Kapitel 8

 

8

Augsburg, Juni 2024

 

»Wow.« Daniela tupfte sich den Mund mit der Serviette ab. »Ich hatte ja keine Ahnung.«

»Wir haben uns damals nicht wirklich lang über unsere Vergangenheit ausgetauscht«, schmunzelte Rick.

»Du hast mir erzählt, dass Marijkes Mutter sie für ein halbes Jahr bei dir gelassen hat, aber ich wusste nicht, dass sie dich quasi damit überfallen hat. Das kann echt nicht leicht gewesen sein.«

»Nein, das war es nicht.« Rick wies auf ihr leeres Glas. »Willst du noch was trinken?«

»Nein, danke. Ich muss wirklich heim.«

»Ja, ich auch.« Er seufzte. Er wollte den Abend nicht beenden. Daniela anscheinend ebenso wenig, denn sie zögerte. »Wie lange hat es gedauert, bis ihr euch angefreundet habt?«

»Marijke und ich? Da gab es ein Ereignis, das unserem Verhältnis einen ordentlichen Schub versetzt hat.« Er winkte dem Ober.

Daniela lächelte. »Ich weiß, worauf du anspielst. Wurde es dann wirklich einfacher?«

»Deutlich. Marijke hatte Vertrauen zu mir gefasst. Und wir fanden einen Weg, uns zu verständigen.« Er bezahlte die Rechnung und half Daniela in die leichte Jacke. »Ich würde dich gern wiedersehen«, rückte er mit der Sprache heraus.

Sie atmete tief ein. »Ich hatte bisher ziemlich Pech mit Männern. Ich weiß nicht, ob ich mir das nochmal antun will.«

»Wir müssen ja nicht gleich heiraten.« Rick bemühte sich um sein charmantestes Lächeln. »Ich möchte dich nur nicht sofort wieder aus den Augen verlieren.«

»Damit kann ich leben. Ruf mich doch einfach an.« Sie gab ihm eine Visitenkarte. »Begleitest du mich zu meinem Auto?«

»Klar.« Sie gingen die paar Meter schweigend, aber es war ein angenehmes Schweigen.

»Na dann.« Daniela reichte ihm die Hand. »Bis zum nächsten Mal.«

»Bestimmt.« Rick hätte lieber etwas anderes getan, als ihr nur die Hand zu geben, doch er respektierte ihre Entscheidung. Nachdenklich sah er ihr nach, als sie davonfuhr. Was war das nur? Er war zu alt für dieses flaue Gefühl in der Magengegend. Aber was, wenn er es einfach zuließ?

Erst, als eine ältere Frau um ihn herumging und ihn misstrauisch musterte, fiel ihm auf, dass er seit Minuten mit diesem dämlichen Grinsen im Gesicht mitten auf dem Gehsteig stand. Es war höchste Zeit, wieder auf normales Verhalten umzuschalten und zu sehen, dass er heimkam.



 

»Du bist ja schon da«, begrüßte er seine Tochter, als er mit der Einkaufskiste in die Küche kam.

»Und du jetzt erst.« Demonstrativ sah Marijke auf die Uhr. »Erzähl mir nicht, dass du gerade vom Einkaufen kommst.«

»Nicht wirklich.« Rick grinste verlegen.

»Wo hast du dich dann herumgetrieben?« Sie stand auf, um ihm beim Verstauen der Lebensmittel zu helfen.

»Ich habe jemanden getroffen. Erinnerst du dich an Daniela?«

Mit einer Packung Milch in der Hand blieb Marijke vor dem Kühlschrank stehen. »Sag bloß, wo bist du ihr denn über den Weg gelaufen? Wohnt sie nicht mehr in München?«

»Im Supermarkt. Und nein.«

»Interessant.« Sie verstaute die Milch und streckte die Hand aus.

Rick reichte ihr Joghurt und Käse. »Was soll das denn heißen?«, hakte er nach.

»Dieses Mal lässt du sie hoffentlich nicht wieder gehen.«

»Mal sehen. Ich glaube nicht, dass sie sehr viel Interesse hat.«

»An dir?« Marijke grinste breit. »Kann gar nicht sein.«

Er wand sich unbehaglich. »Du weißt doch, dass ich keiner Frau meine Vergangenheit antun will. Das kann ich nicht verlangen.«

»Ach komm, denkst du im Ernst, dass da nach so langer Zeit noch was passieren könnte?«

»Ich hoffe nicht, aber ich müsste es ihr trotzdem sagen.«

»Und du befürchtest, dass sie dich dann umgehend sitzenlässt?« Marijke umarmte ihren Vater. »Du brauchst ja nicht sofort zu beichten. Erst mal sehen, was wird.«

»Dabei habe ich aber ein blödes Gefühl.« Rick seufzte. »Erzähl mir lieber von deinem Date. Warum bist du schon so früh wieder daheim? Lief es nicht gut?«

»Doch«, gab sie zu. »Es lief sogar sehr gut.«

»Aber?«

»Aber ich weiß nicht, was ich tun soll.«

Er rieb ihr über den Rücken. »Ach Kleines, du hängst einfach noch zu sehr an Dominik.«

Marijke legte den Kopf in seine Halsbeuge. »Warum kann ich den Arsch nicht einfach ausknipsen? Ständig denke ich an ihn und will es überhaupt nicht.«

»Ja, ich weiß. Das dauert auch noch eine Weile. Wenn du ihn mit einem Schulterzucken abtun könntest, wären die ganzen letzten Jahre eine Lüge gewesen.«

»Ach Pa, was soll ich nur tun?«

»Willst du es nochmal mit Dominik probieren?«

Sie stieß sich von ihm ab. »Nein, auf gar keinen Fall.«



»Dann weißt du doch, was du tun musst, oder?«

»Aber es fühlt sich so falsch an, gleich wieder eine neue Beziehung anzufangen.«

»Magst du diesen Knaben? Wie heißt er eigentlich?«

»Arjen Timmermans. Und ja, ich mag ihn. Nur nicht so, dass ich mich Hals über Kopf verliebe.«

»Du musst dir Zeit lassen. Wenn er ein guter Kerl ist, lässt er dir diese Zeit. Eine Beziehung ist kein Buch, das man ausliest, zurück ins Regal stellt und ein neues beginnt. Eine Trennung zu verarbeiten, ist harte Arbeit, und das passiert nicht von heute auf morgen.«

»Sagt mein weiser, alter Vater. Wann war eigentlich deine letzte Beziehung?«

»Das weißt du doch.«

»Auf jeden Fall lange genug her, damit du die Trennung verarbeitet hast und jetzt wieder bereit bist für etwas Neues.«

»Argumentierst du gerade mit meinen eigenen Worten?«

»Klar. Denen wirst du wohl kaum widersprechen, oder?« Marijke nahm sich eine Banane. »Ich muss mich noch ein bisschen mit Sozialrecht auseinandersetzen. Kann ich dich denn mit deinen neuen Gefühlen allein lassen?«

»Das sagt die Richtige. Kümmere du dich lieber um deine Neuerwerbung.«

Sie zuckte nur mit den Schultern und verschwand in ihr Zimmer. Rick schenkte sich eine Cola ein und setzte sich auf die große, überdachte Terrasse. Er machte sich Sorgen um seine Tochter. Dabei war er selbst so zerrissen. Einerseits wünschte er sich, dass sie sich mit Dominik versöhnen würde, denn er hatte sich mit ihm immer sehr gut verstanden. Andererseits gab es auf seinen Verrat nur eine einzige denkbare Antwort. Er nippte an seinem Getränk. Er hätte es nie für möglich gehalten, dass Dominik mit einer anderen Frau ins Bett stieg. Auch wenn er zu viel getrunken hatte, gab es dafür keine Entschuldigung. Wären seine Gefühle für Marijke so tief gewesen, wie es immer den Anschein gehabt hatte, hätte er so etwas nie getan. Seine Tochter handelte durchaus richtig. Manchmal war es am besten, einen Schlussstrich zu ziehen, auch wenn es hart war.

Und dann lachte sie sich ausgerechnet einen Niederländer an. Rick wusste nicht, was er davon halten sollte. Tief in ihm nagte die Angst, sein Mädchen zu verlieren. Was würde er tun, wenn sie mit Arjen nach Den Bosch ging? Andererseits wollte er ihr nicht im Weg stehen und es war ihm klar, dass ihr gemütliches Wohnarrangement nicht ewig währen konnte. Marijke war fünfundzwanzig, sie musste ihren eigenen Weg gehen und der führte sie zwangsläufig von ihm fort.



Aber möglicherweise konnte er auch selbst einen neuen Weg einschlagen. Ihm wurde warm, als er an Daniela dachte. Würde es dieses Mal klappen? Aller guten Dinge waren schließlich drei, oder? Er durfte jedoch nichts übers Knie brechen, das war ihm beim Abschied klar geworden. Sie waren beide keine jungen Leute mehr, die sich in eine Beziehung stürzen konnten, ohne an die Konsequenzen zu denken. Rick nahm einen tiefen Schluck von seiner Cola und ließ es bereitwillig zu, dass seine Gedanken ihn zurück in die Vergangenheit zogen.

 

München, Oktober 2007

 

Rick unterdrückte das unbändige Verlangen, auf die Hupe zu drücken. Es hatte sowieso keinen Sinn. Der Stau vor ihm würde sich nicht auflösen, wenn er seine Ungeduld kommunizierte. Heute war erst Marijkes dritter Schultag und schon verspätete er sich. Dabei hatte er sich vorgenommen, sie immer pünktlich abzuholen, weil sie noch so unsicher war. Natürlich war sie das. Rick konnte sich kaum vorstellen, wie ihr zumute sein musste, in der ersten Klasse, der sie bereits seit zwei Jahren entwachsen war und unter jüngeren Kindern, die sie nicht verstand. Er sollte wirklich dringend etwas unternehmen, damit sie Deutsch lernte. Ihre Methode, sich gegenseitig die Wörter von Alltagsgegenständen beizubringen, funktionierte ganz gut, war aber arg begrenzt. Marijke brauchte einen vernünftigen Lehrer.

Es ging wieder fünf Meter vorwärts. Rick verfluchte seine Entscheidung, den auf den ersten Blick kürzeren Weg über den Mittleren Ring zu wählen, nachdem er bei der Bank gewesen war. Oder überhaupt seinen alten Polo zur Uni genommen zu haben, wo es mit den öffentlichen Verkehrsmitteln so viel einfacher war. Aber er brauchte Geld und zur Bank kam er doch leichter mit dem Auto. Wie hätte er ahnen können, dass sich genau auf den paar Kilometern, die er benutzen musste, ein fetter Stau durch die Straßen wälzte. Ungeduldig trommelte er auf das Lenkrad, als sein Blick auf die Auszüge fiel, die er achtlos auf den Beifahrersitz geworfen hatte. Wenn er hier schon seine Zeit vergeudete, konnte er auch seinen desolaten Kontostand betrauern. Er hatte keine Ahnung, wie er Joes Auslagen zurückzahlen sollte. Sein Blick blieb am Saldo hängen und er riss ungläubig die Augen auf. Das musste ein Irrtum sein, das war nicht möglich. Hektisch suchte er die drei Blätter durch, bis er fündig wurde. Ein gewisser Maarten van der Linden hatte ihm zwanzigtausend Euro überwiesen. »Im Auftrag von Kim«, stand im Verwendungszweck. Rick war wie vor den Kopf geschlagen. Zwanzigtausend Euro. Wie kam Kim zu so einem Vermögen? Damit waren all seine Geldsorgen Geschichte. Aber konnte er es überhaupt annehmen? Vielleicht war es ein Versehen und es sollten nur zweitausend Euro sein? Das schien ihm deutlich plausibler. Auf jeden Fall musste er mit Kim sprechen, bevor er etwas davon anrührte.



Hinter ihm erklang ein wütendes Hupkonzert. Als Rick aufsah, entdeckte er, dass sich der Stau auflöste und schon eine Lücke von mindestens fünfzig Metern zu seinem Vordermann klaffte. Eilig ließ er die Kupplung kommen und fuhr an.

Mit mehr als zwanzig Minuten Verspätung langte er schließlich an der Schule an. Er parkte und rannte zum Eingang, doch der Schulhof war leer. Weit und breit waren keine Kinder zu sehen. Rick biss sich auf die Lippe. Vielleicht war Marijke zurück ins Klassenzimmer gegangen? Er eilte in den ersten Stock. Wo war das wieder? Im Vorbeigehen studierte er die Schildchen an den Räumen und wäre beinahe an der »1a« vorbeigelaufen. Die Tür stand offen und Frau Wohlgemut packte ihre Tasche zusammen. Ansonsten war das Zimmer leer.

»Herr Deisser«, sagte sie überrascht. »Kann ich etwas für Sie tun? Gibt es Probleme mit Marijke?«

»Ich will sie abholen, aber ich stand ewig im Stau. Sie ist nicht auf dem Schulhof und ich hatte gehofft, dass sie hier auf mich wartet.«

Frau Wohlgemut schüttelte den Kopf. »Nein, sie ist mit einigen Schülerinnen hinaus gegangen.« Sie ging zum Fenster und sah in den Hof, wie um sich zu vergewissern, dass das Mädchen nicht doch in einer versteckten Ecke hockte. »Vielleicht hat sie sich schon auf den Weg nach Hause gemacht?«

Rick schüttelte den Kopf. »Sie kennt den Weg nicht. Sie müsste öffentliche Verkehrsmittel benutzen und soweit sind wir noch nicht.«

»Sie sollten es ihr zeigen. Marijke ist ein schlaues Mädchen, sie hat das im Handumdrehen raus.«

»Ich bin vermutlich etwas übervorsichtig. Wenn sie sich wenigstens verständigen könnte.«

»Ich verstehe Ihre Besorgnis«, nickte die junge Lehrerin. »Aber wo könnte sie dann sein?«

Rick sah sie erwartungsvoll an. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte, und eine tiefe Angst begann in ihm zu nagen. Die Angst, dass Marijke des Wartens überdrüssig geworden und einfach losgelaufen war.

Frau Wohlgemut legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. »Wir finden sie«, sagte sie fest. »Keine Panik.«

Rick wusste ihre Bemühungen zu schätzen, aber in seiner Vorstellung sah er seine Tochter schon unter einem Auto liegen, sah sich selbst, wie er Kim beichten musste, wie elend er als Vater versagt hatte.



»Kommen Sie.«

Er sah auf. »Wohin?«

»Ins Sekretariat. Marijke versteht sich recht gut mit ihrer Banknachbarin Lea. Vielleicht weiß sie etwas.« Frau Wohlgemut bat die Sekretärin, ihr Leas Telefonnummer aus dem Schülerakt herauszusuchen, und rief augenblicklich an. Sie hielt den Hörer so, dass Rick mithören konnte.

»Frau Orthmann, hier ist Wohlgemut, Leas Lehrerin. Ist sie denn schon zu Hause?«

»Ja, sie macht gerade ihre Hausaufgabe. Gibt es ein Problem?«

»Leas Banknachbarin ist unauffindbar. Ich möchte sie fragen, ob sie weiß, was Marijke nach der Schule gemacht hat.«

Sie hörten die Mutter mit ihrer Tochter sprechen. »Marijke wird immer von ihrem Vater abgeholt, aber heute war er nicht da«, erzählte sie dann.

»Stimmt, er hat sich verspätet, aber Marijke ist nicht mehr hier.«

Rick hörte im Hintergrund ein Mädchen weinen und er sah Frau Wohlgemut fragend an. Auch die Mutter schien erstaunt zu sein. »Lea, was ist los?«

Es dauerte einen Moment, bis das Kind schniefend erzählte. »Wir haben zusammen gewartet, aber dann kam Paul und sagte, dass sie mit uns kommen soll.«

»Paul ist Leas älterer Bruder«, flüsterte Frau Wohlgemut Rick zu. »Er ist in der vierten Klasse.«

»Wie ist er denn auf diese Idee gekommen?«, fragte Frau Orthmann ihre Tochter. »Marijke hat doch sicher einen ganz anderen Schulweg.«

Das Weinen wurde heftiger.

»Ist sie denn mitgegangen?«, fragte Rick.

Die Antwort dauerte einen Moment. »Sie nickt«, sagte Frau Orthmann dann. »Sag mal, Lea, Marijke ist doch deine holländische Freundin, von der du mir erzählt hast. Hat sie Paul überhaupt verstanden?«

»Er hat sie einfach an der Hand genommen und auf die Straße gezeigt. Ich glaube, sie dachte, wir bringen sie heim.«

»Und wo ist sie jetzt?«, fragten alle drei Erwachsenen gleichzeitig.

»Wir sind zur S-Bahn gegangen und Paul hat ihr erzählt, dass sie fünf Stationen fahren muss. Er hat die Hand ausgestreckt und die Finger abgezählt. Ich glaube, sie hat es verstanden.«

»Wie bitte? Ihr habt sie in die S-Bahn gesetzt?« Die Stimme der Mutter überschlug sich fast, als sie nach ihrem Sohn rief. »Paul, komm augenblicklich her!«

»In welche Richtung«, hakte Rick nach, dem es plötzlich eiskalt wurde.



»Zur Innenstadt.« Leas Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern. Sie schluchzte heftig.

»Ich danke Ihnen, Frau Orthmann«, sagte Marijkes Lehrerin. »Jetzt wissen wir zumindest, wo wir suchen müssen.«

»Ich werde Paul noch befragen, ob er mehr weiß als Lea. Seien Sie versichert, dass er mit diesem Streich nicht durchkommt. Geben Sie mir bitte Bescheid, wenn Sie das Mädchen gefunden haben? Ich mache mir Sorgen.«

»Natürlich. Sehr gerne.« Frau Wohlgemut beendete das Gespräch und steckte den Zettel mit der Telefonnummer der Orthmanns ein. »Also, dann los.«

»Sie wollen mitkommen?«, fragte Rick perplex.

»Selbstverständlich. Fünf Stationen mit der S-Bahn von Pasing in die Innenstadt. Wissen Sie, wo sie da landet?« Die Stimme der jungen Lehrerin hatte plötzlich einen nervösen Klang.

»Am Hauptbahnhof«, nickte Rick, dessen Augen zu brennen begannen. »Sollten wir nicht lieber gleich die Polizei benachrichtigen?«

»Wir fahren erst mal selbst hin. Am besten auch mit der Bahn, dann müssen wir keinen Parkplatz suchen und sind schon am richtigen Ort. Kommen Sie, es sind nur ein paar Minuten bis zum Pasinger Bahnhof.«

Ricks Beine bewegten sich automatisch, als er der Lehrerin folgte. Seine Gedanken rasten. Was konnte einem kleinen Mädchen allein am Hauptbahnhof nicht alles passieren? Sein Herz krampfte sich zusammen, als er sich alle möglichen und unmöglichen Szenarien ausmalte.

Frau Wohlgemut löste Tickets für sie beide. »Vielleicht sitzt sie einfach nur auf einer Bank und wartet.«

»Hoffentlich.« Rick sah auf die Uhr. Wo blieb die verdammte Bahn nur? Nervös trat er von einem Fuß auf den anderen und bemerkte, dass die Lehrerin trotz ihrer Worte nicht minder aufgeregt war.

»Marijke ist sehr intelligent. Sie weiß sich bestimmt zu helfen.«

»Aber sie versteht die Leute nicht. Wenn sie wenigstens nach dem Weg fragen könnte.«

»Ja.« Frau Wohlgemut seufzte. »Sie lernt zwar schnell und sie kann auch schon einige Brocken Deutsch, ich befürchte jedoch, dafür wird es nicht reichen.«

Endlich fuhr die S-Bahn mit quietschenden Bremsen ein. Rick versuchte, tief durchzuatmen, während er die Haltestellen mitzählte. Es fiel ihm schwer, sitzen zu bleiben. Am liebsten wäre er in dem engen Wagen auf und ab getigert. Sein Mund war trocken und er ertappte sich dabei, dass er ständig mit der Zunge über seine Lippen fuhr. Als der Zug in den Untergrund ratterte, hielt er unwillkürlich die Luft an. Hatte Marijke Angst bekommen? Der Waggon war natürlich hell erleuchtet, trotzdem war es ein ganz anderes Gefühl, unter der Erde zu fahren.



Endlich, der Hauptbahnhof. Rick stolperte aus dem Waggon. Suchend sah er sich um, aber der Bahnsteig war viel zu lang und die Menschenmassen, die sich in alle Richtungen schoben, viel zu groß, als dass er etwas sehen konnte.

»Sie gehen nach links bis zum Ende des Bahnsteigs, ich nach rechts«, schlug Frau Wohlgemut vor. »Wir treffen uns dann wieder hier.«

Rick nickte und lief los. Während weitere S-Bahnen ein- und abfuhren, schlängelte er sich im Eiltempo an wartenden Menschen vorbei, prüfte jede Bank, ging um jeden Pfeiler herum und sah in jede nur mögliche Ecke, ob sich dort ein verängstigtes Kind zusammenkauerte. Schließlich war das Ende des Bahnsteigs erreicht. Während er einer S-Bahn nachsah, die im dunklen Tunnel verschwand, schlug sein Herz wie ein Dampfhammer. Noch nie im Leben hatte er solche Angst verspürt. Was, wenn sein kleines Mädchen gestolpert und auf die Gleise gestürzt war? Nein, so etwas durfte er nicht denken. In dem Fall wäre es hier nicht so normal zugegangen. Marijke ging es gut.

Er drehte um. Vielleicht hatte Frau Wohlgemut sie gefunden. Doch sie wartete schon am Treffpunkt auf ihn. Allein.

»Tut mir leid«, sagte sie bedauernd.

»Und jetzt?« Rick biss sich auf die Lippe.

»Wir schauen noch ins Bahnhofsgebäude. Vielleicht ist sie eine der Treppen hoch gegangen.«

Mit neuer Hoffnung erfüllt stimmte Rick zu. Gemeinsam nahmen sie den nächsten Aufgang, trennten sich dann jedoch wieder, um die Halle schneller absuchen zu können. Nach zehn Minuten kamen sie beide mit leeren Händen zurück. Rick wurde immer verzweifelter.

»Nichts«, schüttelte Frau Wohlgemut den Kopf. »Ich habe die Betreiber der Kioske gefragt, ob ihnen etwas aufgefallen ist.«

»Ich auch. Aber da achtet niemand darauf, ob ein kleines Mädchen herumirrt.«

»Es wird wohl wirklich das Beste sein, die Polizei zu informieren.« Frau Wohlgemut sah auf die Uhr. »Es tut mir furchtbar leid, aber ich muss nach Hause. Meine Kinder warten bestimmt schon.«

»Sie können sowieso nichts weiter tun. Ich bin sehr dankbar für Ihre Hilfe.«

»Leider hat es nichts genützt«, murmelte die junge Frau. »Kommen Sie, wir fahren zurück.« Sie ging Rick voraus ins Untergeschoss und durch die Schranke. Da sich Pasing gerade noch auf der Stammstrecke befand, passte gleich die nächste einfahrende Bahn. Erschöpft ließ sich Rick auf einen Sitz fallen. Er fühlte sich völlig ausgelaugt. Sein Herz schlug heftig gegen die Rippen und sein Blutdruck war mit Sicherheit auf hundertachtzig. Wörtlich. Wo konnte Marijke nur sein? War sie wieder in eine S-Bahn gestiegen und irrte jetzt irgendwo in München umher?



Frau Wohlgemut holte einen Zettel aus ihrer Hosentasche. »Das ist die Nummer der Orthmanns. Sie können anrufen, ob Paul weitere Informationen hat, obwohl ich das bezweifle. Aber ich schreibe Ihnen meine Rufnummer dazu. Bitte halten Sie mich auf dem Laufenden.«

»Mache ich.« Rick nahm die Notiz entgegen. Für einen Moment dachte er daran, die Adresse der Familie zu erfragen und diesen Paul ordentlich durchzuschütteln. Aber er hatte wirklich Wichtigeres zu tun, außerdem hatte die Stimme der Mutter nicht so geklungen, als würde er ungeschoren davonkommen.

»Wie kommt ein Kind auf so einen Gedanken?«, murmelte er tonlos.

»Wahrscheinlich hielt er es für einen großartigen Spaß. Ich kenne Paul. Er ist kein schlechter Junge, nur vielleicht ein bisschen zu übermütig. Er verschwendet kaum einen Gedanken an die Folgen, die sein Tun haben könnte. Andere Zehnjährige sind da schon deutlich reifer.«

Rick nickte nur. Antworten konnte er nicht, weil er einen dicken Kloß im Hals hatte, der sich nicht hinunterschlucken ließ. Er zückte ein Papiertaschentuch und schnäuzte sich kräftig.

Die Lehrerin legte ihm die Hand auf die Schulter. »Sie finden sie sicher ganz schnell.«

»Ich hoffe es«, presste er hervor.

Der Rest der Fahrt verlief schweigend. Rick bedankte sich bei Frau Wohlgemut und verabschiedete sich, dann rannte er zu seinem Auto. Er würde nach Hause fahren, in der irrigen Hoffnung, Marijke dort wohlbehalten anzutreffen. Sollte das nicht der Fall sein, und da gab er sich keinen Illusionen hin, würde er die Polizei rufen. Die Frage war, wie schnell man sich auf die Suche nach einem vermissten Kind machte. Und wo wollte man Marijke suchen? War sie überhaupt am Bahnhof ausgestiegen? Oder hatte sie sich mit den Haltestellen verzählt? Wo war sie nur?

Natürlich fand er direkt vor seiner Wohnung keinen Parkplatz, sondern musste um die Ecke fahren. Als er den Gehsteig entlang rannte, sah er schon, wie Frau Schramm aus dem offenen Fenster im Erdgeschoss lehnte. Das hatte ihm gerade noch gefehlt.

»Na, Sie haben es ja eilig«, kommentierte sie trocken.

»Ja, meine Tochter ist verschwunden«, stieß er atemlos hervor.

»Ihre Tochter?« Die ältere Frau richtete sich auf. »Das kleine Mädchen ist Ihre Tochter? Wo ist denn eigentlich die Mutter abgeblieben?«



Mist. Er hatte Frau Schramm nicht darüber informiert, dass Marijke bei ihm wohnte. Bestimmt gab das Ärger, aber damit konnte er sich jetzt nicht befassen.

»Genau. Ich wollte sie von der Schule abholen, habe mich aber verspätet. Sie ist fort. Ich muss die Polizei informieren.« Er suchte seinen Haustürschlüssel. Wo war er nur? Hatte er ihn im Auto liegengelassen? Nein, das war ja gar nicht möglich, denn er befand sich zusammen mit dem Autoschlüssel in einem Mäppchen. Er drehte wirklich langsam durch. Seine Hände zitterten, als er versuchte, die Haustür zu öffnen. Erst im dritten Anlauf fand er das Schlüsselloch. Mit einem Seufzer drückte er die Tür auf.

»Herr Deisser, sehen Sie!«

Er wandte sich zu Frau Schramm um, die die Straße entlang deutete. Und da kam sie. Marijke. An der Hand einer Frau in etwa seinem Alter lief sie geradewegs auf ihn zu.

»Ricky«, rief er laut, unendlich erleichtert, sie zu sehen. Das Rumpeln des Felsens, der ihm vom Herzen fiel, musste bis in Australien zu hören sein.

Sie riss sich von der Hand der Frau los. »Pa!«, schrie sie und rannte auf ihn zu.

Rick lief ihr ein paar Schritte entgegen, dann ging er auf ein Knie und breitete die Arme aus. Marijke forcierte ihr Tempo und fiel ihm mit einer solchen Wucht um den Hals, dass er fast umgefallen wäre. Er zog sie mit sich hoch und schwenkte sie im Kreis. »Ricky, meine Ricky«, stammelte er und eine unbändige Freude durchfuhr ihn, während sich Tränen in seinen Augen sammelten. »Bin ich froh, dass ich dich wieder hab. Wo warst du nur?« Als er weiter vor sich hin plapperte, fiel ihm auf, dass Marijke dasselbe tat. Ein wahrer Schwall an holländischen Worten ergoss sich über ihn. Es war völlig egal, dass sie sich nicht verstanden, beide wussten, was der andere sagen wollte.

Schließlich stellte Rick das Mädchen wieder auf die Füße und sah der jungen Frau entgegen, die die Szene lächelnd beobachtete.

»Ich danke dir, dass du meine Tochter heimgebracht hast.« Er streckte ihr die Hand hin. »Ich bin Rick.«

»Daniela«, stellte sie sich vor und lächelte.

»Ich war krank vor Sorge«, gestand er. »Ich war zu spät an der Schule, um sie abzuholen, und ein älterer Schüler fand es anscheinend witzig, sie in die S-Bahn zu setzen. Egal, wo hast du sie gefunden?«



»In Obermenzing. Sie saß auf einer Bank und weinte bitterlich. So viele Menschen liefen einfach vorbei, aber das konnte ich nicht. Ich wollte wissen, was los ist, allerdings verstand ich kein Wort. Ist das holländisch?«

»Ja.« Rick drückte Marijke liebevoll an sich. »Ihre Mutter ist Niederländerin, aber sie musste für ein halbes Jahr nach Amerika. Und während der Zeit ist Marijke bei mir. Das sind gerade mal ein paar Tage und wir gewöhnen uns erst noch aneinander. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass keiner von uns eine Ahnung hat, was der andere sagt.«

Daniela lachte. »Hört sich ziemlich kompliziert an. Ich war mir nicht sicher, was ich tun soll. Ein Kind einfach mitzunehmen kann einem leicht falsch ausgelegt werden. Aber ich dachte, ich bringe sie mal zu dieser Adresse.« Sie wies auf den Einleger, der in einem Sichtfenster an Marijkes Schulranzen steckte. »Ich habe zwei Mal versucht anzurufen, leider vergeblich.«

Rick nickte. »Ich war auf der Suche nach ihr.«

»Natürlich.« Daniela sah auf die Uhr. »Ich muss dann auch wieder los. Ich freue mich, dass ich helfen konnte.«

»Warte. Ich würde mich gern irgendwie erkenntlich zeigen.«

»Ist wirklich nicht nötig.«

»Darf ich dich wenigstens zum Essen einladen?« Die junge Frau gefiel ihm. Äußerlich hatte sie leichte Ähnlichkeit mit Kim. Er hatte definitiv einen Typ, auf den er stand.

»Ich glaube nicht, dass mein Freund das gutheißen würde. Aber danke.« Daniela legte Marijke die Hand auf die Schulter. »Pass gut auf dich und deinen Papa auf, Kleine.«

Marijke nickte eifrig, obwohl sie vermutlich nichts verstanden hatte. Sie winkten der jungen Frau noch nach, dann nahm Rick sie bei der Hand.

»Und jetzt machen wir uns was zu Essen, was hältst du davon?«

Marijke antwortete auf Holländisch und die Welt war wieder in Ordnung.

Als sie ins Haus traten, stand Frau Schramm an ihrer Wohnungstür. »Die Mutter ist Niederländerin?«, fragte sie mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen.

Rick nickte resigniert. Natürlich hatte sie sein Gespräch mit Daniela belauscht. Er konnte nur hoffen, dass sie keine Einwände dagegen hatte, dass seine Tochter vorübergehend bei ihm wohnte. Er hatte wirklich null Lust, sich ausgerechnet jetzt eine neue Bleibe zu suchen.



Frau Schramm lächelte. Tatsächlich, die alte Schrulle konnte lächeln. Und dann sprach sie mit Marijke. Auf Holländisch.

»Machen Sie den Mund zu, Herr Deisser, Sie sehen gerade nicht sehr intelligent aus.« Sie sagte etwas zu Marijke, worauf das Mädchen Rick einen Blick zuwarf und kicherte.

»Sie wissen es vermutlich nicht, aber ich bin selbst Niederländerin.«

»Wirklich? Wie das denn?«

»Stellen Sie sich vor, ich bin dort geboren worden. In Groningen, um genau zu sein. Wissen Sie was? Ich hatte Appetit auf Gulasch, habe aber wie immer zu viel gekocht. Haben Sie Hunger? Dann kommen Sie rein und wir unterhalten uns beim Essen weiter.«

 

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