Kapitel 20

In den folgenden Wochen kamen Yasmin und ich uns näher. Wir sprachen nicht nur über Archivierungsprozesse, sondern auch über unsere Lieblingsromane. Yasmin mochte starke Heldinnen, die gegen alle Erwartungen ihren Weg gingen, während ich eher die hübschen Prinzessinnen mochte, die sich von einem Helden retten ließen.
„Und dein Lieblingsduft?“, fragte sie eines Nachmittags, als wir alte Ausleihkarten sortierten.
Ich zögerte. Gab es einen Duft, den ich besonders mochte? Eigentlich fiel mir keiner ein. Aber meine Mutter hatte immer Lavendelbündel in unsere Schränke gegen Motten gehängt. Vielleicht zählte das auch. „Lavendel. Frischer Lavendel und Zitronenmelisse. Ich mag es, bei der Zitronenmelisse an den Blättern zu reiben, das duftet so frisch.“
Yasmin nickte verstehend. „Marokkanische Minze“, sagte sie leise. „Meine Mutter hat damit immer Tee gekocht, wenn ich krank war. Der Geruch fühlt sich wie ein Versprechen an, dass alles wieder gut wird.“
Dieses Mal nickte ich verstehend. Meine Mutter hatte mir dann meistens Kamillentee gekocht, manchmal Fencheltee oder auch Pfefferminztee. Es kam auf die Krankheit an. Deshalb mochte ich Kräutertees, weil ich wusste, sie konnten fast alles heilen. Auch seelischen Kummer. Doch den hatte ich zum Glück nicht mehr. Ich schwebte schon fast vor Freude, so schön war jedes Beisammensein mit Yasmin. Ihr nah zu sein, machte mich glücklich. Und an sie zu denken, ließ mein Herz schneller schlagen.
Einmal kam sie keuchend zur Arbeit, die Hand unter dem Bauch. „Der Bus war heute brechend voll“, sagte sie, als ich ihr besorgt ein Glas Wasser brachte. „Und natürlich ist keiner aufgestanden.“
Ich sah sie verständnislos an. „Normalerweise verlangen die Busfahrer, dass jüngere Leute für Ältere oder Schwangere aufstehen. So kenne ich das zumindest.“
„Ach was“, tat Yasmin mit einem Schulterzucken ab und trank ein paar Schlucke. „Ich bin ja nicht aus Zucker. Mir geht es gut.“
„Du hättest mir schreiben können. Ich wäre dir entgegengekommen.“
„Verena, du kannst nicht die ganze Welt für mich tragen.“ Sie lachte. Dann hielt sie ihren kleinen Rucksack hoch. „Und den habe ich auch allein bis hierher geschafft.“
Ich seufzte. Es war wirklich schwer, Yasmin zu helfen. Sie meinte immer, dass sie alles allein bewältigen konnte. Vielleicht stimmte das auch. Dabei würde ich ihr so gern helfen und für sie da sein. Für sie würde ich sogar die Sterne vom Himmel holen.
Seit ich von ihrer Schwangerschaft wusste, beobachtete ich sie genauer, mir fiel deutlich auf, dass ihr Bauch wuchs. Nicht einmal ihr weites Gewand konnte ihn noch verdecken. Ihr Gang wurde langsamer, und sie streckte sich häufiger und griff sich an den Rücken, wenn sie glaubte, niemand beobachtete sie.
Einmal, als sie eine Bücherkiste hob und ich ihr zu Hilfe eilte, wehrte sie mich lachend ab. „Ich darf noch arbeiten, so schwer ist sie nicht.“ Ihre braunen Augen strahlten eine Wärme aus, dass ich ihr gern noch viel mehr abgenommen hätte als nur eine Bücherkiste. „Ich werde dich rufen, wenn es wirklich schwer wird, Verena“, sagte sie mit einem sanften Lächeln.
„Wirklich?“
„Ja, wirklich.“
Es war schön, ihre voranschreitende Schwangerschaft mitzuerleben. Immer mal wieder durfte ich meine Hand auf ihren Bauch legen und das Kind fühlen, wie es sich bewegte. Sie brachte mir ein paar ruhige Lieder bei, die sie für ihr Kind summte, und bald sangen und summten wir gemeinsam.
Und dann machte sie mir ein unglaubliches Geschenk. Wir zwei waren ganz allein unten im Archiv. Sie schloss die Tür und machte ein geheimnisvolles Gesicht. Dann hob sie ihr Gewand. Sie trug darunter eine Sporthose und einen Pulli. Wie selbstverständlich zog sie den Pulli nach oben, sodass ich ihren nackten Bauch sehen konnte. Ungläubig blickte ich auf ihre braune Haut, mit halb geöffnetem Mund starrte ich den runden Bauch an.
„Komm, gib mir deine Hand, schnell, es tritt gerade.“
Das brauchte sie mir nicht zu sagen. Ich konnte es sehen. Ich konnte überaus deutlich die Wölbung in der Bauchdecke sehen, während Yasmin zeitgleich stöhnte.
„Tut es weh?“
„Ein bisschen.“ Sie griff nach meiner Hand und legte sie auf ihren Bauch. Es durchfuhr mich wie ein heißer Strahl. Ich konnte die Wärme spüren, fühlte fast hautnah den Tritt ihres Kindes. Es war ein Wunder! Unbewusst legte ich auch meine zweite Hand auf den kugeligen Bauch, kam ganz nah und summte eines der erlernten Lieder. Dann begann ich, mit leiser Stimme zu singen. Ich konnte irgendwie spüren, dass das Baby ruhiger wurde. Ich hob meinen Kopf und sah, dass Yasmin Tränen in den Augen hatte. Erschrocken wollte ich zurückweichen. Ich wollte doch nicht, dass sie traurig war!
Doch sie presste ihre Hände auf meine und flüsterte: „Mach weiter, es ist so schön.“
Und da begriff ich, sie weinte nicht vor Traurigkeit, sondern vor Glück. Und so sangen wir beide ihr Ungeborenes in den Schlaf, und ich hatte fast das Gefühl, dass es nun auch mein Baby war.
Jede Woche, die verging, war ein unglaubliches Erlebnis für mich. Ich genoss die Zusammenarbeit mit Yasmin.
Einmal kam sie freudestrahlend auf mich zu. „Ich habe eine wundervolle Neuigkeit.“ Ihre Worte ließen mein Herz höherschlagen. Bestimmt hatte es etwas mit dem Baby zu tun. Neugierig und aufgeregt blickte ich sie an. „Morgen habe ich wieder Termin bei der Frauenärztin.“ Ihre Augen waren groß und erwartungsvoll auf mich gerichtet. Aber ich sagte kein Wort, ich wartete ab, was sie noch mitzuteilen hatte. „Da wird wieder ein Ultraschall gemacht. Und dieses Mal, so hat die Ärztin gesagt, werden wir ganz sicher das Geschlecht des Babys erfahren.“
„Oh, Yasmin, das ist wundervoll“, sagte ich spontan und legte meine Hand auf ihren Unterarm. Ein leichtes Kribbeln zog von meinen Fingerspitzen bis zu meinem Herzen.
„Ja, Ahmed will es unbedingt wissen. Er hat schon zugesichert, direkt das erste Bild seines Sohnes allen Verwandten zu schicken. Deshalb wird er mich auch begleiten. Sonst waren immer nur seine Mutter und seine Schwester bei der Untersuchung dabei.“
Eisige Kälte durchströmte mich bei ihren Worten, und ich zog meine Hand zurück. „Das erste Bild seines Sohnes?“, hauchte ich verwirrt, mit leichter Sorge in der Stimme. „Und wenn es ein Mädchen ist?“
„Das kann nicht sein“, meinte Yasmin und schüttelte nachdrücklich den Kopf. „Das Kleine tritt so heftig, es kann nur ein Junge sein. Es muss ein Junge sein!“ Sie wandte sich abrupt ab. „Komm, lass uns weiterarbeiten. Wir haben noch einige Bücherkisten vor uns.“
Ich nickte, doch die Beklemmung hielt mich umfangen. Wieso nur war es Ahmed und Yasmin so wichtig, dass das Baby männlich war? Ich hatte recherchiert und herausgefunden, dass die Ärzte das Geschlecht des Babys vor der vierzehnten Schwangerschaftswoche nicht mitteilen durften, um eine Abtreibung aufgrund des Geschlechtes zu verhindern. Hätten Yasmin und Ahmed abgetrieben, wenn ihnen die Frauenärztin gesagt hätte, dass es ein Mädchen ist? Schon der Gedanke stimmte mich traurig.
Dann wurde mir noch eines bewusst. Sie hatte „sein Sohn“ gesagt, nicht „unser Sohn“. Hatte das auch etwas zu bedeuten? Ich konnte meine Gefühle nicht wirklich benennen, aber es fühlte sich nicht schön an. Wenn ich „unser Baby“ gedacht hatte, war da nie Ahmed in meinen Gedanken gewesen, immer nur Yasmin und ich. Und nun sagte sie einfach so „sein Sohn“.
Yasmin spürte, dass ich traurig und geistesabwesend war. Um die Stimmung etwas aufzulockern, stieß sie mich spielerisch an und meinte: „Lass uns nachher in der Mittagspause ins Café Magnolia gehen. Ich hätte Lust auf einen heißen Tee und Marzipantorte. Was meinst du?“
Eigentlich war mir nicht nach Torte. Aber mit Yasmin ins Café zu gehen, wollte ich auf gar keinen Fall verpassen. Auch wenn sie mich nur als Kollegin betrachtete, war sie für mich längst sehr viel mehr geworden. Was für sie eine nette Mittagspause wäre, war für mich ein erstes Date. Mein Herz schlug schneller bei diesem Gedanken. Ein Date. Mit Yasmin.
Ich konnte es nicht länger leugnen, mein Körper war in ihrer Nähe wie elektrisiert. Ich fühlte mich bei ihr überaus glücklich, und jede Unstimmigkeit machte mich traurig. Ich hatte nicht nur Sternenflattern – ich war bis über beide Ohren in sie verliebt, auch wenn ich es nicht so zeigen konnte.
„Gern. Also, ich gehe gern mit dir ins Café.“ Meine Stimme klang fast schon atemlos und leicht schrill. Ich räusperte mich, lächelte verlegen und wandte mich rasch meiner eigenen Bücherkiste zu. Yasmin tat so, als hätte sie nichts bemerkt. Vielleicht hatte sie es auch nicht.
Was auch immer in mir passierte, sie hatte einen Mann und war nach den Regeln ihres Landes mit ihm verheiratet. Bald würde sie die Mutter seines Kindes sein. Ich aber war für sie nur eine Kollegin.
Oder sah sie vielleicht doch mehr in mir?
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