert.

Aber fühlte sie dasselbe?

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