Kapitel 6: Leora
Als das Essen endlich leer war, fiel mir plötzlich ein, dass er wahrscheinlich schon den ganzen Abend aufs Klo musste. Wie konnte ich das nur vergessen? Rebecca und Johannes hatten nichts dazu gesagt und meinten nur, dass ich ihn im Bett waschen sollte, aber irgendwann musste er ja auch aufs Klo– mindestens dreimal am Tag.
Schnell stellte ich das Tablett zur Seite und holte den Rollstuhl, den ich in der Ecke gefunden hatte. Wenigstens hatten sie keinen Nachtbecher, sodass er aufs Klo konnte, wie jeder andere auch. Trotzdem machte ich mir Gedanken, wie ich das in den nächsten Wochen regeln sollte – schließlich konnte er mir ja nicht einfach Bescheid sagen oder selbst dorthin gehen. Aber das war ein Problem für später.
„Ich bring dich kurz ins Bad, damit du aufs Klo kannst“, erklärte ich ihm, während ich nochmal sicherstellte, dass meine Handschuhe weit genug hochgezogen waren, um ihm zu helfen, ohne dass unsere Haut sich berührte. Es war irgendwie unangenehm, aber ich wollte sicherstellen, dass alles so reibungslos wie möglich lief.
Ich stellte das Bett richtig ein und hob ihn mit einer schnellen, geübten Bewegung in den Rollstuhl. Erst jetzt fiel mir auf, wie groß er eigentlich war – und gleichzeitig, wie erschreckend dünn. Seine Glieder wirkten fast zerbrechlich unter meinem Griff. Kam das davon, dass er keine Süßigkeiten essen durfte? Oder bekam er generell zu wenig zu essen? Aber er lag doch den ganzen Tag im Bett – sollte man da nicht eher zunehmen als abmagern?
Ich schob den Rollstuhl ins Bad, das in kühlem Weiß gehalten war und seltsam unbenutzt wirkte. Als ich mich gerade vorbeugte, um ihm hochzuhelfen und die Hose herunterzuziehen, spürte ich plötzlich eine Berührung an meinem Arm.
Ich erstarrte.
Langsam senkte ich den Blick und sah seine zitternde Hand, die gegen meinen behandschuhten Unterarm drückte. Sein Griff war schwach, kaum mehr als eine Berührung, aber dennoch unübersehbar. Als ich ihm ins Gesicht sah, bemerkte ich das leichte Kopfschütteln. Oder bildete ich mir das nur ein?
Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, als mir klar wurde, was er mir damit sagen wollte. Er wollte nicht, dass ich ihn nackt sah.
„Okay, folgendes.“ Ich holte tief Luft und spielte nervös mit meiner Unterlippe. „Ich hebe dich aus dem Stuhl, ziehe deine Hose runter – ohne hinzusehen, versprochen – setze dich aufs Klo und gehe dann raus. Einverstanden?“
Ich erwartete eine Reaktion, irgendein Zeichen, doch er blieb stumm. Seine dunklen Augen ruhten auf mir, intensiv und durchdringend, als wollten sie mir etwas sagen, das ich nicht verstand. Und genau das frustrierte mich. Ihn vermutlich noch mehr.
Aber ich konnte nicht ewig warten. Also atmete ich noch einmal tief durch und begann, in von drei runter zu zählen.
Mit einem Ruck hob ich ihn hoch, spürte sein Gewicht – viel zu leicht für jemanden seiner Größe – und zog die Hose herunter, ohne auch nur einen Millimeter nach unten zu blicken. Stattdessen hielt ich meinen Blick fest auf seine Augen gerichtet und zu meiner Überraschung tat er dasselbe.
Wir starrten uns an, wortlos, während ich ihn auf die Toilette setzte.
Kaum war es geschafft, schnappte ich mir die Spritze und das Medikament von der Ablage und verließ den Raum mit einem leisen, fast erleichterten Ausatmen. Ich lehnte mich kurz an die Tür, ließ den Kopf nach hinten sinken und schloss die Augen.
Zurück in seinem Zimmer riss ich erst einmal das Fenster auf. Schon beim ersten Betreten hatte ich bemerkt, wie stickig die Luft hier war – als hätte wochenlang niemand gelüftet.
Ich wandte mich ab und konzentrierte mich auf die Spritze. Vorsichtig zog ich die klare, leicht zähflüssige Flüssigkeit auf. Was genau das für ein Medikament war, hatte mir niemand erklärt. Es sah irgendwie… seltsam aus. Dicker als normale Medikamente, fast wie Sirup. Aber ich hatte keine Zeit gehabt fragen zu stellen.
Gerade als ich fertig war, hörte ich plötzlich die Spülung im Bad.
Mir stockte der Atem.
Das konnte nicht sein. Er konnte sich doch nicht bewegen… oder?
Ein unangenehmes Kribbeln lief mir den Rücken hinunter, als ich hastig zur Badezimmertür eilte und sie aufriss.
Eryon saß nicht mehr auf der Toilette. Er saß wieder im Rollstuhl. Oder besser gesagt – er hing schräg darin, als wäre er mitten in der Bewegung erstarrt. Seine Hose war hastig hochgezogen, aber nicht ganz richtig, als hätte er es selbst versucht.
Mein Herz klopfte schneller.
„Was zur Hölle…?“ Mein Blick flog zwischen ihm und der Toilette hin und her. „Wie hast du das gemacht?“
Er sagte nichts. Natürlich nicht. Aber seine dunklen Augen ruhten auf mir, unergründlich und viel zu durchdringend.
Vielleicht… vielleicht konnte er sich doch ein wenig bewegen? Hatte ich ihn unterschätzt?
Ich schluckte und hob die Spritze.
„Ich gebe dir jetzt deine Medikamente und bringe dich dann wieder ins Bett, okay?“ versuchte ich, mir nichts anmerken zu lassen. Mein Lächeln fühlte sich ein wenig zu steif an, als ich auf die Flüssigkeit in meiner Hand deutete.
Plötzlich fing das Licht im Bad an, leicht zu flimmern. Ich runzelte die Stirn. Es war ein altes Haus, wahrscheinlich nichts Ungewöhnliches. Trotzdem jagte mir das flackernde Licht einen kurzen Schauer über den Rücken.
Ich trat näher an Eryon heran und wollte gerade sein T-Shirt leicht anheben, als ich plötzlich eine Berührung spürte.
Seine Hand, schwach, zitternd, aber eindeutig gegen meinen Handschuh gedrückt.
Mein Blick wanderte sofort zu seinem Gesicht. Seine Augenbrauen waren minimal zusammengezogen – ein Ausdruck von Frustration? Ärger? Hätte ich nicht genau hingesehen, wäre es mir gar nicht aufgefallen.
Und dann geschah es.
Nur für eine Millisekunde.
Seine Augen… sie waren rot.
Ein tiefes, unnatürliches Rot, das kurz aufblitzte und genauso schnell wieder verschwand.
Ich blinzelte, mein Herz schlug einen Schlag schneller. Hatte ich mir das nur eingebildet? Lag es am schlechten Licht?
Eryon bewegte sich nicht, sein Blick lag weiterhin auf mir – dunkel, eindringlich, als würde er genau wissen, was ich gerade gesehen hatte.
Ich schluckte und zwang mich, mich nicht beirren zu lassen. Mit leicht zitternden Fingern hob ich sein Shirt an.
Und erstarrte.
Überall Wunden.
Tief, frisch, vernarbt – ein chaotisches Muster aus Schmerz. Einstichstellen, als hätte man ihm unzählige Nadeln in die Haut gerammt. Doch noch schlimmer waren die anderen Wunden. Tiefer, unregelmäßiger… einige sahen aus, als wären sie erst vor Kurzem entstanden.
Mir wurde plötzlich eiskalt.
„Was ist da nur passiert?“ murmelte ich verwirrt, mein Blick immer noch auf die Wunden gerichtet. Doch wie immer kam keine Antwort.
Ich schluckte. „Ich werde dir jetzt vorsichtig die Spritze geben. Es tut mir leid, falls es weh tut. Ich mag selbst keine Spritzen… aber es muss sein. Ich gebe mein Bestes, okay?“ versuchte ich, ihm gut zuzureden.
Langsam, so behutsam wie möglich, setzte ich die Nadel an und spritzte ihm den Inhalt.
Das Licht flackerte erneut.
Schnell half ich ihm noch, seine Hände und sein Gesicht zu waschen, bevor ich ihn wieder ins Bett legte.
Gerade als ich mich umdrehte, um das Zimmer zu verlassen, fiel mein Blick auf ihn – und ich stellte überrascht fest, dass seine Augen bereits geschlossen waren.
War er schon eingeschlafen?
Machte das Medikament so müde?
Ich blieb kurz stehen, sah ihn an und flüsterte leise: „Gute Nacht.“
Dann verließ ich den Raum, ging in mein eigenes Zimmer und machte mich selbst fürs Bett fertig.































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