Onboarding mit Überschlag
Der erste Tag sollte in der Theorie reibungslos ablaufen. In der Praxis begann er mit einer Explosion. Miss Poppins stand an der Tür des Nordflügels, eine Checkliste in der Hand, als die Wände im Korridor zitterten und blaue Funken aus einem der Klassenzimmer sprühten. Es roch nach verbranntem Zucker und Zimt.
„Das ist nicht vorgesehen“, murmelte sie, schob die Haare aus der Stirn und trat entschlossen vor.
Im Klassenraum herrschte ein Szenario, das jedem Change-Manager Kopfschmerzen bereitet hätte. Drei Schüler standen mitten in einem wirbelnden Wirbel aus Papier und Flammen, ein Kessel lag umgestürzt, und ein kleiner Drache, offensichtlich Teil eines missglückten Experiments, rutschte panisch über den Boden. Über allem schwebte ein in Brand geratener Vorhang, der wie eine verzweifelte Flagge drohte, auf die Schülermenge zu stürzen.
„Freeze!“, befahl Miss Poppins. Ihre Stimme schnitt durch das Chaos wie ein Vorstandsbeschluss. Eine Hand an den Regenschirm, die andere erhoben, mobilisierte sie Magie und Machtwort zugleich. „Prozessstopp, jetzt!“
Die Flammen erstarrten in der Luft, Funken froren ein wie konfettiartige Sterne. Die Schüler starrten sie an, erleichtert und erschrocken zugleich. „Wer verantwortet diese Übung?“, fragte sie streng.
Ein blondes Mädchen hob zögerlich die Hand. „Wir sollten einen Duft-Zauber erfinden. Es hieß, Zimtblüte sei beruhigend.“
„Zimtblüte ist auch hochentzündlich, wenn man dem Rezept nicht folgt“, entgegnete Miss Poppins trocken. „Prozesse sind nicht optional, junge Dame. Wir sprechen hier von Compliance und Risikomanagement. Namen?“ „Lysandra“, murmelte das Mädchen. „Und das sind Tara und Finn.“
Miss Poppins nickte. „Lysandra, Tara, Finn. Wir werden das im Debriefing analysieren. Jetzt erst einmal: Räumen wir auf.“ Sie drehte ihren Regenschirm, murmelte eine Formel und ließ die erstarrten Flammen sich in warmes Licht verwandeln. Das Licht sank auf den Boden und verschwand. Der kleine Drache hupfte erleichtert und verwandelte sich in einen dampfenden Teebeutel – das ursprüngliche Ziel des Zaubers, wie Miss Poppins vermutete.
„Danke“, flüsterte Tara. „Wer sind Sie?“ „Miss Poppins. Interim Head of Housekeeping and Incident Management. Sie können mich Elara nennen, wenn Sie sich an die Regeln halten.“ Ein Zwinkern verriet, dass sie Humor hatte. „Und jetzt ab in den Unterricht. Professor Hart erwartet Sie.“
„Er mag uns nicht“, jammerte Finn.
„Er mag Prozesse. Passt sich also an“, erwiderte sie und zeigte zur Tür. Als die drei Schüler davoneilten, beugte sich Miss Poppins über die Reste des Experiments. Sie notierte „Gefahrenanalyse durchführen – Abschnitt: feurige Aromen“ auf ihrer Liste.
Der Regenschirm seufzte leise. „Du hättest ihnen auch einfach Kaffee anbieten können.“ „Kaffee wirkt nur kurzfristig. Struktur wirkt nachhaltig“, entgegnete Elara. „Außerdem bin ich hier, um Abläufe zu schaffen. Und du hättest deine Klappe halten sollen.“
Das Schirm-Haupt ruckte beleidigt. „Ich bin dein Partner, kein Tool.“ Miss Poppins schmunzelte. „Mit Feedback halte ich mich ans Benchmarking. Lass uns weitergehen.“
Der Gang zu Professor Harts Büro führte sie durch einen Bereich, der eher an einen Basar als an einen Korridor erinnerte. Auf dem Boden saßen zwei Kinder, die versuchten, einen Frosch in eine Postkarte zu verwandeln. Aus einem offenen Fenster wehte leise Musik, und irgendwo klirrten Gläser. An der Wand war eine Tafel angebracht: „Wöchentliche Agenda – Themen: Erd-Magie, emotionales Management, Sicherheitsprotokolle.“ Jemand hatte „Sicherheitsprotokolle“ durchgestrichen und „Partys“ darüber geschrieben.
„Nicht akzeptabel“, sagte Elara laut. Sie strich das Wort „Partys“ durch, hielt die Hand über die Tafel und stellte den ursprünglichen Text wieder her. „Wenn wir etwas lernen, dann dass Prioritäten kein Wunschkonzert sind.“
„Da hat jemand Humor“, ertönte eine tiefe Stimme hinter ihr. Professor Lucian Hart lehnte in seinem Türrahmen, die Arme verschränkt, und beobachtete sie.
„Da hat jemand Prioritäten.“ Miss Poppins erwiderte seinen Blick. „Ihre Schüler wollten einen Aromenzauber praktizieren. Es ging schief. Ich habe eingegriffen.“
Hart nickte. „Ein Duft-Zauber. Wird in der Wirtschaft gern unterschätzt.“ „Man unterschätzt vieles, wenn man den Prozess nicht kennt.“ Sie ließ die Augen über seinen Bücherstapel gleiten. „Sie haben eine beachtliche Sammlung über Pre-Magie-Philosophie.“ „Alte Sprachen erklären oft, wie wir Scheitern definieren“, meinte er trocken. „Also, was ist Ihr Plan, Miss Poppins?“
„Analyse, Struktur, Coaching“, antwortete sie. „Ich fange mit einer Bestandsaufnahme an – baue ein Risikoregister, sensibilisiere für Compliance und verankere klare Eskalationsstufen. Nur so bringe ich Ordnung in diesen Laden.“
Hart hob eine Braue. „Sie sprechen, als würden Sie ein Start-up reorganisieren.“ „Ich behandle Magie wie jede andere Ressource. Sie muss gemanagt werden. Und das tun wir ab sofort.“ Der Professor lächelte ein wenig. „Wenn Sie es schaffen, dass mein Büro nicht mehr nach verbrannter Latte riecht, haben Sie meine ungeteilte Unterstützung.“ „Deal“, erwiderte sie. „Und ich notiere mir: Kaffeemaschine austauschen.“
Im Lehrerzimmer herrschte eine Stimmung zwischen Chaos und Kreativ-Meeting. Ein Kobold balancierte auf einem Kronleuchter und las laut eine Hausordnung vor. Eine Hexe in rosa Pastell trank Tee und blätterte in einer Zeitschrift über magisches Interior-Design. Der Essenswagen schwebte von Tisch zu Tisch, verteilte Butterbier und Croissants, die mal Dampf, mal Regenbogen ausstießen.
„Kolleginnen und Kollegen“, begann Miss Poppins, als sie den Raum betrat. „Ich bin Elara Poppins, Ihre neue Ansprechpartnerin für Ordnung und Zwischenfälle. Mein Mandat ist klar: Wir optimieren Prozesse, minimieren Risiken und erhöhen die Zufriedenheit.“
Eine Lehrerin mit grauen Haaren, deren Hut wie eine Miniaturbibliothek aussah, legte ihre Brille ab. „Und was qualifiziert Sie dazu?“ „Ich habe fünf magische Haushalte restrukturiert und drei Krisensimulationen geleitet“, erwiderte Elara sachlich. „Meine Erfolgsquote liegt bei 98 Prozent. Wenn Sie Zahlen brauchen: Ich habe pro Einsatz die Zwischenfallrate um 70 Prozent und die Zufriedenheit um 60 Prozent gesteigert. Wir sprechen hier von Fakten, nicht von Zaubertricks.“
Ein Murmeln ging durch den Raum. Hart nickte zustimmend. „Also gut. Vielleicht hat die Academy endlich jemanden, der uns eine Agenda schreibt.“
„Korrekt“, sagte Miss Poppins. „Und um das zu unterstreichen, lade ich Sie ein zu unserem ersten Kick-off-Meeting heute Abend um 18 Uhr. Agenda: Status quo, Pain Points, Quick Wins. Ich erwarte Ihre Anwesenheit.“
„Kick-off-Meeting?“ Der Kobold plapperte aufgeregt. „Klingt wie ein Ritual.“ „Es ist ein Ritual. Das Ritual des Zuhörens und sich Entwickelns.“ Sie lächelte. „Und ja – es gibt Snacks.“
Am Ende des Tages kehrte Elara in ihr Quartier zurück. „Vielleicht“ – das unsichtbare Haustier – schlief zusammengerollt auf ihrem Bett. Auf ihrem Schreibtisch lagen bereits die ersten Reports: Gefahrenanalyse Zimtblütenexperiment, To-do-Liste Nordflügel, Terminplaner für die nächsten sieben Tage. Sie seufzte, aber es war ein zufriedenstellendes Seufzen.
„Der erste Stein ist ins Rollen gebracht“, sagte sie zum Regenschirm, der an der Garderobe hing.
„Und der Stein hat schon jemanden erwischt“, schnurrte der Schirm.
Sie grinste. „Dann machen wir morgen weiter mit Rollout. Agenda: Ordnung schaffen, Kompetenzzentrum etablieren, Zickenkrieg moderieren. Ich sehe Potenzial.“ „Ich sehe viel Arbeit“, antwortete das magische Objekt.
„Und ich sehe eine Chance, etwas zu bewegen.“ Elara setzte sich an den Tisch, nahm den Federhalter zur Hand und begann zu schreiben: „Kapitel 1 – Onboarding mit Überschlag abgeschlossen. Auswirkungen: positive Resonanz, erste Skepsis, großer Optimismus.“
































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