Kapitel 8
                            Als ich nach draußen in den Garten gehen wollte, blieb mein Blick an den Bildern im Flur hängen, die mir bereits gestern aufgefallen waren. Viele davon schienen uralt zu sein, doch eins fesselte meine Aufmerksamkeit besonders, es war das letzte in diesem Flur.
Es zeigte eine vierköpfige Familie – eine Mutter, einen Vater, ein Mädchen und einen Jungen. Alle wirkten ungewöhnlich blass, doch ihre Gesichter zierten freundliche Lächeln. Sie standen direkt vor diesem Haus, doch ihre Kleidung sah aus, als wäre das Foto vor vielen, vielen Jahren aufgenommen worden.
Ich betrachtete es genauer, denn irgendetwas an dem Jungen kam mir seltsam vertraut vor.
Schwarzes Haar, blasse Haut, rote Lippen und diese Grübchen … Mein Herz schlug schneller. Er sah genau aus wie Eryon. Sein Gesicht, seine Züge – alles stimmte überein. Aber das konnte unmöglich sein.
Zum einen wirkte das Bild, als wäre es vor über hundert Jahren entstanden und zum anderen lag Eryon doch oben im Bett. Bewegungsunfähig.
Irgendetwas kam mir seltsam vor. Aber es konnte auch einfach nur ein Bild von seinem Ur-Ur-Ur-Großvater gewesen sein, der ihm verdammt ähnlich sah. Seufzend schüttelte ich den Kopf und beschloss, endlich wirklich nach draußen zu gehen.
Kaum draußen, empfing mich eine frische Brise. Mein Haar verwuschelte sich, doch das kümmerte mich nicht. Heute war es etwas kühler als gestern, aber immer noch angenehm genug, um ohne Jacke draußen herumzulaufen.
Ich ging um das Haus und fand hinter dem Gebäude tatsächlich einen Hühnerstall sowie einen kleinen Gemüsegarten. Es war offensichtlich, dass sie hier wirklich gerne lebten und viel anbauten. Vielleicht sollte ich heute noch die Pflanzen gießen. Hoffentlich überlebten die Pflanzen mich.
Aber zuerst sollte ich die Hühner rauslassen, wie es auf dem Zettel stand, damit sie im eingezäunten Bereich herumlaufen konnten. Danach musste ich sie füttern und die Eier einsammeln. Ich holte das Futter und öffnete das kleine Tor, das in den Bereich führte.
Gerade als ich den Stall aufmachte, stürmte mir ein ganzer Haufen Hühner entgegen. Fast wäre ich erschrocken, so schnell sprangen sie heraus. Doch als ich mich umdrehte, wurde mir klar, wie dumm ich gewesen war – ich hatte das Tor offen gelassen.
    
    
        
        
„Och nein!“ schrie ich, als ein Huhn blitzschnell aus dem Stall schoss wie ein entfesselter Rennfahrer. Panisch warf ich das Futter auf den Boden – die anderen Hühner waren sofort abgelenkt – und rannte zum Tor, um es zuzuschlagen.
Dann begann das epische Duell: Ich gegen ein einzelnes, flauschiges, aber extrem flüchtiges weißes Huhn.
Das Biest hatte eindeutig mehr Erfahrung im Wegrennen als ich. Immer wenn ich dachte, ich hätte es in die Ecke getrieben, legte es eine scharfe Kurve hin, sodass ich ins Leere griff. Dann machte es etwas, das mich wirklich glauben ließ, dass es mich verarschen wollte: Es blieb stehen, drehte sich zu mir um und blinzelte langsam. Frechheit!
„Dich krieg ich noch!“ fauchte ich und setzte zum finalen Sprint an.
Was dann geschah, war eine Tragödie für meine Würde: Ich rutschte aus, weil das Huhn mal wieder einen abrupten Richtungswechsel machte und landete mit voller Wucht im Matsch. Ich blieb kurz liegen, spürte, wie sich der feuchte Schmutz langsam durch meine Kleidung arbeitete und seufzte tief.
Das Huhn blieb stehen und sah mich an. Ich schwöre, es grinste.
„Na warte!“ knurrte ich, während ich mich wieder aufrappelte und meine dreckigen Hände am Hosenbein abwischte. Nach 20 Minuten, in denen ich mein Leben überdachte, gelang es mir endlich, das flügelige Chaos einzufangen.
Kaum hatte ich es gepackt, flatterte es wild herum. Fast wäre es mir wieder entwischt, aber dann hielt ich es noch fester und sah ihm tief in die schwarzen Knopfaugen.
„Wenn du dich noch einmal bewegst, dann koche ich dich heute zum Abendessen!“ zischte ich drohend.
Ich öffnete das Tor und ließ das Huhn zu den anderen. Dieses Mal achtete ich sorgfältig darauf, die Tür hinter mir zu schließen. Mein Haar war voller Dreck, genauso wie der Rest meines Körpers.
Seufzend machte ich mich daran, diese Höllenkreatur zu füttern. Doch als ich drinnen die Eier in eine Box legte, stellte ich erst fest, wie sehr sie mit Scheiße bedeckt waren. Obwohl es eigentlich klar war, da es aus ihnen heraus kam, konnte ich meinen Ekel nicht unterdrücken.
„Ich hasse Hühner“, flüsterte ich und erinnerte mich daran, dass ich das alles für meine Mutter tat – und dafür gut bezahlt wurde.
    
    
        
        
Nachdem ich fertig war, kümmerte ich mich noch um den kleinen Gemüsegarten. Ich goss die Pflanzen und pflückte reifes Gemüse. Den Gänsen legte ich nur das Futter hin – mehr brauchten sie nicht.
Eigentlich hatte ich heute die Insel noch ein wenig erkunden und vielleicht im Meer baden wollen. Doch nach diesem ganzen Abenteuer war ich viel zu erschöpft.
Draußen zog ich fast meine gesamte Kleidung aus, um das Schloss nicht mit Dreck zu beschmutzen. Meine Jeans war voller Schmutz und Grasflecken, mein Shirt klebte an mir und ich wollte nicht riskieren, Spuren auf dem makellosen Boden zu hinterlassen. Außerdem konnte mich hier sowieso niemand sehen – es kümmerte wirklich niemanden, dass ich nur in Unterhose herumstand.
Oben angekommen, seufzte ich erleichtert, als ich unter die heiße Dusche trat. Das warme Wasser prasselte auf meine Haut, löste den Dreck und die Anspannung aus meinen Muskeln. Als ich schließlich mein Haar trocken föhnte, fühlte ich mich endlich wieder sauber und frisch. Als ich mit allem fertig war, war es schon Nachmittag.
In der Küche entschied ich mich, eine Schale Popcorn zu machen. Gestern hatte ich ein wenig im Vorratsraum gestöbert und festgestellt, dass dort Unmengen an Lebensmitteln lagerten – darunter auch mehrere Packungen Mais zum Poppen. Der süßlich-buttrige Duft breitete sich im Raum aus, als ich den ersten Bissen nahm.
Mit der warmen Schale Popcorn und meinem alten, aber treuen Laptop – den ich nun schon seit fünf Jahren besaß, der aber trotz seines Alters sein Bestes tat – machte ich mich auf den Weg zu Eryons Zimmer.
Vorsichtig spähte ich hinein. Doch zu meiner Überraschung schlief er immer noch. Sein Gesicht lag entspannt auf dem Kissen, seine Atemzüge waren ruhig und gleichmäßig. Hatte er wirklich den ganzen Tag verschlafen? Ich stellte mein Zeug leise ab und trat langsam näher an ihn heran.
„Eryon“, versuchte ich es erneut mit seinem Namen. Klar, ich hätte ihn einfach weiterschlafen lassen können – es wäre schließlich nicht meine Aufgabe, ihn zu unterhalten. Solange er am Leben blieb, würde ich trotzdem mein Geld bekommen. Aber das fühlte sich falsch an. Ich wollte nicht nur darauf achten, dass er atmete – ich wollte, dass er sich wohlfühlte, dass er auch ein bisschen Freude hatte.
    
    
        
        
Also streckte ich vorsichtig meine Hand aus – natürlich wieder mit Handschuhen – und schüttelte sanft seine. Ich bemühte mich, ihn so behutsam wie möglich zu wecken, damit er sich nicht wieder erschreckte. Doch kaum berührte ich ihn, rissen seine Augen voller Panik auf. Sein ganzer Körper zuckte, als hätte ich ihn mit einem Elektroschock getroffen.
Erst als er mich erkannte, entspannte sich sein Blick langsam, sein Atem beruhigte sich ein wenig. Trotzdem blieb ein Rest Anspannung in seinen Zügen. Warum reagierte er so? Lag es an den Wunden an seinem Bauch? War da mehr, als man mir gesagt hatte?
Ich schüttelte den Gedanken ab. Unsinn. Seine Tante und sein Onkel wirkten nicht wie Menschen, die ihm etwas antun würden. Vielleicht lag es einfach an seiner Krankheit – oder daran, dass er generell ein nervöser Mensch war.
„Hey, sorry fürs Wecken, aber ich dachte, wir könnten vielleicht ein bisschen was zusammen machen?“ fragte ich ihn mit einem entschuldigenden Lächeln. Ich hatte mir nichts Großes überlegt – nach so einem Tag klang ein entspannter Filmabend aber ziemlich verlockend.
Während ich sprach, fiel mir auf, dass in seinem Zimmer kein Fernseher stand. Seltsam. Wenn ich nicht reden oder mich bewegen könnte, würde ich doch zumindest den ganzen Tag Serien und Filme durchsuchten, um mich abzulenken.
„Ich hab meinen Laptop dabei und dachte, wir könnten uns ein paar Filme reinziehen.“
Ich hatte eine Auswahl an Disney- und Kinderfilmen im Kopf. Nicht, weil ich glaubte, dass er wie ein Kind denken würde, aber ich wusste einfach nicht, wie stark seine Krankheit sein Gehirn beeinflusste. War er geistig auf dem Niveau eines Mannes Mitte 20 – oder doch jünger? Aber ehrlich gesagt, liebte ich Zeichentrickfilme selbst total, also war es für mich die perfekte Wahl.
Ich zog seinen Betttisch heran und war überrascht, wie weit man es eigentlich wegschieben konnte. Schnell stellte ich meinen Laptop darauf, fuhr das Bett ein Stück höher, sodass er aufrechter saß und startete Ich – Einfach unverbesserlich.
Als ich mich wieder zu ihm umdrehte, bemerkte ich seinen Blick – schockiert, vielleicht sogar ein wenig ängstlich. Kannte er es nicht, Filme zu schauen? Oder lag es daran, dass er einfach nicht wusste, was er von dieser Situation halten sollte?
    
    
        
        
Ich entschied mich, es zu ignorieren und ließ mich entspannt auf dem Stuhl neben seinem Bett nieder. Der Film begann und während die ersten Szenen über den Bildschirm flimmerten, beobachtete ich immer wieder unauffällig sein Gesicht.
Seine anfänglich angespannte Miene löste sich langsam, seine Stirn glättete sich und irgendwann erkannte ich es – echtes Interesse. Fast so, als würde er zum ersten Mal bewusst in eine andere Welt eintauchen.
Erst als ich selbst in den Film versunken war, fiel mir das Popcorn wieder ein. Ich griff mit meiner unbehandschuhten Hand in die Schüssel, nahm ein paar Körner und ließ sie mir genüsslich auf der Zunge zergehen.
Nach einer Weile kam mir eine Idee, auch wenn es Verboten war. Ohne groß nachzudenken, nahm ich ein einzelnes Popcorn und hielt es ihm hin. Seine Augen folgten der Bewegung misstrauisch, doch dann öffnete er leicht die Lippen und ließ mich das Stück hineinlegen.
Kaum hatte er darauf gebissen, weiteten sich seine Augen und sein Mund öffnete sich ein weiteres Mal – eine stumme Aufforderung nach mehr.
Ich konnte mir ein leises Lachen nicht verkneifen. „Hat wohl jemand was Neues entdeckt, was?“ flüsterte ich amüsiert, bevor ich ihm noch ein paar weitere reichte.
Ein Grinsen stahl sich auf meine Lippen, als ich ihm immer wieder Popcorn in den Mund schob. Er nahm es jedes Mal bereitwillig an, als hätte er noch nie zuvor so etwas probiert – und vielleicht war das ja sogar der Fall. Sein Blick leuchtete auf eine Weise, die mich beinahe verlegen machte, als hätte ich ihm ein kleines Stück Glück geschenkt, das er nie erwartet hätte.
Trotzdem nagte eine Frage an mir. Warum erlaubten sie ihm nichts Süßes? Er wirkte in diesem Moment so glücklich, als hätte er sich seit Ewigkeiten nicht mehr über Essen gefreut. Und dann war da noch etwas anderes – er war dünn. Zu dünn.
Mein Blick glitt unauffällig über seine schmalen Handgelenke und seine blassen Wangen. War das wirklich nur seine Krankheit? Oder lag es daran, dass man ihn hier nicht richtig versorgte?
War das wirklich nur seine Krankheit? Oder lag es daran, dass man ihn hier nicht richtig versorgte?
…
Verschlafen blinzelte ich und versuchte, mich zu orientieren. Wo war ich? Ein leichter Druck an meinem Arm zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Verwirrt senkte ich den Blick – und bemerkte, dass ich in Eryons Zimmer war.
    
    
        
        
Mein Laptop stand noch auf dem Betttisch, der Bildschirm zeigte den Abspann des Films. Ich musste wohl während des zweiten Films eingeschlafen sein.
Dann spürte ich die Berührung erneut. Mein Blick wanderte langsam zu meinem Arm, an dem ich noch immer den Handschuh trug. Überraschung durchfuhr mich, als ich sah, dass Eryons Hand darauf ruhte.
Verwundert hob ich den Kopf und traf seinen Blick. Er beobachtete mich. Still, wachsam – vielleicht sogar ein wenig intensiver als sonst.
War es nur die Dämmerung, oder wirkten seine Augen dunkler als zuvor? Hatte er mich die ganze Zeit über angestarrt? Oder war seine Hand einfach nur zufällig vom Bett gerutscht?
„Ich muss wohl eingeschlafen sein“, murmelte ich mit rauer Stimme und versuchte, meine Müdigkeit abzuschütteln. Sanft nahm ich seine Hand und legte sie wieder zurück auf das Bett, begleitet von einem leichten Lächeln.
Als ich auf die Uhr sah, verzog ich das Gesicht. Abend. Mist. Ich hatte noch Essen zu kochen und meine restlichen Aufgaben zu erledigen. Seufzend rieb ich mir die Augen. So viel zum entspannten Abend.
„Ich mach dann mal was zu essen. Ich komme gleich wieder, wenn alles fertig ist“, sagte ich mit einem kurzen Blick zu Eryon, bevor ich sein Zimmer verließ.
Unten in der Küche wurde ich sofort von zwei hungrigen Katern empfangen, die mir um die Beine strichen und maunzend ihr Futter einforderten. Schmunzelnd beugte ich mich hinunter und gab ihnen ihr Abendessen.
Während sie genüsslich fraßen, breitete sich eine unheimliche Stille im Haus aus. Die Dämmerung tauchte alles in ein blasses Licht und plötzlich wirkte das alte Gemäuer viel größer – und leerer. Ein leichter Schauer lief mir über den Rücken.
Um die seltsame Atmosphäre zu vertreiben, begann ich, mit den Katzen zu reden. Ich machte mich daran, einen schnellen Auflauf zuzubereiten. Während er im Ofen garte, summte ich leise zu den Liedern mit, die aus meinem Handy dudelten. Dabei achtete ich darauf, nicht zu viel Unordnung in der Küche zu machen – schließlich sollte ich alles sauber halten.
				
				


























Kommentare