Der Fluch im Blut

Das Glas stand noch immer in einer Plastiktüte auf dem Tisch in Trulys Wohnzimmer. Sie hatte es sich von Hayes »geborgt« – offiziell, natürlich, war es noch Beweismaterial. Aber Hayes hatte nach ihrem Blick entschieden, nicht zu widersprechen. Vielleicht ahnte er, dass sie mehr aus diesem Glas herauslesen konnte, als jedes Labor je finden würde.

Der Regen prasselte draußen gegen die Scheiben, während Kerzen flackerten und das Wohnzimmer in warmes, flackerndes Licht tauchten. Merlin lag zusammengerollt auf dem Sofa, ein schwarzer Kloß mit glänzenden Augen, die jede ihrer Bewegungen verfolgten.

Truly legte das Glas vorsichtig aus der Tüte, stellte es auf einen schwarzen Teller. Sie strich mit der Hand über den Rand, doch berührte es nicht direkt – Berührung konnte die Spuren verwischen. Stattdessen summte sie leise ein altes Lied, das sie von ihrer Großmutter gelernt hatte. Worte ohne Bedeutung für Fremde, aber mit Kraft für die, die sie kannten.

Ein Schimmer ging durch das Glas. Kaum sichtbar, aber genug, um ihre Haut prickeln zu lassen.

Sie nahm eine Kerze und kippte vorsichtig Wachs an den Rand, dort, wo die Salzkruste noch klebte. Das Wachs floss, glänzte, und als es erstarb, zeichnete sich darunter ein Muster ab. Linien, die vorher unsichtbar gewesen waren, traten nun hervor – als hätte das Glas die Erinnerung selbst in sich eingebrannt.

Ein Kreis. Fünf Striche. Ein Pentagramm.

Doch nicht irgendeines.

Truly schnappte nach Luft. Sie kannte dieses Symbol. Nicht aus Büchern, nicht aus dem Unterricht ihrer Großmutter. Sondern aus ihrer Kindheit.

›Nein. Das kann nicht sein.‹

Sie beugte sich näher, die Augen weit. Das Pentagramm war eingerahmt von winzigen Zeichen, Runen, die sie längst verdrängt hatte. Runen, die ihr Vater ihr einmal gezeigt hatte, bevor er verschwand.

Er hatte gesagt: »Das ist unser Erbe, Truly. Aber hüte dich. Manche Symbole öffnen Türen, die niemand schließen kann.«

Ihre Finger zitterten. Sie zog das Notizbuch hervor, das sie seit ihrer Jugend führte, und blätterte hastig. Auf Seite 43 fand sie die Zeichnung, die sie damals von seinem Symbol gemacht hatte. Krumm, unsauber – aber unverkennbar dasselbe Muster.




Ein Bannzeichen. Ein Fluchzeichen. Beides in einem.

Sie lehnte sich zurück, spürte, wie die Welt um sie enger wurde. ›Mein Vater. Mein Blut. Dieses Zeichen gehört zu mir.‹

Merlin hob den Kopf, miaute tief.

»Ich weiß«, flüsterte sie. »Ich weiß, was das bedeutet.«

Sie hatte immer geglaubt, ihr Vater sei einfach fortgegangen, um sich vor etwas zu schützen, das größer war als er. Ihre Mutter sprach nie über ihn. Doch nun wusste sie: Er hatte Spuren hinterlassen. Und irgendjemand hatte dieses Symbol benutzt, um einen Mord zu begehen.

Ein Kloß stieg ihr in den Hals. ›War er einer von ihnen? Hat er zum Zirkel gehört? Oder haben sie ihn gejagt?‹

Truly stand auf, ging im Raum auf und ab. Ihre Hände waren kalt, die Gedanken jagten. Jede Faser ihres Körpers wollte leugnen, dass dies möglich war. Doch das Glas schwieg nicht. Das Glas flüsterte, immer noch.

Sie hörte es, kaum hörbar, wie ein Summen im Ohr. Worte, die sie nicht verstand, aber in den Knochen fühlte. Eine Sprache, die älter war als sie, älter als die Stadt, älter vielleicht als alles.

Sie griff nach einer weiteren Kerze, entzündete sie, stellte sie neben das Glas. »Zeig es mir«, murmelte sie. »Zeig mir, was du verbirgst.«

Der Schein fiel auf die Flüssigkeitsreste im Glas, auf das bräunliche Rot, das längst verklumpt war. Und da war es: ein zweites Muster, verborgen im Bodensatz. Nicht nur das Pentagramm, sondern ein Kreis darin, unterbrochen von vier kleinen Punkten.

Ein Schutzkreis. Oder eine Falle.

Truly schloss die Augen. ›Sie haben das Opfer nicht nur getötet. Sie haben ihre Seele gebunden.‹

Sie sank auf den Stuhl, den Kopf in den Händen. Es war, als würde sich das Netz enger um sie ziehen. Erst der Beifuß, jetzt dieses Symbol – alles führte zurück zu ihrer Familie.

Und plötzlich wurde ihr klar: Der Mord war nicht einfach ein Ritual. Es war eine Nachricht. Eine Botschaft, die jemand direkt an sie gesendet hatte.

Sie hob den Kopf, starrte auf das Glas. »Ihr wollt mich«, flüsterte sie. »Und ihr benutzt meinen Namen, mein Blut, um mich hereinzuziehen.«

Merlin sprang vom Sofa, setzte sich neben sie und legte die Pfote auf ihre Hand. Für einen Moment fühlte sie sich weniger allein. Doch tief in ihrem Inneren wusste sie: Dies war erst der Anfang.



Sie musste herausfinden, welcher Zirkel dahintersteckte. Und sie musste die Wahrheit über ihren Vater erfahren – ob sie wollte oder nicht.

Draußen donnerte es, als hätte der Himmel selbst beschlossen, ihre Gedanken zu bestätigen.

Truly sah noch einmal auf das Glas. Die Linien glühten schwach im Kerzenschein, lebendig wie frische Wunden.

Und in diesem Moment wusste sie, dass das Blut in diesem Glas nicht nur das Opfer gebunden hatte. Es hatte auch sie gebunden.

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