Rapunzels Burnout in der Dachgeschosswohnung
»Wenn ich noch einmal höre ›Rapunzel, lass dein Haar herunter‹, dann werfe ich einfach den ganzen Zopf aus dem Fenster!« Rapunzel sitzt auf ihrem abgewrackten Sofa in einer stickigen Dachgeschosswohnung. Die Sonne knallt erbarmungslos durchs schräge Fenster, der Ventilator ist kaputt, und der Kaktus auf der Fensterbank gibt langsam den Geist auf.
Früher war es ein hoher Turm im Wald, heute ist es eine Dreizimmerwohnung im vierten Stock ohne Aufzug. Klingt ähnlich romantisch? Ist es aber nicht. Statt Vögeln, die fröhlich zwitschern, hört Rapunzel hier nur die Nachbarn beim lautstarken Netflix-Marathon und das konstante Summen des Baustellenlärms vor dem Haus.
Sie wirft einen müden Blick in den Spiegel. Das berühmte Haar? Eine Bürde. Tägliches Bürsten dauert Stunden. Spliss, Haarbruch, nervige Knoten – und niemand, der ihr hilft. »Ich habe keine Magd, keinen Zauber, nichts. Nur Shampoo, das monatlich ein Vermögen kostet.«
Seit sie den Turm verlassen hat, war alles anders. Keine böse Hexe mehr, klar, aber auch kein Prinz, der sie gerettet hat. Der war nach zwei Wochen überfordert. »Ich wollte doch nur ein bisschen Freiheit,« murmelt sie, während sie sich den dritten Energy-Drink des Tages öffnet. »Jetzt habe ich Freiheit. Und eine permanente Erschöpfung.«
Früher hing ihr Alltag vom Sonnenstand und der Hexe ab. Heute sind es Deadlines, unbezahlte Rechnungen und der ewig volle E-Mail-Posteingang. Rapunzel arbeitet remote in einem schlecht bezahlten Grafikdesign-Job. »Flexibles Arbeiten«, hieß es. In Wirklichkeit bedeutet es: kein Feierabend, kein Wochenende, nur noch Laptop, Müdigkeit und das schlechte WLAN im Dachgeschoss.
Seit Monaten kann sie abends nicht mehr einschlafen. Die Gedanken kreisen: Habe ich die Deadline verpasst? Ist der Kunde zufrieden? Muss ich zum Friseur oder reicht wieder ein Dutt? Das letzte Mal draußen war sie vor vier Wochen – zum Müll runterbringen.
Sie greift zum Handy, tippt langsam ›Burnout Symptome‹ ein. Da steht alles, was sie spürt: Antriebslosigkeit, Schlafprobleme, Reizbarkeit. Sie seufzt. »Hätte ich doch lieber im Turm geblieben. Wenigstens gab’s da keine Miete.«
Doch irgendwo in ihr flackert noch ein Rest Mut. Sie löscht den Suchverlauf, öffnet eine neue Seite und tippt: ›Therapie in meiner Nähe‹. Vielleicht gibt es einen Weg raus aus diesem mentalen Gefängnis. Vielleicht braucht sie keinen Prinzen, sondern jemanden, der zuhört.
Und vielleicht – aber nur vielleicht – wird sie irgendwann wieder Haare offen tragen, ohne sich zu wünschen, einfach die Schere anzusetzen und alles abzuschneiden.




























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