Kapitel 9
Nachdem ich selbst gegessen hatte und ihm sein Abendessen gebracht hatte, erzählte ich ihm von der Geschichte mit den Hühnern von heute Morgen. Kurz hatte ich das Gefühl, dass sich ein winziges Lächeln auf seinem Gesicht abzeichnete. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber ich konnte nicht anders, als selbst zu schmunzeln, als ich daran dachte, wie ich in den Matsch gefallen war und dem Huhn eine Ewigkeit hinterhergerannt war.
Nachdem er gegessen hatte, machte ich ihn im Bad fertig und gab ihm seine Spritze, bevor ich ihn wieder ins Bett legte. Auch dieses Mal schlief er sofort ein. Langsam bekam ich das Gefühl, dass es wirklich an dem Medikament lag. Es war in Ordnung, dass er in der Nacht schnell einschlief, aber ich musste ihm das ja auch morgens geben. Vielleicht sollte ich mich mal informieren, um was für ein Medikament es sich da handelte.
Ich ging schlafen, aber auch die Nacht fühlte sich irgendwie fremd und unheimlich an. Das Gebäude war einfach viel zu groß und leer und es gab viel zu viele unbekannte Geräusche, als dass ich einen festen Schlaf finden konnte. Am Morgen war ich schon früh wach und telefonierte eine Weile mit meiner Mum.
Als ich mich für den Tag fertig gemacht hatte, schaute ich, wie gestern schon, in Eryons Zimmer, der tief und fest schlief. Er war wirklich kein Morgenmensch. Also ließ ich ihn noch eine Weile schlafen und machte Frühstück – für mich und für ihn. Ich bereitete ein Rührei zu, das ich auf zwei Teller verteilte. Was würde schon gegen Ei sprechen? Außerdem schmierte ich ihm diesmal nur ein Käse- und ein Honigbrot. Gestern hatte es ihm viel zu gut geschmeckt.
Gerade war ich mit meinem Frühstück fertig, als ich ein merkwürdiges Geräusch hörte. Als ob das Haus nicht sowieso schon unheimlich genug wäre, stand ich langsam auf, ging den viel zu langen Flur entlang und blieb mitten darin stehen. Hatte ich mir das Geräusch nur eingebildet?
Doch plötzlich hörte ich ein lautes Scheppern, was mich aufschrecken ließ. Sofort schlug mein Herz schneller. Langsam ging ich den Flur entlang und war plötzlich in einem Bereich, in welchem ich mich noch nie befunden hatte. Es war ein weiterer. Schmalerer Flur, aber ich war mir sicher gewesen, dass das Geräusch von dort aus kam. Hier war es etwas dunkler, was meine Nervosität nur noch steigerte.
Ich hörte wieder ein leises Rumpeln und jetzt war ich mir sicher, dass es von der zweiten Tür kam, auf der in fetten Buchstaben „Zutritt Verboten“ stand, wie gefühlt auf fast jeder Tür im Haus. Aber wenn da drinnen etwas war, musste ich nachsehen. Nicht, dass es eine wirkliche Gefahr darstellte. Die beiden würden es bestimmt verstehen, außerdem würden sie nicht mitbekommen, dass ich nur kurz in den Raum schaute, um sicherzustellen, dass alles in Ordnung war.
Mit einem neuen Schub Selbstbewusstsein legte ich meine Hand auf die Türklinke und drückte sie langsam herunter. Zu meinem Erstaunen ging die Tür einfach auf. Sie hätten auch alle Türen abschließen können, damit ich nirgendwo hineinkomme.
Ich schaltete sofort das Licht ein und das, was ich sah, ließ mich mitten in meiner Bewegung innehalten. Nicht, weil plötzlich ein Monster vor mir stand, sondern weil ich realisierte, um was für einen Raum es sich handelte.
Überall hingen Waffen. Gewehre, Pistolen, Revolver, Messer, Bögen, Armbrüste, Schwerter – alles, was man sich nur vorstellen konnte. Warum hatten sie so viele Waffen? Und warum auch so viele altmodische? Ich hatte noch nie so viele gesehen. In vielen Staaten in den USA war es üblich, Waffen zu besitzen, aber in dem, wo ich wohnte, war das nicht ganz so erlaubt – vor allem nicht in diesem Ausmaß.
Ein schwerer Kloß bildete sich in meinem Hals, als mir klar wurde, wie illegal das alles hier war. Warum brauchten sie so viele Waffen? Waren sie gefährliche Leute? Doch ich würde sie nicht verraten. Zum einen hatte ich nichts mit ihnen zu tun und zum anderen waren sie die einzigen, die mir das Geld für die Behandlung meiner Mutter gaben. Und ich durfte nicht einmal in diesem Raum sein. Was verbarg sich wohl in den anderen verbotenen Räumen? Hatten sie noch mehr Illegales zu verstecken?
Plötzlich hörte ich ein rascheln und als ich eine Bewegung aus dem Augenwinkel erfasste, konnte ich nicht anders, als aufzuspringen. Doch es war nur eine Ratte, die anscheinend ein Gewehr heruntergeworfen hatte. Sie war wirklich dick.
Als sie mich sah, starrte sie mich für einen winzigen Moment an, bevor sie in Panik davonflitzte und sich in eine hintere Ecke verkriechte. Wahrscheinlich war sie einfach aus irgendeinem Loch gekrochen und lief hier ständig auf und ab.
Trotzdem beschloss ich, das Gewehr aufzuheben, um nicht verdächtigt zu werden, hier drinnen gewesen zu sein. Als ich es anfasste, war ich überrascht von seinem Gewicht – es war schwerer, als ich dachte und wirkte schon ziemlich alt. Doch als ich so nah an den Waffen stand, fiel mein Blick auf das Messer, das neben dem Gewehr lag.
„Okay, das nenne ich jetzt mal richtig gruselig…“ flüsterte ich, mehr zu mir selbst als zu irgendjemandem anders und starrte das Messer an. Es war mit dunklem, rostigem Blut besudelt und ich konnte mich nicht davon abhalten, mir vorzustellen, was dort passiert sein mochte.
Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, doch ich verdrängte die Gedanken, versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken, warum Blut auf dem Messer war und verließ hastig das Zimmer.
Aber meine Neugier war geweckt. Langsam und vorsichtig ging ich zur gegenüberliegenden Tür, auf der ebenfalls ein „Zutritt verboten“-Schild prangte. Was könnte sich dort wohl verbergen? Vielleicht fand ich hier noch mehr illegale Dinge? Warum hatten sie überhaupt all diese Türen, wenn sie mir so sehr vertrauten? Vielleicht hätten sie besser abschließen sollen…
Für einen kurzen Moment stellte sich in meinem Kopf ein erschreckender Gedanke ein – war ich vielleicht in einem Horrorfilm? Verführten sie junge Frauen hierher, nur um sie zu… beseitigen? Der Gedanke war so absurd, dass ich ihn sofort wieder verdrängte. Doch trotzdem konnte ich das Gefühl nicht abschütteln, dass etwas im Haus nicht stimmte.
Der Raum, in dem ich jetzt stand, war nicht ganz so unheimlich wie der andere. Es handelte sich um eine kleine Bibliothek, die aussah, als hätte sie schon mehrere Hundert Jahre überlebt.
Ich ging langsam durch die Reihen, meine Finger glitten über die zerfurchten Buchrücken. Komischerweise schienen alle Titel sich mit übernatürlichen Themen zu beschäftigen. Hatten diese Menschen sich mit solchen Dingen beschäftigt? War diese Familie etwa in einer Sekte? Meine Neugierde wuchs, als ich einen der Bände zog und den Titel las: „Vampir Grundlagen“. Es war ein sehr altes Exemplar, aber immer noch gut erhalten – fast so, als ob es nie wirklich benutzt worden wäre.
Ein seltsames Gefühl stieg in mir auf, als ich das Buch in den Händen hielt. Ohne weiter darüber nachzudenken, steckte ich es in meine Tasche. Schließlich hatte ich noch einen Monat Zeit, es zurückzugeben und die Neugier überstieg meine Zweifel.
Mit dem Buch und dem Essen für Eryon ging ich wieder die Treppen hinauf. Doch je mehr ich darüber nachdachte, desto unheimlicher kam mir das ganze Gebäude vor. Diese einsame Insel, die ständigen verbotenen Türen, die merkwürdigen Bücher… alles fühlte sich irgendwie… falsch an. Als ich das Buch schließlich in mein Zimmer legte, konnte ich das Gefühl nicht abschütteln, dass ich hier nicht nur eine einfache Arbeit erledigte, sondern in etwas hineingeraten war, das ich nicht verstand – und das mich mehr und mehr verängstigte.
Das unangenehme Gefühl, dass hier etwas gewaltig nicht stimmte, ließ mich einfach nicht los. Zuerst das Bild, dann Eryon – abgemagert, mit Wunden übersät und ein Leben, das so eingeschränkt war, dass er keine Freude oder Freiheit erleben durfte. Und nun noch die Waffen und diese mysteriösen Bücher. Alles schien so, als würde es zu einem unheimlichen Puzzle gehören, das sich immer mehr zusammenfügte.
Ich konnte es nicht mehr ignorieren – es fühlte sich an, als wäre ich in einem schlechten Horrorfilm über Sekten gelandet. Doch dann schoss mir der Gedanke durch den Kopf: Das hier war kein Film, das war die Realität. Und in der Realität durfte ich nicht anfangen, eins und eins zusammenzuzählen, die mir Angst machten. Wenn ich wirklich alles verstand, was hier vor sich ging, dann würde ich meinen Job verlieren. Und was noch schlimmer war – ich würde das Geld für meine Mutter nicht verdienen. Das war der einzige Grund, warum ich hier war.
Ich konnte und wollte nicht die ganze Wahrheit herausfinden was hier vor sich ging. Nicht, wenn es bedeutete, dass ich meine Familie und meine Zukunft aufs Spiel setzen würde. Ich brauchte das Geld und ich würde auch für eine Sekte arbeiten. Nach dem mein Vater gegangen war, war sie meine ganze Welt geworden. Also nahm ich mir auch vor keine weiteren Nachforschungen in diesem Haus anzustellen.
Also ging ich in Eryons Zimmer und tat so, als wäre nichts gewesen. Natürlich schlief er wieder, wie immer und ließ sich nicht so einfach wecken. Diesmal klappte es erst, als ich ihn sanft berührte. Es beunruhigte mich, dass er jedes Mal panisch aufwachte, als ob er mit etwas Schlimmem rechnete. Erst als er mich sah, entspannte er sich, als würde er erkennen, dass ich ihm nichts Böses wollte.
„Guten Morgen, ich hoffe, du hast gut geschlafen“, sagte ich und richtete sein Bett nach oben. „Ich hab nicht so gut geschlafen. Die Geräusche in diesem großen Haus sind noch ziemlich ungewohnt.“
Es war seltsam, aber ich hatte das Gefühl, ihm alles erzählen zu können und dass er mir zuhören wollte. Immer wenn ich mit ihm sprach, schien sein Blick an meinen Lippen zu hängen, als wollte er jedes Wort in sich aufnehmen. Ich hoffte, dass er mich verstehen konnte und sich darüber freute, dass jemand sich Zeit für ihn nahm und mit ihm redete. Ich würde mir an seiner Stelle genau das wünschen.
Ich gab ihm wieder sein Essen und auch dieses Mal schien es ihm wirklich zu schmecken. Sowohl das Rührei als auch das Honigbrot konnte er kaum schnell genug essen. Vielleicht war es nur Einbildung, aber heute wirkte er ein kleines Stück fitter, gesünder – und auch ein wenig glücklicher.
Ein funkelndes Glitzern in seinen Augen, als er das Essen genoss, ließ mich für einen Moment innehalten und mein Herz einen Schlag schneller schlagen. Irgendwie machte es mich unendlich glücklich, ihn so zu sehen, als ob er für einen Augenblick all das Leid vergessen konnte. Auch wenn in diesem Haus vieles schief zu laufen schien, war er immer noch der Einzige, der es schaffte, mein Herz zu berühren – der Normalste von all dem hier.
Nach dem Essen ging ich wieder mit ihm die gewohnte Routine durch. Ich ließ ihn eine Weile alleine im Bad, während ich sein Bett frisch machte, den Raum durchlüftete und seine Spritze auffüllte. Danach wusch ich ihn und zog ihm frische Kleidung an, bevor ich ihm die Spritze gab.
Als wir wieder im Bett waren, war er sofort eingeschlafen. „Ich komme später wieder, dann können wir etwas unternehmen“, versprach ich ihm, bevor ich mich auf den Weg zu den Hühnern machte. Diese widerspenstigen Hühner! Lieber kümmerte ich mich um ihn, als mich mit diesen Nervensägen herumzuschlagen. Aber es gehörte eben dazu.



























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