Kapitel 15 – Schritte aus dem Obergeschoss
Sandra
Keine Panik!
Selbst die innere Stimme zittert vor Furcht. Sandra sieht kein Sicherheitssystem. Keine Rollos. Nur Glas. Der Natur näher zu kommen hat sie sich anders vorgestellt. Auf diesen Adrenalinkick mag sie verzichten. Fünf Wölfe befinden sich am Eingang. Das Handy liegt oben im Schlafbereich. Irgendwo in der Küche nahm Sandra einen Festnetzanschluss war. Eine Waffe zur Notwehr muss her. Die Küchenmesser wären eine Option. Unvorbereitet nach oben zu hechten könnte Konsequenzen mit sich ziehen. Daher läuft Sandra rückwärts in die Küche. Dabei bedacht, Augenkontakt zu halten und sich langsam zu bewegen. Der Kochbereich ist ihr in kürzester Zeit vertraut. Ganz ruhig tasten die Finger die Möbel entlang und der Messerblock ist schnell gefunden. Kaum zieht sie das Größte hinaus, fletscht einer der Wölfe die Zähne, als sei ihre Reaktion eine Kriegserklärung. Sandra ist beeindruckt von der stark ausgeprägten Intuition des Tieres. Hat das schleifende Geräusch beim Herausziehen sie womöglich verraten? Können die Wölfe überhaupt die Geräusche durch die Glasfront wahrnehmen? Oder mag ihr Körper sie unbewusst verraten haben?
Die Atmung ist beschleunigt und die Muskeln sind bis aufs Äußerte angespannt. Etwas, was das Tier womöglich bemerkt hat? Die Situation spitzt sich zu. Noch weiß Sandra nicht, wen sie um Hilfe bitten soll. Die Polizei? Ranger? Die Betreiber der Anlagen? Sandra verflucht ihre Denkblockade. Ihr Kopf reagiert eingeschränkt und ist wie leer gefegt. Ganz kurz wendet sie sich von den Besuchern ab und lässt den Blick umhergleiten, aber die Telefonanlage springt ihr nicht auf Anhieb ins Auge, daher muss das Handy her. Der Schlafzimmerbereich von Jae und Mandy hat eine Tür. Diese zu schließen und zu versperren würde ihr mehr Sicherheit geben. Vielleicht bekommt sie Jae wach und muss den Horror nicht allein durchstehen. Wenn Hendrik fort ist, dann sicherlich auch Mandy. Als ob sich die Urbexerin ein Abenteuer entgehen lassen kann. Sicherlich war sie es auch, die Hendrik für einen nächtlichen Ausflug überredet bekam.
Nein! So darf ich nicht denken! Mandy hat mehr Feingefühl und weiß, wie wichtig, dieser Urlaub für mich ist. Sie war es doch, die Hendrik immer unter die Arme gegriffen hat und Chancen schuf!
Mandy mag geschickt vorgehen und doch war Sandra nicht blind und sah die vielen unzähligen Denkanstöße, die Mandy ihrem Freund verpasst hat. Und doch fürchtet Sandra weiterhin, dass der Rotschopf on Tour steckt.
Jae! Bitte sei da und lass dich wecken!
Mit dem stillen Gebet schleicht Sandra zur Treppe. Die Wölfe wirken abgelenkt. Zwei blicken hoch zum Himmel, als nehmen sie von dort Geräusche wahr. Schritte von oben lassen Sandra innehalten. Kurz lauscht sie in die Dunkelheit. Zwei der Wölfe verabschieden sich. In gebeugter Haltung schleichen sie wachsam davon. Sicherlich auf Beutezug. Vielleicht ein Tier, das tief geflogen ist und von Sandra abgelenkt hat. Die Überlebenschancen mögen etwas gestiegen sein und doch fühlt sich Sandra drei Tieren noch immer unterlegen. Angestrengt lauscht sie den Geräuschen aus der oberen Etage, während ihr Blick weiterhin auf den Eingang gerichtet ist. Die ersten Treppenstufen sind zurückgelegt, da nähern sich die Schritte.
„Sandra? Was machst du so in spät in der Nacht hier unten?“
Jaes Stimme hat noch nie so wundervoll geklungen. Sein Dasein bestärkt sie ungemein und lässt die Gefahr kurz vergessen. Ihre Lippen formen ein dankbares Lächeln und das erleichterte Seufzen kommt wie von allein. Er nähert sich und obwohl sie dem Rücken zu ihm hat, nimmt sie eine unangenehme Kälte an ihm war. Fast, als habe er eine lange Zeit auf dem Balkon gestanden.
Aber dann hätte er die Wölfe doch bemerken müssen oder?
Die Tiere schauten vor wenigen Augenblicken kurz hinauf.
Ob sie Jae womöglich auf dem Balkon ausmachten?
Reflexartig schnappt Sandra zu und erwischt ihn am Arm. Noch während sie die Finger auf die Lippen legt, um ihn zu warnen, tauchen ihre Finger in Eis. Ein Schauer jagt sie heim, klamm löst sich ihre Hand. Jae wirkt unterkühlt und doch macht er einen gesunden Eindruck. Nichts an ihm außer der mitbringenden Kälte deutet daraufhin, dass er an die frische Luft ging. Aber die Räumlichkeit ist beheizt. Das ist verdächtig.
Jaes müde Augen ruhen nicht mehr auf ihr, sondern machen die Gefahr aus. Furchtlos tritt er an ihr vorbei und baut sich bedrohlich auf. Das kleine Rudel fletscht die Zähne und beginnt zu bellen. Panik keimt in Sandra. Die Tiere reagieren auf ihren Freund und die Situation scheint zu eskalieren. Aus Sorge um ihn, stürmt sie los. Nicht bereit, ihn erneut zu verlieren und womöglich für immer. Erneut umfassen ihre Finger seinen kalten Arm, packen diesmal aber fester zu.
„Nicht, Jae! Das ist gefährlich!“
Statt sie anzublicken, drückt er sie fest an seine Brust, von wo das Herz still und leise schlägt. Zu ruhig. Zu gelassen. Während sich die Sorge in Sandra breitmacht, schließlich hält sie in ihren Händen das Küchenmesser. Verkrampft presst sie es an ihren Körper, aus Sorge, sie könne ihren Freund verletzen. Auch wenn es bedeutet, dass das scharfe Ding ihr selbst schaden kann. Hinzu kommt die plötzliche Nähe zu einem Freund, den sie einmal liebte und begehrte. Die lange Distanz hat sie entfremdet. Mit der Beziehung zu Hendrik ist das Ganze noch komplizierter als ohnehin schon. Alles an dieser Situation fühlt sich für sie falsch an.
Wie die Tiere fletscht auch Jae die Zähne und sein Blick wird finsterer. Einer der Wölfe winselt, kurz darauf der zweite. Mit einem Jaulen scheint sich mindestens ein Rudelmitglied zu entfernen. Um dies zu überprüfen dreht Sandra ihren Kopf und macht tatsächlich nur noch einen Wolf aus, der sich weiterhin mit Jae anlegt und stur Blickkontakt hält.
Minuten, die sich wie eine Ewigkeit anfühlen, und in denen Sandra bangen muss. Jaes Strategie scheint nicht aufzugehen. Als er sich löst, plagt sie ein ungutes Gefühl.
„Jae?“ Ihr flehender Ruf wird ignoriert und die Tür angesteuert. „Lass den Blödsinn, Jae!“
„Sei unbesorgt, ich kläre die Angelegenheit. Bleib aber bitte drinnen.“
Er verwechselt Mut mit Waghalsigkeit. Der alte Jae wäre vorsichtiger und würde die Sache anders angehen. Diese Version erinnert stark an Hendrik und kann Sandra nicht gutheißen. Aus Sorge um ihren Freund überwindet sie die aufgebaute Distanz. Ihr Körper schiebt sich vor die Tür, womit nur das Glas sie von dem Wolf trennt. Nun endlich nimmt ihr Freund sie wahr. Seine Mundwinkel zucken kurz, dabei scheint er den Ernst der Lage nicht zu begreifen. Seine Reaktion ruft Verärgerung in hervor und sie reimt sich die Standpauke zusammen, als fernes Wolfsgeheul erklingt und ihren ungebetenen Gast von der Unterkunft weglockt.
Kaum ist das Tier fort, scannt Sandra intensiv den Eingangsbereich ab.
„Ein Sicherheitssystem wäre hilfreich! Wirklich! Ich meine, so etwa passiert doch bestimmt öfter. Wir sollten die Wolfsbegegnung weitergeben.“
„Selbstverständlich. Wölfe sind meldepflichtig.“
Seine Gelassenheit hätte sie gerne mal. Ihre Nerven liegen noch immer blank.
„Wir müssen um Hilfe rufen. Die Polizei, die Förster, irgendjemand!“
Die Finger graben sich zwischen ihre Locken, während sie unruhig durch die Küche läuft, auf der Suche nach dem Telefon. Dreimal nennt Jae sie beim Namen. Ganz sanft und ruhig. Noch ehe er sie ein viertes Mal ruft, hält sie mittig der Küche inne, um das fehlende Stück zurück in den Messerblock gleiten zu lassen. Der Küchentresen gibt ihr Halt, sowohl körperlich als auch geistlich. Ihre Finger krallen sich fest, während ihr Blick über ihren Arbeitsbereich gleitet. Kaum beruhigt sich das Herz, sowie die Atmung, lenkt sie sich mit der Planung vom Frühstück ab. Jaes Anwesenheit ist längst vergessen und ihr Blick stur auf die Küchenutensilien gerichtet. Die weiße Blechdose mit Herzdruck hütet ihren Schatz. Für gewöhnlich bleibt es morgens bei einer Tasse Tee, aber nun spielt sie mit den Gedanken, sich erneut einen Aufguss zu machen.
„Geht es dir gut?“ Jae tritt lautlos an ihre Seite und lässt sie schreckhaft zusammenfahren. „Ich bin ehrlich besorgt um dich, Sandra. Du verträgst keinen Alkohol, wie sich gestern zeigte. Ich hatte gehofft, du schläfst deinen Rausch aus und nun treffe ich dich in so einer Situation an. Warum bist du nicht hochgekommen und hast mich geweckt?“
Es klingt zu einfach aus seinem Munde, dabei war Sandra maßlos überfordert mit der Wolfsbegegnung. Statt sich zu rechtfertigen, setzt sie Wasser für den Tee auf.
„Lavendel mit einem Hauch von Vanille. Willst du auch eine Tasse?“
Zögerlich nickt er und überwacht jede ihre Bewegung. Mit einem Blick, den Sandra oft von Arbeitskollegen zu geworfen bekommt. Eine Mischung aus Mitleid und Sorge. Statt sich über die Anteilnahme ihrer Mitmenschen zu freuen, grummelt leichter Zorn im Untergrund. Es zeigt einfach nur, wie ihr Leben aus dem Ruder läuft.
„Hendrik und Mandy sind draußen unterwegs oder?“
Kaum ist es ausgesprochen realisiert sie ihren biestigen Ton. Ihre angestaute Wut, die sie versucht, zu unterdrücken. Vergebens.
Jaes Schweigen ist Antwort genug. Frustriert kümmert sich Sandra um die Zubereitung des Tees. Kaum ist die Dose in der Hand, beruhigen die vertrauten Düfte ihre Nerven. Der Tag kann noch so stressig sein, die starken Duftnoten vom Lavendel lassen sie alles vergessen.
„Bist du verkatert?“, unterbricht Jae die Stille.
Nicht bereit über ihre Fehler zu reden, schüttelt sie stumm den Kopf. Zwar mag sich eine Möglichkeit über die verlorenen Erinnerungen bieten, aber sicherlich maßregelt Hendrik sie früh genug.
„Jae, hast du dein Handy bei dir?“
„Ja schon.“
„Dann informiere bitte die zuständige Behörde über die Wölfe. Gib irgendjemanden Bescheid. Hauptsache jemand kommt raus und nimmt sich der Sache an.“
Kompromisslos starrt sie ihn an. Bewegt er den nötigen Schalter nicht, dann wird sie sich darum kümmern. Aber so tollkühn ihr Freund auch geworden ist, sollten sich Spezialisten mit den Wölfen auseinandersetzen. Zum Glück scheint Jae zu erkennen, wie ernst ihr die Sache ist. Er holt sein Handy hervor und begibt sich in den Hintergrund. Auch wenn sein Blick weiterhin auf ihr liegt, atmet Sandra auf. Ihr Herzensbrecher verhält sich aufdringlicher wie in alten Zeiten. So scheu und zurückhaltend scheint er nicht mehr zu sein. Der Wandel hat ihn verändert und Sandra wird das Gefühl nicht los, dass er eine tiefe Dunkelheit in sich trägt. Er ist sicherlich nicht ganz ehrlich und versteckt bewusst wichtige Details. Sandra wünscht sich die alte Version zurück. Den unschuldigen, ehrlichen und schüchternen Jungen. Die Jahre haben leider nicht nur seinen Körper verändert, sondern auch sein Wesen. Dieses Treffen mag ein Neustart sein und Sandra hatte große Erwartungen gehabt, aber nun ist sie sich nicht mal mehr sicher, wie sie über Jae denken soll.




































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