Kapitel 2

2

Amsterdam, Juni 1998

 

»Kinder, jetzt setzt euch mal. Wir fahren gleich über die Grenze.« Herr Wenger klatschte laut in die Hände.

Rick grinste. Sie waren im Schnitt alle um die achtzehn Jahre und sicher keine Kinder mehr. Aber auf einer Studienfahrt musste man sich das wohl gefallen lassen.

Während seine Kameraden ihre Plätze im Bus aufsuchten, hatte er noch dringend mit Daniel und Markus die Zimmerverteilung zu besprechen.

»Hendrik, das gilt auch für Sie. Setzten Sie sich bitte.«

»Genau, Heintje, hock dich hin«, kam es hämisch aus dem hinteren Teil des Busses.

Rick zerbiss einen Fluch zwischen den Zähnen und schlurfte zu seinem Sitz. Warum um alles in der Welt hatte er der halben Klasse verraten müssen, dass seine Mutter für Heintje geschwärmt und ihm deshalb dessen Geburtsnamen verpasst hatte?

Als er sich neben seinen Freund Joe fallen ließ, bedachte dieser ihn mit einem amüsierten Grinsen. »Ärger dich nicht«, sagte er leise. »Lohnt sich nicht.«

Rick gluckste. Joe musste es wissen. Mit einem Namen wie Franz-Josef war er noch deutlich mehr gestraft. Schon im Kindergarten hatte sein bester Kumpel seinen Rufnamen gehasst und war über Franjo und Jo zu Joe gekommen. Nach Möglichkeit verriet er niemandem, wie er wirklich hieß, aber in der Schule ließ sich das leider nicht umgehen.

Vom Grenzübertritt bekamen sie fast nichts mit. Nur ein Schild verkündete ihnen, dass sie sich jetzt in den Niederlanden befanden. Und natürlich die Ansage von Frau Suhrbier, der zweiten Lehrkraft auf der Fahrt. Rick streckte sich. Sie waren seit dem frühen Morgen unterwegs und hatten immer noch etwa hundert Kilometer vor sich.

Er blinzelte, als Herr Wenger im Mittelgang auftauchte. Er war eigentlich ihr Englischlehrer, hatte es sich aber nicht nehmen lassen, im Vorfeld der Abschlussfahrt mit seiner Klasse einige grundlegende holländische Vokabeln zu pauken.

»Wollen wir mal rekapitulieren. Wer weiß noch, was Danke in den Niederlanden heißt?«

Betretenes Schweigen folgte. Mit Englisch und Deutsch kam man in Holland gut durch, warum sollte sich jemand die Mühe machen, für die paar Tage Niederländisch zu lernen?

Schließlich hob Sonja die Hand. »Es heißt ›Dank U‹, wenn man die Person siezt und ›Dankje‹, wenn man sie duzt.«



»Streberin«, murmelte Joe.

»Sonja hat wenigstens zugehört. Wie sieht das bei Ihnen aus, Franz-Josef? Können Sie auf Niederländisch ›Bitte‹ sagen?«

»Er kann es ja nicht mal auf Deutsch«, kicherte Daniel und erntete großes Gelächter.

Joe warf Rick einen Hilfe suchenden Blick zu, doch der zuckte nur ratlos mit den Schultern. Es war irgendetwas Kompliziertes, weil er sich gedacht hatte, dass Worte wie Bitte und Danke, die man ständig brauchte, simpel sein sollten, ohne auszudrücken, wie man zu seinem Gegenüber stand.

Joe schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Herr Wenger, es ist mir dummerweise entfallen.«

»Entfallen, soso.« Der leicht untersetzte Mann bemühte sich sichtlich, ein Schmunzeln zu unterdrücken. »Sonja, können Sie Franz-Josef auf die Sprünge helfen?«

»Die Wörter für Bitte sind ›Alstublieft‹, wenn man per Sie ist, und ›Alsjeblieft‹ beim Duzen.«

»Stimmt. Wobei die Niederländer nicht so formell sind. Da wird deutlich schneller geduzt als bei uns. Ist man sich nicht sicher, passt für Danke auch ein einfaches ›bedankt‹. Für Bitte gibt es aber leider keine Alternative. Ein Wort, das ihr ebenfalls wissen solltet, ist ›sorry‹. Ich muss hoffentlich nicht erklären, was das heißt. Jetzt erzähle ich euch noch ein wenig über die Lautschrift, damit ihr wenigstens ein bisschen lesen könnt.«

»Was hilft uns das, wenn wir nicht wissen, was es bedeutet?«, warf Joe ein.

»Kennt man die Aussprache, kann man sich vieles herleiten. So schwierig ist Niederländisch nicht. Und bei Straßenschildern oder auch einer einfachen Speisekarte sind ein paar Kenntnisse durchaus hilfreich. Also, manche niederländische Buchstaben unterscheiden sich in der Aussprache von unseren, so wird zum Beispiel ›g‹ als ›ch‹ gesprochen und ›u‹ als ›ü‹.«

»Gibt es dann überhaupt kein u?«, wollte Sonja wissen.

»Doch, das ist aber die Kombination ›oe‹.«

»Was bei uns ›ö‹ wäre«, murmelte Joe. »Super.«

»›Sch‹ wird getrennt ausgesprochen«, fuhr Herr Wenger fort. »Als ›s-ch‹. Dann gibt es noch ›ou‹, das ›au‹ gesprochen wird und, ganz wichtig, ›ij‹ ist ›ei‹. Wenn man all das weiß, ist es gar nicht so kompliziert.« Der Lehrer ließ seinen Blick über die jungen Leute schweifen. »Wer kann mir das jetzt wiederholen? Hendrik?«



Au backe. Dabei hatte Rick sogar zugehört. Verlegen fuhr er sich durch die Haare und holte tief Luft. Mit einigem Gestammel brachte er die meisten der Kombinationen einigermaßen zusammen. Herr Wenger nickte anerkennend. »Na also, geht doch.«

»Und damit können wir jetzt perfekt Holländisch?«, rief Daniel.

»Schön wär’s. Wissen Sie denn überhaupt noch den Unterschied zwischen Niederlande und Holland?« Herr Wenger lächelte nachsichtig. »Na ja, ich lasse Sie jetzt in Ruhe. Vielleicht haben wir in den nächsten Tagen Gelegenheit, dieses magere Wissen zu vertiefen.« Er sah auf die Uhr. »Wenn der Rest der Fahrt planmäßig verläuft, sind wir rechtzeitig im Hostel. Sie können sich nach dem Abendessen nach Rücksprache mit mir oder Frau Suhrbier noch etwas in der Gegend umsehen, aber um 22 Uhr ist Zapfenstreich. Und was den Alkohol angeht, ich weiß, dass die meisten von Ihnen volljährig sind, aber wir haben uns für ein kategorisches Alkoholverbot in der Herberge und während der Ausflüge ausgesprochen. Wir machen am Schluss unserer Fahrt noch die Heineken Experience, da gibt es nach der Führung eine kleine Bierprobe, an der Sie alle teilnehmen dürfen. Ansonsten hoffen wir, dass Sie sich an die Auflagen bezüglich Alkohol und Rauchen halten. Und was Drogen angeht, muss ich ja hoffentlich überhaupt nichts sagen.«

 

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Joe in die Runde. Rick grinste wissend, aber Daniel und Markus sahen ihren Freund neugierig an. Sie hatten zusammen ein Vierer-Zimmer in dem gemütlichen Hostel im Herzen Amsterdams ergattert und sich nach dem Abendessen noch in der Umgebung umgesehen. Jetzt saßen sie in dem kleinen Raum, der außer zwei Stockbetten nur einen Tisch mit vier Stühlen und einen Schrank beherbergte. Aber sie würden sowieso nur die Nächte hier verbringen. Vom Gang her drang das Geschnatter einer Gruppe Mädchen herein, die anscheinend gemeinsam zu den am Ende des Flurs liegenden Toiletten wanderten.

»Was meinst du?«, fragte Markus schulterzuckend. »Was sollen wir noch groß machen außer ins Bett zu gehen?«

»Jetzt?« Joe sah demonstrativ auf seine Uhr. »Es ist gerade mal zehn vorbei. Da werde ich erst richtig wach.«

Ricks Grinsen vertiefte sich. Joe war ein ausgesprochener Nachtmensch. Das hatte seine Eltern bereits in der Grundschulzeit in den Wahnsinn getrieben. Vormittags war er zu kaum etwas zu gebrauchen, weshalb die Schulzeiten für ihn denkbar ungünstig lagen, aber am Abend lief er zu Höchstform auf. Von Joe zu verlangen, um 22 Uhr ins Bett zu gehen, kam einer Bestrafung gleich.



»Wir können uns in den Gemeinschaftsraum schleichen und noch fernsehschauen«, schlug Daniel zögernd vor.

»Holländische Sendungen, die kein Mensch versteht.« Joe machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Hier kommen amerikanische Serien im Original mit Untertiteln«, warf Markus ein. »Da könnten wir unsere Englischkenntnisse aufmöbeln.«

Joe sah ihn an, als wäre ihm ein zweiter Kopf gewachsen. »Ne, lass mal«, winkte er ab. »Was soll das überhaupt, uns zu dieser unchristlichen Zeit in die Zimmer zu sperren? Wir sind alle volljährig, da dürfen wir unterwegs sein, so lange wir wollen.«

»Wenn du allein hier wärst, schon, aber wir sind halt auf Klassenfahrt. Da haben die Lehrer das Sagen.« Markus zuckte mit den Schultern. »Mich stört es nicht, ich fand den Tag ziemlich anstrengend.«

»Faul im Bus hocken nennst du anstrengend?« Joe schüttelte milde lächelnd den Kopf.

»Unsere Lehrer wahrscheinlich auch. Die wollen einfach ihre Ruhe haben. Die müssten ja sonst aufbleiben, bis der Letzte hier eintrudelt. Sind halt doch verantwortlich für die ganze Meute.«

»Wär kein Job für mich«, murrte Joe und sah Rick herausfordernd an. »Wie ist es mit dir? Willst du auch schon in die Kiste oder gehen wir noch auf Tour?«

Müde war er überhaupt nicht, aber das Hostel entgegen der Anweisungen der Lehrer zu verlassen, behagte Rick nicht. Er wollte keinen Ärger. Andererseits konnte er seinen Kumpel auch nicht hängenlassen.

»Was schwebt dir denn vor?«, fragte er widerwillig.

»Nur noch kurz in die Bar um die Ecke. Ein oder zwei Bierchen zischen und in ein paar Stunden sind wir wieder hier.« Er sah in die Runde. »Kommt schon, Leute, wer ist dabei?«

Daniel und Markus sahen sich an und schüttelten einvernehmlich den Kopf.

»Du weißt, was der Wenger zum Alkohol gesagt hat«, gab Markus zu bedenken. »Wenn wir erwischt werden, schicken sie uns morgen schon wieder heim. Auf eigene Kosten.«

»Mensch, was seid ihr doch für Trantüten«, schimpfte Joe. »Wir lassen uns einfach nicht erwischen. Außerdem sagte er ›in der Herberge und während der Ausflüge‹. Von einer Bar am Abend war überhaupt nicht die Rede.«

»Na gut.« Rick seufzte. Er hatte keine Lust, die Regeln zu brechen, wollte Joe jedoch nicht allein losziehen lassen. »Ich komme mit. Aber die Haustür ist doch bestimmt abgesperrt.«



»Kommt auf einen Versuch an.« Joe schnappte sich seine Lederjacke, öffnete die Tür und spähte vorsichtig hinaus. »Die Luft ist rein. Also los.«

Üble Idee, ganz üble Idee, dachte Rick, als er Joe die Treppe hinunter folgte. Aus dem Gemeinschaftsraum hörte man Lachen. Am Ende des Ganges öffnete sich eine Tür, was ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Wenn nun Herr Wenger oder Frau Suhrbier sie sahen?

Joe lachte rau. »Jetzt reiß dich mal zusammen. Die können uns gar nichts, wir sind erwachsen.«

Und wie verantwortungsvolle Erwachsene schlichen sie durch den Flur zur Haustür, die tatsächlich unversperrt war. Joe grinste triumphierend. »Siehste, alles kein Problem.«

»Und wenn sie zu ist, wenn wir heimkommen?«, wagte Rick einzuwenden.

»Wir finden schon einen Weg hinein.« Joe glitt hinaus in die Dunkelheit und winkte ihm ungeduldig zu. Rick folgte ihm, blieb aber dann stehen und sah zurück auf die Fassade des Hostels, die von einer Straßenlaterne schwach beleuchtet wurde. Hinter einem Fenster im ersten Stock sah er Daniel und Markus, die ihnen zuwinkten. Vor dem Haus stand ein großer Ahorn mit ausladenden Ästen, die bis fast zu diesem Fenster reichten. Aber eben nur fast. Außerdem sahen die äußeren Äste nicht so aus, als könnten sie einen Menschen tragen. Der Baum schied als Einstiegsmöglichkeit definitiv aus. Aber vielleicht hatten sie ja Glück und die Haustür würde noch geöffnet sein, wenn sie zurückkamen. Rick zuckte mit den Schultern und beeilte sich, zu Joe aufzuschließen, der schon fast an der Ecke war.

 

Die Bar empfing sie mit grellem Discolicht, das auf eine Tanzfläche gerichtet war, und dichtem Zigarettenrauch, den Rick hustend zur Seite wedelte. Rauchen hatte ihn noch nie gereizt und er war zum Glück selbstbewusst genug, das seinen Freunden zu kommunizieren, die ihn ständig zu einer Kippe überreden wollten.

»Magst du tanzen?«, schrie Joe ihm ins Ohr.

»Mit dir? Nein, danke, lass mal.«

Joe verdrehte die Augen. »Schau mal, was hier für hübsche Bräute unterwegs sind.« Er leckte sich über die Lippen.

Rick verkniff sich eine Antwort. Manchmal fand er Joe einfach nur dämlich. Er würde doch hier nicht irgendwelche Mädchen aufreißen? Er nahm seinen Freund am Arm. »Komm, an der Bar sind gerade zwei Hocker frei geworden. Da ist es etwas ruhiger.«



Joe ließ sich mitziehen und kletterte umständlich auf den hohen Barhocker. »Zwei Bier, bitte«, bestellte er bei der hübschen jungen Frau hinter der Theke. Sie nickte und stellte ihnen kurz darauf kleine Gläser hin, die höchstens 0,2 Liter fassten. »Seid ihr Deutsche?«, fragte sie beiläufig und so gut wie ohne Akzent.

»Ja, auf Klassenfahrt«, bestätigte Joe grinsend und maß sie interessiert.

»Dann viel Spaß.« Die junge Frau wandte sich ab, um einen anderen Gast zu bedienen.

»Mensch, die hat Klasse«, murmelte Joe und stieß Rick den Ellbogen in die Seite. »He, was ist denn mit dir los?«

Rick konnte nicht antworten. Er war völlig überwältigt. Mit den Augen folgte er den Bewegungen ihrer Bedienung, beobachte, wie sie ein Bier und ein Glas Whisky einschenkte und ihren Gästen mit einem Lachen übergab. Sie war vielleicht Anfang zwanzig mit langen blonden Haaren und einer schlanken Figur. Irgendetwas an ihr faszinierte ihn.

Joe folgte seinem Blick. »Jetzt sag bloß«, kicherte er. »Hat’s dich schon erwischt?«

»Quatsch«, wehrte Rick heftig ab, etwas zu heftig vielleicht. »Findest du nicht auch, dass sie etwas Tragisches umgibt?«

Joe riss die Augen auf. »Jetzt spinnst du aber«, lautete sein Urteil.

Wahrscheinlich hatte er recht. Trotzdem konnte sich Rick des Eindrucks nicht erwehren, dass unter der freundlichen und immer lächelnden Fassade der jungen Bedienung ein melancholischer Grundton lag. Da war etwas in den blauen Augen, das ihn nicht losließ.

Sie lächelte, als sie seinen Blick auffing, und er sah ertappt in sein Glas. Er sollte sich nicht mit solchen Gedanken aufhalten. Er versuchte, sich auf Joe zu konzentrieren, der ihm gerade eine Geschichte erzählte, von der Rick nicht eine Silbe mitbekommen hatte. Hastig setzte er sein Bierglas an die Lippen und leerte es mit zwei großen Schlucken.

Sofort war das hübsche Mädchen wieder bei ihnen. »Nog een biertje?«, fragte sie mit breitem Grinsen.

»Biertje«, wiederholte Joe laut. »Ja, biertje, bitte.«

Sie lachte und ihr Blick blieb einen winzigen Moment zu lange auf Rick liegen.

»Mensch, wir können schon perfekt Holländisch«, kicherte Joe und stieß seinen Freund in die Seite. »Ist ja gar nicht schwer. Biertje, das muss ich mir merken. Wobei diese Gläser das Wort gar nicht verdienen. Ich hab noch nie Bier aus so einem Winzglas getrunken.«



»Andere Länder, andere Biergläser«, sinnierte Rick.

»Davon würde mein Vater jedes Mal gleich fünf am Stück brauchen.« Joe setzte das Glas an und leerte es in einem Zug. Rick tat es ihm nach. Es war eine tolle Möglichkeit, die nette Kellnerin zurückzubringen. Dieses Mal stellte sie ihnen ungefragt Nachschub hin. Bildete er es sich nur ein, oder galt ihr freundliches Lächeln nur ihm? Nein, das bildete er sich sicher ein.

»Wird das nicht zu viel?«, meinte er zu Joe, der sein Glas bereits ansetzte.

»Wir sind gerade mal bei der ersten Halben«, widersprach sein Freund. »Da geht schon noch was.«

Rick beschloss allerdings, nach diesem Glas aufzuhören und zu versuchen, Joe zum Heimgehen zu bewegen. Es war zwar schade, dass er dann die hübsche Kellnerin nicht mehr heimlich anschmachten konnte, doch die Vernunft sagte ihm, dass es höchste Zeit war, ins Hostel zurückzukehren, bevor ihr Fehlen auffiel.

Er stieß mit Joe an und nahm einen tiefen Schluck, als er eine Hand auf der Schulter spürte. »Hendrik, Franz-Josef«, hörte er Herrn Wengers Stimme und das Herz rutschte ihm in die Hose. »Ich darf die Herren bitten, zu bezahlen. Ich warte draußen auf euch.«

»Auweia«, murmelte Rick und schluckte. Genau das hatte er vermeiden wollen.

Joe trank aus und winkte der Bedienung.

»Bekommt ihr Ärger?«, fragte sie teilnahmsvoll.

»Vermutlich.« Joe zahlte für sie beide. Während er in seinem Geldbeutel umständlich nach holländischen Gulden klaubte, sah die junge Frau Rick an. »Du heißt also Hendrik?« Ein kleines Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.

Er nickte mit einem schiefen Grinsen.

»Das ist ein niederländischer Name«, konstatierte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Gibt es bei uns auch. Zwar nicht so häufig, aber meine Mutter mochte Heintje.«

Sie lachte laut. »Meine auch.«

Joe gab ihr ein großzügiges Trinkgeld. »Danke für die nette Bedienung«, sagte er augenzwinkernd und schlug seinem Freund auf die Schulter. »Dann gehen wir mal zur Inquisition.«

Rick nickte schluckend und wandte sich um. Im letzten Moment fiel ihm etwas ein. »Und wie heißt du?«, rief er zurück.

Sie lächelte. »Kim.«

 

Schweigend marschierten sie den kurzen Weg zum Hostel. Rick versuchte, in der Dunkelheit die Miene seines Lehrers auszumachen, konnte aber nichts erkennen. Die Stille war eisig. Sogar Joe war ausnahmsweise ruhig.



Herr Wenger führte sie in den nun leeren Gemeinschaftsraum und wies sie an, Platz zu nehmen. Er setzte sich ihnen gegenüber und sah sie lange an. Dann seufzte er. »Sie wissen, dass ich Sie nach Hause schicken könnte? Sogar zweimal. Wegen des Trinkens von Alkohol und weil Sie unerlaubt die Unterkunft verlassen haben.«

»Wir haben nur ein Bier getrunken«, murmelte Joe betreten. »Und es war meine Idee, Rick wollte eigentlich gar nicht mitgehen.«

»Bin ich aber trotzdem«, warf Rick ein. »Du brauchst nicht die Schuld auf dich zu nehmen. Ich hätte ja Nein sagen können.«

Herr Wenger musterte die betretenen Gesichter und seine Miene wurde etwas milder. »Glauben Sie nicht, dass ich Sie nicht verstehe«, begann er. »Ich war auch mal auf Abschlussfahrt und darüber möchte ich Ihnen eigentlich nicht viel erzählen.«

Joe und Rick wechselten verstohlen einen hoffnungsvollen Blick.

»Ich bin auch der Meinung, dass Frau Suhrbiers Vorschlag, euch schon um 22 Uhr auf die Zimmer zu schicken, etwas eng gefasst ist. Dahingehend werde ich nochmal mit ihr sprechen, aber es geht einfach nicht, dass Sie sich aus dem Hostel schleichen, um in einer Bar abzufeiern und Bier zu trinken.«

Rick hielt den Atem an. Er hätte auf sein Bauchgefühl hören sollen. Was würden seine Eltern sagen, wenn er einen Tag nach Fahrtantritt schon wieder auf ihre Kosten heimgeschickt wurde?

Herr Wenger holte tief Luft. »Sie haben sich anscheinend nicht völlig sinnlos betrunken. Ich will auch nicht die Stimmung zerstören, indem ich Sie nach Hause schicke oder einen Verweis erteile.« Er seufzte. »Na gut, lassen wir die Sache auf sich beruhen. Ich werde Frau Suhrbier nichts von Ihrem kleinen Ausflug erzählen. Aber ich hoffe, dass Sie die Konsequenzen ziehen.«

»Es wird nicht wieder vorkommen«, versprach Joe und Rick nickte eifrig.

»Na gut, dann ab ins Bett.«

 

»Ich hätte nicht gedacht, dass der Wenger so cool ist«, meinte Joe auf dem Weg nach oben. Rick nickte nur. Er war heilfroh, dass es so glimpflich abgegangen war. Er hatte sich schon im Zug Richtung München gesehen.

Daniel und Markus erwarteten sie. »Mensch, Leute, wo wart ihr so lange? Der Wenger hat nochmal kontrolliert und uns nicht abgenommen, dass ihr zusammen auf’m Klo seid. Wir mussten ihm sagen, wo ihr seid.«



»Schon okay«, winkte Joe großmütig ab. »Er hat uns nicht mal den Kopf abgerissen. Vielleicht gibt es dadurch sogar eine spätere Sperrstunde.«

Rick schlüpfte grinsend aus seinen Kleidern. Joe fand an jeder Situation noch etwas Positives. Er kuschelte sich unter die Decke. Waschen und Zähneputzen konnte mal ausfallen. »Gute Nacht«, wünschte er seinen Zimmerkameraden und drehte sich auf die Seite. Doch als er die Augen schloss, tauchte Kims Gesicht vor ihm auf und begleitete ihn durch seine Träume.

 

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