Kapitel 5: Leora
Anfangs war ich ein wenig überfordert. Also entschied ich mich schließlich, in mein Zimmer zu gehen – oder besser gesagt, es zu finden. Leichter gesagt als getan. Ich verlief mich mehrmals in den endlosen Gängen, die sich alle erschreckend ähnlich sahen. Je länger ich umherirrte, desto mehr wurde mir bewusst, wie riesig dieses Gebäude tatsächlich war. Und irgendwie auch… unheimlich.
Doch nach einer Weile erkannte ich endlich einen vertrauten Korridor und wusste, wo ich abbiegen musste. Als ich an Eryons Tür vorbeikam, blieb mein Blick kurz darauf haften. Wie oft sollte ich wohl nach ihm sehen? Ich nahm mir vor, viel Zeit mit ihm zu verbringen. Aber da er vorhin geschlafen hatte, wollte ich ihn jetzt nicht wecken. Stattdessen setzte ich meinen Weg fort – diesmal mit dem sicheren Wissen, wohin ich ging.
Nur weil sie gesagt hatten, dass er nicht sprechen konnte, bedeutete das nicht, dass er dumm war. Aber verstand er wirklich, dass sein Onkel und seine Tante für eine Weile weg waren? Und wo waren eigentlich seine Eltern? Ich hatte so viele Fragen, doch ich wusste auch, dass sie mich nichts angingen. Ich war nicht hier, um Antworten zu suchen – nur, um mich um ihn und das Haus zu kümmern.
Trotzdem kam mir die ganze Situation immer noch seltsam vor. Wer überließ seinen pflegebedürftigen Neffen einfach einer völlig Fremden?
Mit einem leisen Seufzen trat ich schließlich in das Zimmer neben seinem. Es war ein großes Gästezimmer – schlicht, aber gemütlich. In der Mitte stand ein breites Bett mit einem schlichten Nachttisch daneben. An einer Wand war ein großer Schrankund die gegenüberliegende Seite bestand fast vollständig aus einer Fensterfront. Durch die großen Scheiben konnte ich sehen, wie die letzten Sonnenstrahlen sich über den Horizont zogen. Zu meinem Glück hatte ich sogar ein kleines eigenes Badezimmer.
Ich machte mich daran, meine Sachen auszupacken, ließ mich schließlich aufs Bett sinken und gönnte mir eine ruhige Stunde. Doch als mir auffiel, dass es draußen bereits stockdunkel war, rappelte ich mich auf. Es wurde Zeit, das Abendessen zu machen – und nach Erypn zu sehen.
Also irrte ich wieder eine Weile durch die Gänge, bis ich schließlich eine Treppe ins Erdgeschoss fand. Von dort aus wusste ich, wie ich zur großen Küche gelangte. Während ich durch den Flur lief, fiel mir auf, dass einige Türen mit einem Verbotszeichen markiert waren. Was sie wohl vor mir versteckten?
Ich spürte, wie es in meinen Fingern kribbelte – die Neugier war fast überweltigend. Doch ich musste mich selbst ermahnen. Ich war hier, um einen Job zu erledigen, nicht um Geheimnisse zu lüften. Meine Mum brauchte das Geldund das allein sollte meine Priorität sein.
In der Küche angekommen, entdeckte ich einen Stapel Unterlagen – vermutlich die, von denen Rebecca gesprochen hatte. Ich blätterte durch die Papiere, bis ich auf eine Liste mit Dingen stieß, die Eryon nicht essen durfte. Und das war eine ganze Menge: kein Knoblauch, nichts Süßes, keine Fertiggerichte … Offenbar sollte er bloß ja keinen Spaß am Essen haben.
Aber eine Sache stach besonders hervor – Knoblauch war rot unterstrichen. Warum ausgerechnet Knoblauch? Ich liebte Knoblauch! Doch anscheinend war das hier ein absolutes No-Go.
Gerade als ich aus dem Vorratsraum Nudeln holen wollte, spürte ich plötzlich eine Bewegung an meinem Bein. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Panik durchzuckte michund ich stieß einen erschrockenen Schrei aus, während ich reflexartig zur Seite sprang. Mein Herz raste, mein Atem ging flach.
War da jemand? Oder etwas?
Mein Blick flog hektisch nach unten – und erstarrte.
„Miauuu.“
Ein orangefarbenes Fellknäuel saß seelenruhig da und blinzelte mich mit unschuldigen, schwarzen Augen an. Ich ließ einen nervösen Atemzug entweichen, dann konnte ich mir ein Lachen nicht verkneifen. Mein Adrenalin verpuffte in einem erleichterten Seufzen.
Die Frau hatte erwähnt, dass hier zwei Katzen lebten, aber trotzdem hatte ich nicht damit gerechnet, dass mich eine davon fast in den Herzstillstand treiben würde.
Ich hockte mich hin und fuhr der Katze mit den Fingern über das weiche, dichte Fell. Sie drückte sich genüsslich gegen meine Hand, als hätte sie nur darauf gewartet, gestreichelt zu werden.
„Na, du hast bestimmt Hunger, hm?“ murmelte ich und sah sie amüsiert an.
Ich hatte selbst nie Haustiere gehabt – dafür fehlten uns das Geld und der Platz. Aber Katzen mochte ich. Und diese hier schien mir schon nach wenigen Sekunden ihr Vertrauen zu schenken.
Nachdem ich sie noch eine Weile gekrault hatte, stand ich auf und warf einen Blick in den Ordner, in dem ich vorhin gelesen hatte. Tatsächlich, dort stand etwas über die beiden Kater. Kurz darauf holte ich eine Dose Katzenfutter hervor, öffnete sie und gab etwas in die Schalen. Auch wenn die zweite Katze noch nicht aufgetaucht war, wollte ich sichergehen, dass für beide genug da war.
Danach machte ich mich daran, etwas zu essen zuzubereiten – Nudeln mit Tomatensoße. In den Unterlagen stand nichts darüber, was Eryon gerne aß, nur eine endlos lange Liste mit Dingen, die er nicht essen durfte. Also entschied ich mich für etwas Simples, das eigentlich jedem schmecken musste. Außerdem schmeckte fast alles, was ich kochte, ziemlich gut – zumindest sagte das meine Mum immer.
Ich nahm mir eine Portion und setzte mich ins Esszimmer. Doch schon nach ein paar Bissen stellte ich fest, wie trostlos es war, alleine zu essen. Selbst die Musik aus meinem Handy konnte die Stille nicht vertreiben.
Ich war ein sehr sozialer Mensch und liebte es immer mit anderen was zu machen und zu reden. Doch jetzt saß ich an einem Esstisch, welcher bestimmt für zwanzig Leute bestimmt war und aß meine Nudeln im fast dunklen.
Langsam ging ich nach oben und merkte, wie ich nervös wurde. Das würde die erste wirkliche interaktion sein, die ich mit Eryon haben werde. Ich ging in seinen kleinen Flur und dann in sein Bad. Sollte ich die Spritze ihm vor dem Essen oder erst danach geben?
Auf dem Zettel stand nicht viel, nur dass ich es ihm in den Bauch spritzen soll und das immer immer zur selben Uhrzeit. Außerdem wie man die Spritze aufzieht und sie verwendet. Also entschied ich es nach dem Essen zu machen. Als ich fertig war, räumte ich auf und füllte eine zweite Portion auf einen Teller. Mein Blick blieb kurz auf dem dampfenden Essen hängen.
Jetzt wurde es ernst.
Langsam machte ich mich auf den Weg nach obenund je näher ich Eryons Zimmer kam, desto nervöser wurde ich. Das hier würde meine erste richtige Interaktion mit ihm sein.
Ich trat in den kleinen Flur, dann in sein Badezimmer. Mein Blick fiel auf die Spritze, die auf der Ablage lag. Sollte ich sie ihm vor dem Essen geben oder erst danach?
Die Anweisung war spärlich: In den Bauch injizieren. Immer zur selben Uhrzeit. Dazu eine kurze Erklärung, wie man die Spritze aufzieht und benutzt. Sonst nichts.
Nach kurzem Überlegen entschied ich mich, es nach dem Essen zu machen. Erst einmal musste ich herausfinden, wie Eryon auf mich reagierte.
Nervös blieb ich vor seiner Zimmertür stehen und klopfte mit meiner freien Hand einmal dagegen. Doch kaum hatte ich es getan, fühlte ich mich dumm. Er konnte ja nicht reden – wie sollte er dann „Herein“ sagen?
Also atmete ich tief durch und drückte langsam die Tür auf.
Drinnen war es stockdunkel. Ich tastete nach dem Lichtschalter, doch in dem Moment, kurz bevor ich ihn betätigte, meinte ich für den Bruchteil einer Sekunde, zwei rote Punkte in der Dunkelheit aufleuchten zu sehen.
Mein Herz setzte einen Schlag aus.
Doch als das Licht anging, war da nichts – nur Eryon, der bereits wach war und mich direkt ansah.
„Hey, ich bin Leora“, sagte ich mit einem Lächeln, um die Anspannung in meiner Brust zu überspielen. „Vorhin, als dein Onkel und deine Tante mich eingewiesen haben, hast du noch geschlafen.“
Doch er sagte natürlich nichts. Stattdessen lag sein Blick auf mir – ruhig, aber erstaunlich intensiv.
Jetzt, wo ich ihn im hellen Licht wirklich sehen konnte, fiel mir auf, dass er eine ganz eigene, fast unheimliche Schönheit besaß. Seine Haut war blass wie Porzellan, seine Wangenknochen scharf geschnittenund seine Lippen wirkten fast übernatürlich rot.
Ich weiß, es war falsch, so zu denken. Ich war hier, um mich um ihn zu kümmern. Er war krank. Und doch … wenn jemand hübsch war, fiel es mir einfach auf.
Ich zog mir einen Stuhl heran und stellte ihn neben sein Bett. Auf dem Schreibtisch entdeckte ich eine Fernbedienung, die ich neugierig in die Hand nahm. Ein paar Knöpfe später ließ sich das Bett ein Stück hochstellen, sodass er nun nicht mehr ganz flach lag, sondern sich ein wenig aufrichtete.
„Wie cool ist dieses Bett bitte?“ murmelte ich, während ich mit den Knöpfen spielte. Ein paar weitere Versuche später, stellte ich fest, dass ich nicht einfach so weiter herumschrauben konnte, immerhin lag er hier und ich wollte nicht, dass er sich unwohl fühlte.
Ich schaute wieder von der Fernbedienung hoch und bemerkte, dass er immer noch direkt auf mich starrte. Seine dunkelbraunen Augen waren so intensiv, dass ich fast das Gefühl hatte, sie bohrten sich durch mich hindurch. Was dachte er wohl gerade? Bestimmt, dass ich völlig überfordert war und mich an so einer simplen Fernbedienung erfreute.
Schnell zog ich die Handschuhe an, wie mir gesagt worden war. Ich wollte nicht, dass irgendetwas schiefging.
„Ich wusste nicht genau, was du zu essen magst“, begann ich, während ich mich versuchte, zu beruhigen. „Da ich selbst ein bisschen von der Fahrt erschöpft war, dachte ich, Nudeln mit Tomatensauce wären einfach perfekt.“ Ich war mir nicht sicher, ob er mir zuhörte oder ob er sich nur weiter fragte, warum ich noch immer so nervös war. Doch dann dachte ich, dass er vielleicht tatsächlich interessiert schaute.
Aber vielleicht bildete ich mir das nur ein.
Ich schob den kleinen Tisch über ihn, sodass er bequem über dem Bett essen konnteund stellte das dampfende Essen vor ihm ab. Sollte er es alleine schaffen? Doch er sah eher so aus, als könnte er sich kaum bewegen.
„Kannst du alleine essen?“ fragte ich vorsichtig, obwohl ich nicht wirklich eine Antwort erwartete. Mein Blick fiel auf seine rechte Hand, die schlaff neben ihm lag. Ich beobachtete sie gespannt, als er versuchte, sie zu heben – doch es war ein minimaler, kaum merklicher Versuch. Ein Finger zuckte, aber mehr konnte er nicht erreichen. Ich ließ ihm mehr Zeit, hoffte, dass es irgendwann klappen würde.
Doch nach mehreren Minuten hatte er gerade mal geschafft, den Finger ein kleines Stück vom Bett zu heben, nur damit er dann wieder schwer und kraftlos zurücksank. Als ich auf sein Gesicht blickte, bemerkte ich die Wut, die sich dort zeigte – Frustration darüber, dass es nicht klappte. Es war offensichtlich, dass er sich über sich selbst ärgerte. Wenigstens wusste ich jetzt, dass er mich verstand.
„Kein Problem, wir versuchen es einfach später nochmal“, sagte ich leise und versuchte, ihn mit einem aufmunternden Lächeln zu beruhigen. „Aber jetzt helfe ich dir, bevor das Essen kalt wird.“
Dabei legte ich eine Serviette auf ihn, falls etwas runter fallen sollte, wurde nicht gleich alles schmutzig werden.
Ich nahm den Löffel in die Hand und schob das erste Essen auf ihn drauf. Ich war das ganze schon aus dem Altersheim gewohnt, weswegen es nichts neues für mich war und tatsächlich öffnete er seinen Mund. Dabei kamen seine Stehland weiße und erstaunlich Spitzen Zähne zum Vorschein. Offenbar hatten sie großen Wert auf die Gesundheit seiner Zähne gelegt.
Mir wurde die Stille während ich ihm das essen eingab irgendwann zu unangenehm, weswegen ich einfach anfing ihm Sachen zu erzählen. Ich weiß nicht wieso, aber die unangenehme und kühle Stimmung in dem Raum ging langsam weg, während ich ihm davon erzählte, wie ich hier hergekommen bin und wie schön ich die Insel bis jetzt finde. Innerlich hoffte ich, dass ich ihn nicht nervte, da er ja nicht sagen konnte, dass ich meine Klappe halten sollte.
































Kommentare