Kapitel 7

 

7

 

»Ich muss los.« Kim sah auf ihre Uhr, dann auf Marijke und eine Träne rollte über ihre Wange.

»Es fällt dir schwer, nicht wahr?«

»Du hast keine Ahnung, wie sehr.« Sie legte die Hand auf Ricks Arm. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich dir bin. Es ist mir vollkommen klar, was ich von dir verlange, und dass es unfair euch beiden gegenüber ist. Es gibt so viel, über das wir noch sprechen müssen, aber das hat Zeit bis zu meiner Rückkehr. Ich weiß Ricky bei dir in guten Händen. Und wir bleiben ständig in Kontakt, ja?«

Rick nickte. »Ich bringe dich zum Flughafen.«

»Nein, ich habe mir ein Taxi gerufen. Am Flughafen wird der Abschied nur noch schwerer.« Sie setzte sich neben ihre Tochter auf die Couch und umarmte sie.

Marijke begann zu weinen und schüttelte den Kopf. Immer und immer wieder. Wie Sturzbäche kamen die Worte aus ihrem Mund, bittend, flehend, ängstlich, voller Panik. Kim versuchte, ihre Tochter zu beruhigen, sprach behutsam auf sie ein, lächelte, erklärte, drückte und küsste sie, während sich in ihren eigenen Augen Tränen sammelten, die plötzlich unkontrolliert über ihre Wangen liefen.

Es klingelte. Rick warf einen Blick aus dem Fenster. »Das Taxi ist da.«

»Gut.« Kim schluckte, presste ihre Tochter noch einmal fest an sich, küsste sie auf die Wange und stand auf. Als sie nach ihrem Koffer griff, hängte sich Marijke an sie und umklammerte ihre Taille. Behutsam löste Kim die kleinen Hände.

Rick schluckte. Es musste ihr das Herz brechen. Was war nur so wichtig in Amerika, dass Kim es über sich brachte, ihre Tochter zu verlassen?

»Ik hou van jou, mijn schat«, flüsterte sie Marijke zu, dann nahm sie ihren Koffer, drückte Rick einen schnellen Kuss auf die Lippen und lief hinaus.

»Ma!«, heulte Marijke und machte Anstalten, ihr zu folgen. »Ma! Laat mij niet bij deze man! Laat mij niet hier!«

Rick fing sie ab und hielt sie fest. Sie wehrte sich mit aller Macht. Als er sich einen Faustschlag mitten ins Gesicht einfing, ließ er sie los. Während er sich fassungslos über die schmerzende Nase rieb, riss sie die Tür auf und rannte ihrer Mutter hinterher. Rick brauchte einen kurzen Moment, um sich zu fassen. Einen Moment, in dem die Stimme in seinem Hinterkopf fragte, warum er sich das antat und sie nicht einfach gehen ließ. Es dauerte nur den allerwinzigsten Bruchteil einer Sekunde, bis er die Stimme entsetzt zum Schweigen brachte und in die Gänge kam. »Marijke, warte«, schrie er, doch sie war bereits im Erdgeschoss. Immer drei Stufen auf einmal nehmend sprintete er hinter ihr her, verfehlte einen Absatz und konnte nur mit einem schnellen Griff ans Geländer einen Sturz verhindern. Da schlug schon die Haustür zu. Rick bekam es mit der Angst zu tun. Was, wenn das Mädchen, blind vor Tränen, in den fließenden Verkehr lief? Er flog regelrecht über die letzten Stufen und riss die Tür auf. Marijke war den Gehsteig entlang gelaufen, doch Kims Taxi war nicht mehr zu sehen. Mit einigen hastigen Schritten war Rick bei ihr und hielt sie fest. Wieder begann sie, um sich zu schlagen und traf ihn schmerzhaft am Schienbein. Er fluchte mit zusammengebissenen Zähnen, ließ sie aber nicht los. »Ich verstehe dich ja«, murmelte er. »Glaub mir, mir gefällt das alles auch nicht.« Er nahm sie auf den Arm und trug sie zurück. In dem Moment fiel ihm seine Vermieterin auf, die hinter der Gardine interessiert das Geschehen beobachtete. Konnte sie ihm verbieten, seine Tochter bei sich zu haben? Besser, er fragte gar nicht erst. Doch natürlich öffnete sich ihre Wohnungstür, kaum, dass er das Haus betrat.



»Herr Deisser, darf ich Sie fragen …«

»Nein«, schnitt er ihr barsch das Wort ab, während er vergeblich versuchte, das Kind auf seinem Arm zu beruhigen. Marijkes Kräfte waren etwas erlahmt, doch sie schlug und trat immer noch um sich. Ein Anflug von Panik schnürte Rick die Luft ab und legte sich auf seinen Brustkorb. Das wird nie funktionieren, dachte er verzweifelt. Es kann nicht funktionieren. Was hatte er sich nur dabei gedacht, zuzustimmen? Es konnte keinen Tag lang gut gehen, geschweige denn zwei Wochen.

Endlich in seiner Wohnung angekommen, stellte er Marijke auf den Boden und schloss die Tür ab. Mit einem herzzerreißenden Schluchzen warf sie sich auf die Couch, rollte sich zusammen und presste ihren Plüschhasen an sich, als wäre er der einzige Vertraute, den sie noch hatte. Mit Sicherheit fühlte sie sich auch so.

Am liebsten hätte Rick mitgeheult. Er hatte keine Ahnung, was er als Nächstes tun sollte. Aber zum Glück war er nicht allein. Renate würde Rat wissen. Zu zweit konnten sie die Aufgabe sicher bewältigen und Marijke würde zu einer Frau schneller Zutrauen fassen als zu ihm.

Er griff nach dem Telefon. Hoffentlich war sie daheim. Er konnte sie zwar auch auf dem Handy anrufen, aber sie hasste es, gestört zu werden, wenn sie unterwegs war. Es klingelte so lange, dass er schon entmutigt auflegen wollte, doch dann klickte es in der Leitung und sie meldete sich.

»Renate. Schön, dass du da bist.«

»Ach ne, Rick, der Verschollene. Bist du wieder aufgetaucht?«

»Tut mir leid, dass ich mich so abgekapselt habe, ich hatte einiges zu sortieren.«

»Die Bierflaschen in Joes Bude?«

Er krümmte sich innerlich. Sie wusste gut Bescheid. »So ungefähr. Hör mal, Renate, ich hab da ein kleines Problem.« Er schilderte ihr Kims Besuch.

»Sie hat tatsächlich ihr Kind bei dir gelassen? Das arme Würmchen.«

»Genau. Sie weiß mit mir nichts anzufangen. Und ich, ehrlich gesagt, mit ihr auch nicht. Wir können ja nicht mal miteinander reden. Ich dachte mir, dass du vielleicht schneller Zugang zu ihr findest.«

»Warum ich?«

»Na, zum einen bist du eine Frau.«

»Aha. Und zum anderen?«

»Hast du bestimmt eine Idee, wie es jetzt weiter gehen soll.«



»Ja, habe ich.«

»Super.« Rick spürte den Felsen, der schon seit Stunden auf seiner Brust lag, rutschen. »Und wie?«

»Kauf dir ein Wörterbuch. Und lass mich aus der Sache raus. Es ist aus zwischen uns.«

 

Rick saß immer noch da wie vor den Kopf geschlagen. Marijke hatte ihr lautstarkes Heulen eingestellt, doch nach wie vor flossen dicke Tränen in den Plüschhasen, der sie geduldig aufsaugte. Ab und zu warf sie ihm einen verängstigten Blick zu. Und jetzt hatte auch noch Renate mit ihm Schluss gemacht. Es war ja nicht so, als ob es sich nicht abgezeichnet hätte, und es war seine eigene Schuld. Er hatte sie vernachlässigt, war lieber zum Saufen gegangen, als die Abende mit ihr zu verbringen. Wenn er ehrlich war, stimmte es schon seit Längerem nicht mehr zwischen ihnen. Seine Gefühle für Renate waren erheblich abgeflaut. Aber gerade jetzt hätte er sie brauchen können.

Er schüttelte den Kopf. »Mensch Deisser, was bist du nur für ein Arsch geworden«, murmelte er vor sich hin. Die letzten Wochen hatte er Renate gemieden, weil er ihr nicht mehr in die Augen sehen konnte, aber jetzt käme sie ihm gerade recht, um seine Probleme zu lösen. So war er doch gar nicht. Eigentlich war er ja ein ganz netter Kerl. Als sein Blick auf Marijke fiel, musste er schlucken. Ihre Meinung zu dem Thema war deutlich.

Kurz entschlossen schickte er Joe eine SMS. »Ruf mich an, wenn du kannst, dringend«, tippte er. Joes Chef sah es nicht gern, wenn seine Mitarbeiter während der Arbeitszeit privat telefonierten, aber vielleicht konnte sich sein Kumpel kurz aufs Klo schleichen.

Tatsächlich klingelte nur wenige Minuten später sein Festnetztelefon. »Hey Alter, was ist los? Ich sehe, du hast den Weg nach Hause gefunden. Du, hör mal, diese Gelage bei mir müssen aufhören, wenn ich jeden Abend von einem Saustall begrüßt werde und erst mal euren Dreck wegräumen darf. So war das nicht geplant.«

»Sorry, aber ich kann die nächste Zeit sowieso nicht mehr kommen. Ich habe andere Probleme.«

»Nämlich?«

»Du erinnerst dich an Kim?«

»Deine kleine Holländerin?« Joe lachte. »Klar. Du hast wochenlang von nichts anderem geredet. Hast du nicht immer noch Kontakt zu ihr? Finde ich echt schräg. Was sagt eigentlich Renate dazu?«



»Sie hat Schluss gemacht.«

Es war kurz still am anderen Ende. »Scheiße.«

»War wohl unausweichlich.«

»Ich weiß aber nicht, wie ich dir da helfen kann. Händchen halten geht im Moment nicht.«

»Renate ist gerade zweitrangig. Als ich heimkam, war Kim hier.«

»Echt? Kommt sie dich wirklich mal besuchen.« Joe schnaubte. »Und was machst du jetzt mit ihr?«

»Sie ist schon wieder weg. Sie muss für ein halbes Jahr nach Amerika. Aber sie hat mir was dagelassen.«

»Was denn?«

»Unsere Tochter.«

Was hätte Rick dafür gegeben, jetzt Joes Gesichtsausdruck zu sehen. »Eure was?«, hörte er ihn nach einem langen Moment der Stille schnaufen.

Er blieb einfach stumm, ihm fiel absolut keine Antwort ein.

»Alter«, dehnte Joe. »Da hast du dich aber ordentlich in die Nesseln gesetzt. Wer hätte gedacht, dass euer kleines Abenteuer solche Folgen haben könnte.« Er gluckste. »Bist du sicher, dass sie von dir ist?«

»Nein, natürlich nicht. Aber ich glaube Kim. Und das Alter passt auch.«

»Und jetzt?«

»Sie soll bei mir bleiben, bis Kim wiederkommt. Wir haben erst mal zwei Wochen ausgemacht, um zu sehen, ob es klappt.«

»Du und ein Kind.« Joe kicherte. »Das ist krass.«

»Hör auf zu lachen.« Rick ärgerte sich plötzlich. »Ich bin noch nicht bereit, Vater zu sein. Wie soll das gehen? Ich habe keine Ahnung, was ich jetzt tun muss. Woher soll ich denn wissen, was ein Kind für Bedürfnisse hat? Ich kann ja nicht mal mit ihr reden.«

»Warum das denn?«

»Weil sie nur Holländisch spricht.«

»Ach so, ja, ist ja logisch. Hast du nicht damals in freudiger Erwartung deiner Beziehung Niederländisch gepaukt?«

»Angefangen, ja. Ich kenne ein paar Wörter und ich kann sagen ›De bakker bakt brood‹, aber das hilft mir im Moment nicht.«

Joe wurde ernst. »Was ist mit deinen Eltern? Die wissen, wie man ein Kind großzieht.«

»Abgelehnt. Mein Vater macht mich einen Kopf kürzer, wenn ich nicht mit dem Master, aber dafür mit einer Enkelin für ihn ankomme.«

»Hm, da könntest du recht haben.« Joe dachte einen Moment nach. »Tu einfach das Nächstliegende. Lerne sie kennen, rede mit ihr. Es macht doch nichts, wenn sie dich nicht versteht. Das kommt noch. Wo soll sie denn schlafen?«



»Keine Ahnung. In der Abstellkammer vermutlich.«

»Nicht dein Ernst. Da müsstest du erst mal drei Tage sauber machen. Außerdem ist das Zimmer zu klein.«

»Soll ich anbauen?«

»Keine schlechte Idee. Aber ich dachte eher daran, dass du ihr dein Schlafzimmer gibst.«

»Und wo soll ich pennen?«

»Du hast ein großes Wohnzimmer, Mann. Da stellen wir ein paar Trennwände rein, ein Bett und einen Schrank dahinter, und die Sache steht. Reicht doch für dich, aber das Kind braucht einen Rückzugsort.«

Joe hatte recht. Rick fühlte sich ein ganzes Stück ruhiger. Vor allem, weil er »wir« gesagt hatte. Auf seinen Kumpel war immer Verlass. »Klingt nach einem guten Plan. Danke dir.«

»Keine Ursache. Ich komme morgen Mittag vorbei und dann gehen wir einkaufen.«

»Musst du nicht arbeiten?«

»Ich hab jede Menge Überstunden. Da können gern ein paar weg.«

Rick hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Er schluckte. »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll«, murmelte er mit belegter Stimme.

»Dann sag nichts. Aber rede mit deiner Kleinen. Bis morgen.«

Rick legte auf und bemerkte Marijkes Blick. Sie musterte ihn zurückhaltend. Als er sich ihr näherte, umklammerte sie angstvoll ihren Hasen und schob sich an die Rückwand der Couch.

Er ging vor ihr in die Knie. »Hab doch keine Angst vor mir«, sagte er langsam und, wie er hoffte, beruhigend. Vorsichtig streckte er die Hand aus und strich über ihre Haare. Marijke versteifte sich, doch sie zog sich nicht weiter zurück. »Deine Mama hat uns beiden ziemlich üble Karten ausgeteilt, jetzt müssen wir einfach das Beste daraus machen. Wir schaffen das schon.«

Marijke schniefte, aber der Tränenstrom hatte aufgehört.

»Komm.« Er streckte ihr seine Hand hin. »Wir waschen erst mal dein Gesicht und dann sehen wir weiter.«

»Gezicht wassen?« Die Stimme klang dünn und zaghaft.

»Ja.« Er nickte und lächelte aufmunternd.

Zögernd nahm sie seine Hand. Plötzlich durchströmte Rick ein nie gekanntes Gefühl. Das Bedürfnis, dieses Kind zu beschützen, es kennenzulernen und es lachen zu sehen. Er führte sie ins Badezimmer und wusch ihr behutsam das Gesicht. Dann kämmte er ihre langen blonden Haare.

»So, jetzt ist es besser.« Er strich ihr nochmal über den Kopf. »Wir werden es schon irgendwie schaffen.« Das Lächeln, das er zurückbekam, war zittrig und verhalten, aber es war ein Anfang.



»Weißt du was? Wir richten erst mal dein Zimmer her.« Er nahm sie bei der Hand. Sie zuckte leicht zusammen, doch dann folgte sie ihm. Als Rick die Tür zu seinem Schlafzimmer öffnete, bereute er seinen Entschluss, das Mädchen gleich mitzunehmen. Er hätte sie vor dem Fernseher parken und erst mal saubermachen sollen, aber dafür war es jetzt zu spät. Mit großen Augen sah Marijke sich um und sagte etwas, das er nicht verstand. Er konnte es sich denken. Auf der kleinen Kommode lag der Staub fingerdick, seine Klamotten flogen im ganzen Zimmer herum und das Bett war schon seit ewigen Zeiten nicht mehr gemacht worden. Betten machen war verschwendete Liebesmühe, wenn man sich am Abend sowieso wieder reinlegte. Dabei hatte er Bettenmachen und Ordnung halten bei der Bundeswehr durchaus gelernt. Vielleicht widerstrebte es ihm gerade deshalb.

Er würde sich umstellen müssen. Schulterzuckend machte er sich daran, Hosen und T-Shirts vom Boden aufzuklauben und ins Badezimmer zu bringen, wo er gleich alles in die Waschmaschine stopfte. Dann holte er den Staubsauger und einen nassen Lappen. Ein Staubtuch half hier nicht mehr.

 

Eine Stunde später war sein Schlafzimmer wieder vorzeigbar. Alles war sauber und aufgeräumt und das Bett frisch bezogen. Marijke hatte ihm dabei geholfen und er hatte sich gewundert, wie geschickt das Mädchen sich anstellte. Dann hatte er ihren Koffer geholt und demonstrativ ins Zimmer gestellt, damit sie begriff, dass das nun ihr Reich war. Sie hatte ihn groß angesehen und wieder auf diese zaghafte Weise gelächelt, die sein Herz rührte.

Inzwischen saßen sie gemeinsam vor dem Fernseher und sahen sich eine Zeichentrickserie an, bei der man nicht viel verstehen musste, um der Handlung folgen zu können. Zufrieden stellte er fest, dass Marijke sich entspannte und sogar einige Male den Anflug eines Lächelns zeigte. Sie saß zwar am anderen Ende der Couch und war darauf bedacht, ihm nicht zu nahe zu kommen, aber sie schien keine Angst mehr vor ihm zu haben.

»Weißt du was?«, sagte er schließlich. »Ich mache uns jetzt Pfannkuchen zum Abendessen.«

Sie sah ihn groß an.

»Pfannkuchen, Essen«, betonte er, doch sie zuckte nur mit den Schultern und wandte sich ab.



»Komm schon, du musst dich auch ein bisschen bemühen«, murmelte Rick frustriert, als er aufstand und in die Küche schlurfte.

Die Pfannkuchen gelangen ihm heute besonders gut. Er füllte sie dick mit Erdbeermarmelade, wie es seine Oma immer gemacht hatte. »Marijke, komm essen«, rief er und tatsächlich tauchte das Mädchen im Türrahmen auf. Die blauen Augen blitzten freudig auf. »Pannenkoeken. Lekker.«

Rick lächelte. »Pfannkuchen«, sagte er deutlich.

»Fannkuchen«, wiederholte Marijke.

»Gut genug«, entschied er und nickte bestätigend. Er sah mit Freude, mit welcher Begeisterung seine Tochter ihr Essen verschlang. »Nog een?«, bat sie schließlich schüchtern.

»Noch einen? Klar, warum nicht?« Rick machte sich an die Arbeit. Er hatte noch genügend Teig, dass es für eine zweite Runde für sie beide reichte. Während des Essens legte er die Hand auf den freien Stuhl zwischen ihnen. »Stuhl«, sagte er.

Marijke sah ihn fragend an.

»Das ist ein Stuhl.«

»Stoel?«

»Genau. Und das ist ein Tisch.« Er schlug leicht auf die Tischplatte.

»Tiss.«

»Tisch.« Er betonte den Zischlaut am Ende.

»Tafel.«

»Nein, Ti…« Er stockte. Vage erinnerte er sich an das niederländische Lehrbuch, das er sich damals gekauft hatte. Wenn er sich doch nur mehr gemerkt hätte. »Tafel ist das holländische Wort, nicht wahr?« Er überlegte kurz. »Tafel is nederlands?«

Marijke nickte.

»Und Stuhl?« Wieder legte er die Hand auf die Stuhllehne.

»Stoel.« Das Mädchen grinste.

Er zog die Augenbrauen hoch. »Das gleiche Wort? Ist ja einfach.« Er hielt seine Gabel in die Luft. »Gabel.«

»Vork.«

»Na siehst du, wir können uns gegenseitig unsere Sprache beibringen.« Systematisch benannte er die Gegenstände, die auf dem Tisch standen. Messer, Teller, Glas, Marmelade, Zucker, Pfanne, Marijke wiederholte die Worte bereitwillig. Rick nickte zufrieden, als er noch einmal alles durchging und feststellte, dass sie sich die Ausdrücke gemerkt hatte. Ihre Aussprache war gut, nur mit manchen Lauten hatte sie Schwierigkeiten.

»Wir kriegen das schon hin«, versicherte er ihr. »Du wirst sehen, du sprichst im Handumdrehen perfekt Deutsch.«

 

Mitten in der Nacht wachte Rick auf. Er schlief sowieso nicht sehr gut auf der Couch, doch irgendein Geräusch hatte ihn geweckt. Da war es wieder und er wusste sofort, was es war. Es kam aus seinem Schlafzimmer. Marijke weinte. Was sollte er tun? Würde sie sich von ihm trösten lassen oder würde er damit alles nur schlimmer machen? Aber er konnte sie nicht sich selbst überlassen.



Leise klopfte er an die Tür. »Marijke?«

Das Weinen verstummte, als er eintrat. Es war so dunkel im Zimmer, dass er ihre Gestalt im Bett nur erahnen konnte. Sie drehte ihm den Rücken zu und reagierte nicht auf sein Eintreten. Er setzte sich auf die Bettkante und strich ihr über die Haare. Sofort versteifte sie sich.

»Warum hast du denn immer noch Angst vor mir?«, fragte er leise. »Wir hatten es doch so gemütlich gestern Abend.« Es war egal, was er sagte, es kam nur darauf an, beruhigend zu klingen. »Ich weiß, dass du deine Mama vermisst. Ich hätte sie jetzt auch lieber hier.« Er streichelte sie weiter und obwohl sie sich nicht bewegte, merkte er doch, dass sie ruhiger wurde. »Ist es dir zu dunkel hier?« Es war nur eine plötzliche Vermutung, aber sie schien ihm plausibel. »Warte mal.« Er zog die unterste Nachttischschublade auf und fand mit einem Griff, was er gesucht hatte. Ein Nachtlicht, das er für Renate gekauft hatte, nachdem sie sich beschwert hatte, dass sie auf dem Weg zum Klo gegen die Wand gelaufen war. Sie hätte einfach das Licht anschalten können, hatte er ihr entgegengehalten, und die Antwort bekommen, dass die Deckenlampe in der Nacht zu grell war. »Man muss nicht alles verstehen«, hatte Joe damals grinsend kommentiert und ihm zur Anschaffung eines Nachtlichts geraten. Jetzt kam ihm das wunderbar gelegen. Er steckte es ein und sofort verbreite sich ein warmer gelblicher Schimmer im Raum. Es war nicht so hell, dass es Marijke beim Schlafen stören würde, aber erhellte doch die Konturen in unmittelbarer Nähe.

»Ist das besser?«, fragte er sie lächelnd. »Beter?«

Sie nickte zaghaft, drehte sich jedoch nicht zu ihm um. Was vielleicht gut war, denn er hatte vergessen, sich ein T-Shirt überzuziehen.

»Soll ich hierbleiben, bis du einschläfst?«

Keine Antwort. So blieb Rick einfach sitzen und streichelte sie weiter. Wenn es ihr nicht passte, würde sie ihm das schon zu verstehen geben. Doch sie regte sich nicht und nach ein paar Minuten wurden ihre Atemzüge tiefer und regelmäßiger.

Er seufzte. Natürlich hatte sie Heimweh und Sehnsucht nach ihrer Mutter. Was hatte sich Kim nur dabei gedacht, ihre Tochter bei ihm abzuladen? Sie waren beide schlichtweg überfordert mit der Situation und er hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte.



 

Am nächsten Tag schwänzte er wieder die Vorlesungen. Was sollte er sonst auch tun? Er konnte Marijke nicht allein lassen. Nach dem Frühstück informierte er sich bei der Stadtverwaltung, welche Schule für sie zuständig war. Als er dort anrief und die Lage schilderte, wurde er gebeten, gleich mit ihr vorbeizukommen. Also packte er sie ins Auto und fuhr knappe zwei Kilometer zur Grundschule. Mit großen Augen sah sie sich um, blieb aber stumm. Auch bei der freundlichen Schulleiterin, die sie lächelnd begrüßte, sagte sie kein Wort.

»Sie versteht noch fast nichts«, erklärte Rick entschuldigend. »Außerdem ist sie ziemlich abrupt aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen worden und ist verständlicherweise etwas verängstigt.«

Die Rektorin nickte. »Es ist nicht einfach für sie, da stimme ich zu. Vielleicht hilft der Umgang mit anderen Kindern, dass sie sich schneller einlebt. Haben Sie ihre Geburtsurkunde dabei?«

»Natürlich.«

»Auch einen Sorgerechtsbescheid?«

»Leider nichts Offizielles. Aber ich bin in der Geburtsurkunde als Marijkes Vater eingetragen und habe hier ein Schriftstück ihrer Mutter, in der sie mich zum Bevollmächtigten erklärt mit der Befugnis, alle Entscheidungen für sie zu treffen.«

Die Schulleiterin las das Dokument, das Kim in perfektem Deutsch erstellt hatte, und auch eine Kopie ihres Personalausweises angehängt hatte, um ihre Unterschrift zu bestätigen. »Gut, damit kann ich arbeiten.« Sie musterte Marijke. »Ich weiß, dass sie schon acht Jahre alt ist, aber es erscheint mir am besten, wenn sie in die erste Klasse kommt. Da kann sie sich darauf konzentrieren, Deutsch zu lernen und dem Unterricht zu folgen, ohne dass er zu große Anforderungen an sie stellt.«

»Wenn Sie meinen.« Zweifelnd zog Rick seine Unterlippe durch die Zähne. Marijke war schon in der dritten Klasse, wie würde sie es empfinden, zu den Kleinen gesteckt zu werden? Er konnte die Argumentation der Schulleiterin aber auch nachvollziehen. Im Moment kam es darauf an, dass sie lernte, sich zu verständigen.

»Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Klassenzimmer und stelle Ihnen Marijkes Lehrerin, Frau Wohlgemut, vor.«

Die Grundschule war nicht allzu groß und die Flure übersichtlich. Trotzdem wirkten sie auf das Mädchen wohl angsteinflößend, denn sie hielt sich krampfhaft an Ricks Hand fest. In dieser fremden Umgebung war sogar er für sie ein rettender Fels. Er streichelte beruhigend mit dem Daumen über ihren Handrücken und lächelte ihr aufmunternd zu.



Die Direktorin wies auf eine Tür, neben der ein Schildchen mit der Aufschrift »1a« prangte und klopfte an. Die Lehrerin, die mit fragender Miene heraustrat, war etwa Mitte dreißig und wirkte auf Rick sehr sympathisch. Ernst hörte sie sich die Erklärungen ihrer Chefin an und ging dann vor dem Kind in die Knie. Lächelnd reichte sie ihr die Hand, die das Mädchen zögernd nahm.

»Wie schön, dass du hier bist, Marijke. Möchtest du gleich hereinkommen und deine Klassenkameraden kennenlernen?« Einladend deutete sie auf die offene Zimmertür. Doch Marijke schüttelte heftig den Kopf und drückte sich noch enger an Rick.

Frau Wohlgemut behielt ihr Lächeln bei. »Bitte sagen Sie ihr, dass sie nichts zu befürchten hat«, wandte sie sich an ihn.

»Würde ich gern, nur spreche ich kein Niederländisch. Das ist unser großes Problem, dass wir uns gegenseitig nicht verstehen, aber wir arbeiten daran.« Er bemühte sich um einen zuversichtlichen Gesichtsausdruck, der seine Zweifel und Ängste hoffentlich ausreichend kaschierte.

Frau Wohlgemut nickte, doch er konnte in ihrer Miene nicht lesen, was sie dachte. »Ich gebe Ihnen eine Liste von Dingen, die Ihre Tochter für die Schule benötigt«, sagte sie nur, ging ins Klassenzimmer, um in ihrem Pult zu wühlen, und kam mit einem Blatt zurück, das sie ihm reichte. »Es wäre sicher von Vorteil, wenn Sie sie zu einem Sprachkurs anmelden«, schlug sie vor.

Rick nickte. Er hatte keine Ahnung, ob in München deutsche Sprachkurse für niederländische Kinder angeboten wurden. Der Druck in seinem Kopf, den er seit dem Aufstehen verspürte, verstärkte sich. Das alles überforderte ihn. Es gab so viel zu beachten, zu organisieren und zu regeln. Ob Kim überhaupt eine Ahnung hatte, was sie ihm da zumutete?

Er verabschiedete sich von den Lehrkräften und drückte Marijkes Hand.

»Tot ziens«, sagte sie artig und beide Damen lächelten.

 

Schon als er die Haustür öffnete, hörte er in seiner Wohnung das Telefon klingeln. Er sprintete die Treppe hinauf, fummelte mit dem Schlüssel und erreichte atemlos das kleine Telefonschränkchen. Seine Hoffnung, dass es Kim war, bestätigte sich.

»Störe ich?«, hörte er ihre Stimme, die einen leicht besorgten Unterton hatte.



»Nein, gar nicht. Wir kommen gerade von der Schule.« Rick winkte Marijke heran, die unschlüssig in der Eingangstür stehengeblieben war. »Sie stecken sie wieder in die erste Klasse, damit sie erst mal die Sprache lernt. Ich weiß aber nicht, ob sie das begriffen hat.«

»Ich werde mit ihr reden. Und wie läuft es sonst so?«

»Wir fangen ganz langsam an, uns aneinander zu gewöhnen. Heute Nachmittag kommt Joe und nimmt uns mit zum Einkaufen.«

»Ist das Geld schon da?«

»Ich habe noch nicht nachgesehen. Aber eine Auslandsüberweisung dauert für gewöhnlich ein paar Tage.«

»Stimmt. Ich hoffe, du kannst die Kosten auslegen, bis es da ist. Und gib Bescheid, wenn du mehr brauchst.«

Rick nickte nur, obwohl er wusste, dass Kim es nicht sehen konnte. »Wie geht es dir? Bist du gut angekommen?«

»Ja, ich habe eine schöne Unterkunft. Ich bin noch etwas müde wegen des Jet-Lags, aber es geht mir gut.«

»Das freut mich.« Rick wusste plötzlich nicht mehr weiter. »Ich gebe dir mal Marijke.« Er winkte das Mädchen heran. »Es ist deine Ma.«

Mit einem fragenden Blick nahm sie den Hörer entgegen und begann sofort zu plappern, als sie merkte, wer am anderen Ende war. Auch wenn Rick nichts verstand, entnahm er dem Ton und den Tränen, die in ihre Augen traten, dass sie ihre Mutter vergeblich anflehte, sie abzuholen. Es wäre sicher das Beste für sie alle gewesen, doch Kim gab anscheinend nicht nach. Sie sprach lange mit ihrer Tochter und am Ende schien Marijke sich beruhigt zu haben. Rick übernahm den Hörer wieder. »Sie nimmt es ziemlich schwer«, meinte er.

»Das ist mir klar.« Kim klang traurig. »Ich weiß, was ich ihr antue und ich weiß auch, was ich dir aufbürde, aber es ist im Moment die einzige Lösung. Ich gebe dir mal meine Telefonnummer von hier. Du kannst dich jederzeit melden, falls es Probleme gibt. Ich erstatte dir die Kosten. Und ich werde alle paar Tage bei euch anrufen. Oder auch öfter, wenn ich Sehnsucht habe.« Sie seufzte. »Was eigentlich ständig ist.«

»Warum bist du dann gegangen?«

Am anderen Ende war Stille. »Ich erzähle es dir, wenn ich zurück bin«, wich sie schließlich aus. »Das ist eine längere Geschichte.«

»Na gut«, gab Rick sich zufrieden. Was blieb ihm auch übrig? Er verabschiedete sich und fühlte eine tiefe Leere in sich aufsteigen. Er glaubte nicht daran, dass Kim nach zwei Wochen zurückkommen würde, wenn er sie darum bäte. Irgendetwas war ihr so wichtig, dass sie bereit war, ihr Kind für ein halbes Jahr zu verlassen, sie würde das nicht aufgeben, nur weil er überfordert war. Einen Moment lang war ihm selbst zum Heulen zumute, aber das durfte er Marijke nicht zeigen.



»Ich mach uns was zu essen«, sagte er und zeigte auf die Küche. »Essen. Was magst du?«

Sie sah auf. »Fannkuchen.«

 

Am frühen Nachmittag tauchte wie versprochen Joe auf. Er ging vor Marijke auf die Knie und zog hinter seinem Rücken einen grauen Plüschelefanten hervor. »Schau mal, ich dachte, der gefällt dir.«

Das Mädchen schenkte ihm ein zaghaftes Lächeln, als sie den Elefanten nahm und über seine flauschigen Ohren strich. »Olifant«, sagte sie leise.

»Nein, ein Elefant.« Joe zögerte. »Ist Olifant holländisch?«, kombinierte er. »Weißt du was? Nenne ihn doch einfach Ollie.« Er zeigte auf das Kuscheltier. »Ollie?«

Marijke nickte begeistert. »Ja. Ollie.«

Joe stand auf. »Für dich habe ich auch was.« Er drückte seinem Freund ein gelbes, kompaktes Buch in die Hand. »Ich dachte, so was kannst du brauchen«, grinste er.

»Danke«, murmelte Rick sarkastisch, während er das Wörterbuch musterte, doch er wusste, dass dieses Geschenk sehr nützlich sein würde. »Du bist einfach der Beste.«

»Weiß ich.« Joe beobachtete Marijke verstohlen. »Ein hübsches Mädchen. Bist du sicher, dass sie von dir ist?«

»Haha.« Rick ärgerte sich, dass Joe seine Situation amüsant fand.

»Ne, du, ich meine es ganz im Ernst. Was ist denn mit diesem Freund, mit dem Kim zusammen war? Der dir das schöne Veilchen verpasst hat.«

»Vincent? Mit dem hat sie ein paar Wochen vorher Schluss gemacht.«

»Und nach dir?«

Rick seufzte. »Kann ich natürlich nicht wissen. Aber ich schätze sie nicht so ein, dass sie sich sofort mit dem Nächsten einlässt. Der Typ ist sie nicht.«

»Weißt du das so genau? Sie hat dir bestimmt nicht alles erzählt. Vielleicht hatte sie doch schon jemanden in der Hinterhand.«

»Glaube ich nicht. Dann wäre sie nicht mit mir ins Bett gegangen.«

»Oder sie hat, nachdem wir weg waren, den nächsten Kerl aus der Bar abgeschleppt.«

Rick hätte ihm am liebsten eine reingehauen. Es machte ihn wütend, wie er Kim beurteilte. »So eine ist sie nicht«, presste er hervor.

»Bei dir war es aber so. Und erzähl mir nicht, dass sie dich nur mitgenommen hat, weil du den gleichen Namen hast wie ihr Vater.«

Rick schwieg nachdenklich. Hätte Kim sich mit ihm eingelassen, wenn er nicht in Vincents Faust gelaufen wäre? Er glaubte es nicht. Vermutlich hätte sie ihn freundlich abgewimmelt. Sie hatte nicht vorgehabt, mit ihm zu schlafen, es war einfach passiert. Ohne seine Prügelei mit Vincent wäre er demzufolge nicht in dieser Situation. Wie einen so manche Entscheidung doch noch Jahre später in den Hintern beißen konnte.



»Okay«, lenkte Joe ein, als er nicht antwortete. »Wenn du sagst, dass Kim nicht so ist, glaube ich dir. Dann hast du also jetzt eine Tochter, um die du dich kümmern musst. Hast du wenigstens schon eine Liste gemacht, was sie alles braucht?«

Rick schüttelte nur den Kopf.

»Oh Mann, wofür bist du eigentlich zu gebrauchen?« Joe warf gespielt entrüstet die Hände in die Luft. »Zeig mir mal, was sie mitgebracht hat.«

Zusammen gingen sie Marijkes Koffer durch, der nur das Notwendigste für die ersten Tage enthielt.

»Da brauchen wir einiges«, murmelte Joe.

»Ich hab nur ein Problem«, gestand Rick zögernd.

»Schon klar. Du hast nicht genug Kohle.«

»Kim lässt mir Geld überweisen, aber das ist bestimmt noch nicht da. Und ich glaube auch nicht, dass es besonders viel ist. Sie hatte ja selbst kaum was.«

»Das ist neun Jahre her. Sie wollte doch Lehrerin werden. Vielleicht hat sie inzwischen ein kleines Vermögen angespart.«

»Wie sollte das denn gehen? Ich weiß nicht mal, ob sie ihr Studium beendet hat. Und dann musste sie sich um ihr Baby kümmern. Da springt man nicht so leicht die Karriereleiter hoch.«

»Mich wundert nur, dass sie es dir nie gesagt hat. Ihr wart doch die ganze Zeit in Kontakt.«

»Eher sporadisch. Aber du hast recht, zu Beginn haben wir uns oft geschrieben. Sie hat nie auch nur eine Andeutung gemacht.«

»Eigentlich ein feiner Zug von ihr. Sie hätte dich genauso gut auf Unterhalt verklagen können.«

Rick hielt inne. »Stimmt. Meine Eltern wären begeistert gewesen.«

»Hast du es ihnen schon gesagt?«

Er zog den Kopf ein. »Was glaubst du?«

Joe lachte. »Ich wäre gerne Mäuschen, wenn du das beichtest. Und mach dir keine Sorgen wegen des Geldes. Ich schieß dir vor, was du brauchst. Aber jetzt fahren wir erst mal los. Nimm deine Tochter und komm.«

 

Rick war beinahe eifersüchtig, als er sah, wie gut sich Joe mit Marijke verstand. Sie hatte fast augenblicklich Vertrauen zu ihm gefasst und nahm ihn ohne Scheu an der Hand. Da half seinem Freund die Erfahrung. Joe hatte drei jüngere Schwestern, um die er sich schon immer liebevoll gekümmert hatte. Er schien für Marijke etwas Vertrauensvolles auszustrahlen, das Rick anscheinend fehlte. Auch wenn diese Tatsache ihn wurmte, war er heilfroh, dass Joe ihm half. Gemeinsam klapperten sie verschiedene Läden ab. Kleidung, Schuhe, Schulsachen, eine Puppe, Spiele, Bücher, Joe dachte sogar an eine Sitzerhöhung fürs Auto. Er steigerte sich fast in einen Kaufrausch hinein. Skeptisch blätterte Rick durch die vier Kinderbücher, die er ausgesucht hatte. »Sie kann das doch nicht lesen«, wandte er ein.



»Aber du kannst. Lies ihr jeden Tag daraus vor und schaut euch gemeinsam die Bilder an. Das hilft, glaub mir.«

Joe wollte Marijke sogar ein Fahrrad kaufen.

»Jetzt mach mal nen Punkt«, beschwerte sich Rick, der schon längst nicht mehr versuchte, die ganzen Preise zu addieren. »Wir sind in München, ich hätte viel zu viel Angst, sie mit dem Rad auf die Straße zu lassen.«

»Sie ist Niederländerin, die kann fahrradfahren, glaub mir das.«

Joe hatte vermutlich recht, aber Rick sah die Notwendigkeit trotzdem nicht ein, wegen eines halben Jahres eine so teure Anschaffung zu machen. Marijke konnte ein Fahrrad ja nicht mal mitnehmen, wenn sie mit Kim wieder nach Hause fuhr.

Noch während er überlegte, fiel ihm Joes Blick auf, mit dem er die junge Verkäuferin musterte, die mit einem Kunden sprach und gerade hellauf lachte. Sie war Anfang zwanzig, hatte lange schwarze Haare und einen leichten südländischen Touch.

»Sag mal, du willst nicht deshalb ein Fahrrad kaufen, damit du dich ausgiebig von der hübschen Lady beraten lassen kannst?«

Joe antwortete nicht, aber Rick konnte fast die Herzchen in seinen Augen tanzen sehen. »Geh hin und frag sie nach ihrem Namen.«

»Das geht nicht.« Verlegen sah Joe zu Boden.

»Warum nicht? Hey, du bist doch sonst nicht so schüchtern. Trau dich.«

Sein Freund schüttelte nur den Kopf.

Fragend sah Marijke zu den Männern hoch. Rick kniete sich neben sie. »Joe hat sich in die hübsche Verkäuferin verguckt.« Er zeigte auf Joe und anschließend auf das junge Mädchen und formte mit den Händen ein Herz. Marijke kicherte, was auch Rick ein Lächeln ins Gesicht zauberte. »Weißt du was? Wir helfen da mal ein bisschen nach.« Er packte seinen Kumpel am Arm und zog ihn mit zu der Verkäuferin, die gerade ihr Gespräch beendet hatte. Joe war so verdattert, dass er im ersten Moment keinen Einspruch erhob und dann war es zu spät.

»Hallo, ich bin Rick und das ist mein Freund Joe. Er wüsste gern, wie du heißt und würde dich mit Freuden auf einen Kaffee einladen.«

Joe riss sich abrupt los und seine Ohren wurden innerhalb von zwei Sekunden knallrot. »Spinnst du jetzt komplett, Alter, du kannst doch nicht einfach …«

»Ich bin Jasmin«, sagte die junge Frau und fuhr sich mit der Zunge flüchtig über die Oberlippe. »Und ich würde gerne mit dir einen Kaffee trinken gehen.«



»Was?« Joe starrte sie an. »Im Ernst?«

»Ja, ganz im Ernst.« Sie lächelte ihn an.

Rick nahm Marijkes Hand. »Wir schauen uns mal da hinten ein wenig um«, erklärte er, hatte jedoch den Eindruck, dass Joe kein Wort von dem hörte, was er sagte. Zusammen schlenderten sie durch die Spielwarenabteilung und er ließ sich hinreißen, für Marijke noch eine große Schachtel Playmobil zu kaufen. Das Strahlen in ihren Augen entschädigte ihn doppelt und dreifach für die Ausgabe, die er sich nicht wirklich leisten konnte.

Nach einer knappen Viertelstunde erschien Joe mit einem glückseligen Lächeln im Gesicht. »Na gut«, nickte er, als hätten sie ihr Gespräch überhaupt nicht unterbrochen. »Lassen wir das Fahrrad. Ich glaube, fürs Erste reicht es sowieso. Jetzt besorgen wir für dich noch ein Bett und einen Schrank und holen ein paar Trennwände, damit du wieder ein eigenes Schlafzimmer kriegst.«

Das brachte Rick in die Gegenwart zurück. Er war froh, dass Joe die Initiative übernommen hatte. Er war einfach nur überwältigt. Wie sollte er seinem Freund jemals die Schulden zurückzahlen, die heute aufgelaufen waren? Alles in allem überstieg die Gesamtsumme vermutlich mehrere seiner Monatsbudgets, die ihm zudem noch gestrichen worden waren.

Joe stieß ihn freundschaftlich in die Seite. »Na los, Alter, wird schon. Wir finden sicher was Günstiges. Und hinterher lade ich euch zwei auf ein Eis ein.« Er zwinkerte Marijke verschwörerisch zu. »Eis essen?«, fragte er und sie nickte begeistert. Sie hielt ihre neue Puppe im Arm und himmelte Joe unverhohlen an.

»Wie wär’s, wenn du sie nimmst?«, rutschte es Rick heraus. »Du bist eindeutig der bessere Vater als ich.«

Joe blieb stehen. »Zieh dich doch nicht ständig selbst so runter. Du schaffst das schon.«

»Weiß nicht«, brummte Rick verdrossen. Seine gute Laune war plötzlich komplett verschwunden.

»Du machst dich verrückt, weil du nur immer dieses halbe Jahr siehst und meinst, es ist eine Ewigkeit. Konzentriere dich auf den einzelnen Tag. Der ist doch leicht zu schaffen. Ein Tag nach dem anderen. Außerdem ist die Kleine reizend. Glaub mir, ihr werdet ein tolles Team.«

»Ja, bestimmt.« So richtig glaubte Rick nicht daran. Aber Joes Rat war gut. Ein Tag war zu schaffen. Und dann der nächste und der nächste und der nächste.



 

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