Kapitel 17 – Die Burgruine
Im Galopp der Dämmerung entgegen. Die Sterne funkeln im Himmel und dichter Nebel zieht über die Felder auf. Das Herz klopft vor Freude. Samira begrüßt die Winde mit offenen Armen. Kühl und erfrischend. Die Grillen zirpen ihre Lieder, das Getreide raschelt zwischen den Luftzügen. Das Herz war noch nie so befreit und leicht. Samira grinst wie in alten Zeiten. Die Welt wäre perfekt, wenn Cassandra an ihrer Seite verweilt und den Spaß mit ihr teilen würde. Cassy war schon immer gut daran, ihre Emotionen zu zügeln. Sie wäre sicherlich neben ihr geritten. Auf Augenhöhe, fast herausfordernd. Eine kleine Wette, wer schneller mit den Pferden am Ziel ist. Mit Vorfreude in den Augen. Aber stumm und mit durchgestreckten Rücken, während Samira die Elemente um sich herum am liebsten greifen würde. Die Arme ausgestreckt für den Wind und die letzte Chance, für eine Umarmung der sich verabschiedenden Sonne. Zuletzt wäre da die zum Greifen nahe Ernte der Bauern. Alles lädt zum Anfassen ein.
„Du fällst gleich vom Gaul!“
Savas lächelt erheitert, als wolle er sie aufziehen.
„Nicht in meinem Beisein!“, verspricht Riley spitz.
Zu trocken für Samiras Geschmack. Sie hatte Hoffnung, Cassandras Freund wird lockerer. Aber er sitzt steif wie ein Brett im Sattel und schnauft immer dann, wenn sie sich zu ihm umdreht.
„Augen nach vorne, Eure Hoheit.“
Der Paladin mag sie tadeln, aber Samira schaut an ihm vorbei, denn in der Stadt entzünden sich unzählige Lichter und die Glocken werden geläutet. Hundegebell dringt aus der Ferne.
„Hat Ava endlich mal erkannt, dass sie die Suche ausweiten muss. Wir sollten uns sputen und ihr zuvor kommen, wenn wir sie besänftigen wollen“, ruft Jared ihr zu.
Der unverschämte Kerl sitzt gelassen hinter seinen Bruder und überlässt die Zügel ihm.
„Die Nacht bricht schneller an, als uns lieb ist. Besser wir beeilen uns, damit wir nicht im Dunklen durch den Wald irren“, spricht Riley seine Bedenken aus.
Für gewöhnlich würden die Gebrüder der Gefahr ins Gesicht lachen, aber nun liegt eine erdrückende Stille in der Luft. Ihre Beschützer wirken fern, als stecken sie in einer Erinnerung und aus dem Gespräch mit Jared ahnt Samira, das es um die unheilvolle Begegnung in den Wäldern handelt, die beide Jungs geprägt hat.
Im Galopp durch sperriges Gelände mit vielen Hürden und Unebenheiten meistert Riley gekonnt. Der Wald scheint ihm kein Hindernis zu sein. Seine Reitkünste erhellen Samiras Welt. Mit Begeisterung verfolgt sie seine Route. Doch die Frage, ob er einer Spur folgt oder ziellos umherwandert, schiebt sich immer mehr in den Vordergrund. Um einen Unfall vorzubeugen, schluckt sie all die vielen Fragen hinab und atmet den frischen Zederholzduft ein. Ihre Reise schreckt einige Füchse auf, die sich gefährlich zwischen den zwei Pferden vorbeischmuggeln. Eine Weile folgen die Tiere ihnen. Noch nie waren Füchse zum Greifen nah. Zu Gesicht bekam Samira die Waldbewohner nur in Büchern. Vier Jungtiere zählt die Prinzessin. Alle haben einen eindrucksvollen Pelz. Kräftige Farben, die sie auf ihrem nächsten Gemälde festhalten möchte. Vielleicht genau diese Szene. Ein Stück Erinnerung auf der Leinwand. Oder vielleicht doch auf ihrer Tapete? Noch kann sich die Prinzessin nicht entscheiden, dennoch fängt sie all die vielen Details ein und öffnet ihren Geist.
„Wohin des Weges, Riley? Wir sehen keine Spur!“, meldet sich Jared.
Neugierig dreht sich Samira in den Sattel, um den fokussierten Blick des Paladins zu sehen. Er verschweigt sicherlich wieder ein wichtiges Detail und handelt instinktiv. Gefährlich, denn wenn er sich irrt, wird Cassandras Mörderin über alle Berge sein.
„Savas und Jared werden dich gleich bremsen, wenn du nicht mit der Sprache rausrückst“, versichert sie ihm.
Riley schnalzt verärgert mit der Zunge und bringt das Pferd zum Halt, ehe Savas dazu in der Lage ist. Dabei war dies der Plan der Gebrüder. Von der Seite stürmen sie heran und die Verwunderung ist groß, dass Riley zuerst die Verfolgung unterbricht.
Noch ehe die Schimpfparade der Zwillinge folgt, berichtet Riley grimmig: „Cassandra und ich verbrachten viel Zeit in den Wäldern. Eine Burgruine hat es uns besonders angetan. Dort konnten wir uns ungestört unterhalten.“
„Skandalös!“, unterbricht Jared ihn, „Sag, hatte der werte Ritter ein innigeres Verhältnis zu Prinzessin Cassandra?“
„Jared, ich hau dich gleich! Du redest über meine Schwester!“
Der Zorn, der in Samira aufkeimt, ist eine reiche Ansammlung von Enttäuschungen. Riley war Cassy immer ein guter Freund. Vielleicht mehr, als Samira glaubte. Was aber bedeutet, Cassy hatte Geheimnisse. Ein schmerzlicher Gedanke, denn die junge Prinzessin hat immer geglaubt, dass sich beide einfach alles anvertrauen können. Hat sie sich in Cassandra geirrt? Auch von den Ausflügen in den Wald erwähnte ihre Schwester kein Wort. Hinzu kommt, wie ihre Leibgarde über ihre Schwester spricht. Auch wenn der Spott mehr Riley gilt.
Dafür, dass das Verhältnis zwischen ihm und den Zwillingen angespannt, winkt der Paladin zu ruhig ab.
„Cassandra war mir eine sehr gute Freundin und eine geschätzte Kameradin, zu der ich aufgeblickt habe. Immer wenn mich etwas quälte; wir einen ruhigen Ort fürs Planen suchten oder eine Auszeit von der Stadt brauchten, trafen wir uns an der Ruine. Selten passierten Wanderer und Reisende unsere kleine Basis. Bis vor einigen Wochen. Anhand der Spuren leuchtete uns ein, dass unser Versteck zur Übernachtung genutzt wird. Daher untersuchten wir den Ort genauer und machten Fallen aus. Hab und Gut wurde sicher versteckt. Vergraben in einer Kiste im Erdreich. Fremde Waffenschmiedekunst und exotische Lebensmittel. Als Königstochter bestätigte Cassandra mit Leichtigkeit den elfischen Fund. Cassandra sicherte das Beweismaterial und brach allein auf, während ich zurückblieb, um jede Reisende zu empfangen. Ein gewaltiger Fehler. Hätte ich gewusst, was Cassandra blüht, dann hätte ich ihren Platz eingenommen.“
Der Schwindel tritt schlagartig ein. Samiras Mund ist trocken vor Furcht und Entsetzen. Riley muss nicht weiter reden, denn sie weiß, dass er von Cassandras Todestag spricht.
„Wir mögen stark bezweifeln, dass die Elfe an jenen Ort zurückkehrt, wo ihr das Lager von ihr ausfindig gemacht habt“, grübelt Savas laut.
Aber Riley erklärt sich: „Die Ruine befand sich bis zur Festnahme unter Bewachung. Allein die Kiste im Erdreich war gut versteckt. Sicherlich haben wir etwas übersehen. Etwas, was die Elfe zwingt Gefahr zu laufen, entdeckt zu werden. Zu wertvoll, um es zurückzulassen.“
Damit sind die Zwillinge überzeugt und geben den Weg frei. Eine kurze Aufforderung und schon setzt sich Rileys Pferd in Bewegung. Dabei quält sich Samiras Magen. Schwere Steine sorgen für Unwohlsein. Den Sprint bis zur Ruine bleibt ihrem Geist verborgen, denn ihre giftigen Gedanken und Sorgen nehmen sie in diesem Zeitraum gefangen. Umso größer staunt die Prinzessin, als sie die eindrucksvollen Reste eines Gebäudes ausfindig machen. Reste von einem Turm. Angrenzend an einem kleinen Anbau. Wenn sich Samira nicht irrt, könnte es sich um einen Stall handeln. Die Ruine liegt auf einer kleinen Anhöhe. Mitten auf eine Lichtung, nah am Gewässer. Ein kleiner Fluss, dessen friedliches Rauschen die Seele beruhigt.
„Ein alter Wachposten. Zu weit von der Stadt entfernt und zu kostspielig für den Wiederaufbau. Eigentlich sehr schade.“
Rileys Blick ist trübe und auch seine Stimme wirkt entkräftet. Er muss kürzlich vom Pferd gestiegen sein. In einem Moment der Unachtsamkeit, wo sich Samira mit der Umgebung vertraut machte. Ein edler Paladin wie er plant sicherlich ihr die helfende Hand zum Abstieg anzubieten, etwas, das ihr schon immer unangenehm war. Daher springt sie eilig ab und balanciert ihren Stand.
„Du hast dich geirrt!“, tönt es missbilligend von Jareds Seite.
Sein Bruder nickt zustimmend. „Hier ist niemand.“
Sie irren sich. Es mag leise sein und doch folgt Samira einem Wimmern zur Ruine. Ungeachtet dessen, dass nach ihr gerufen wird. Jared stürmt daraufhin los, aber sie weicht seinem Griff aus und streckt ihm frech die Zunge entgegen. Zum Glück scheint er die Stimme ebenfalls wahrzunehmen, denn er wendet sich von ihr ab und zuckt zwei seiner Dolche hervor. Angeberisch wirft er diese drehend hinauf und fängt sie gekonnt. Wie eine kleine Akrobatenvorstellung. Mit einem Zwinkern tritt er vor die Prinzessin. Geräuschlos. Samira erinnert sich an die Atemübungen mit den beiden. Die Umgebung scannen und behutsam an die Gefahr heranschleichen. Zu oft haben sie mit schreckhaften Tieren geübt, daher fällt es Samira leicht, im Ernstfall mitzuhalten.
Die beheimatete Finsternis im Bauch der Ruine wird durch unzählige Leuchtkörper erhellt. Rote Glühwürmchen und leuchtende Freesien, die einen Kreis um zwei Personen bilden. Versteckt hinter der großen Wand, geschützt vor neugierigen Augen. Die geflüchtete Elfe sitzt tatsächlich im hohen Gras. Entkräftet und gebrochen. Tränen fließen über ihr zartes Gesicht, während sich Cassandra über sie beugt. Die Krallen bestehen weiterhin und halten die zierliche Elfe an den Schultern gefangen. Das Flüstern schallt mysteriös durch die Räumlichkeit. Die Worte klingen bedrohlich, manipulativ und gedehnt. Das Gesprochene überschlägt sich, verwebt sich ineinander und lässt sich daher kaum entschlüsseln. Allein vom Zuhören überkommt Samira der Schwindel und starkes Unwohlsein lässt an einen Rückzug denken. Es kommt zu Gleichgewichtsstörungen, sodass Samira Halt an Jared sucht. Ihr Beschützer hält darauf inne und betrachtet sie skeptisch. Seine Hände liegen im nächsten Moment auf ihren Ohren. Kaum schirmt er sie von sämtlichen Geräuschen ab, wird der Geist von Sekunde zu Sekunde klarer.
Das Leuchten der Blüten verstärkt sich. Plötzlich wird Jared gewaltsam in den Hintergrund gedrückt. Die Sorge um ihn ist groß, denn hinter der Interaktion steckt solch eine Wucht, dass er stürzt. Aber Cassandra überwindet sämtliche Distanz zu ihrer Schwester und schnappt sich Samiras Hand. Ihre monströsen Veränderungen sind verschwunden und Samira blickt in das gewohnte Antlitz der Thronerbin. Mit einem Lächeln wie Sonnenschein führt Cassandra ihre Schwester zur Elfe. Erst das darauffolgende Donnern lässt beide aufschrecken, denn Jared wird von ihnen getrennt. Er tritt und schlägt gegen eine unsichtbare Wand. Seine Rufe dringen gedämpft zu ihnen. Cassandra würdigt ihm nicht länger eines Blickes und verschleppt ihre Schwester zu der Elfe.
„Hab keine Angst, Samira. Der Name dieser Frau lautet Riona. Sie wird dir die ewige Treue schwören und es sich zur Lebensaufgabe machen, Frieden zwischen unseren Völkern zu bringen. Die Feindschaft soll mit meinem Tod enden. Ich lege die Zukunft das Königreiches in deine Hände und bin guter Dinge, dass du einen langen Frieden einführen wirst.“
Die Bürde liegt schwer auf Samiras Schultern. Cassandra wäre für diese Rolle viel besser geschaffen. Diese Erkenntnis drosselt das Tempo ihrer Schritte. Nichts, was ihrer Schwester entgeht. Daher nimmt sie Samiras Gesicht sanft in ihre Hände.
„Hab Vertrauen in deine Fähigkeiten. Du schaffst das und du bist nicht alleine. Du hast gute Berater. Auch bei Riona handelt es sich um eine kluge Frau. Nutze ihr Wissen, ihren Rat und ihre Treue.“
„Bislang machte Riona nicht dein Eindruck, mit mir zu kooperieren.“
Eine traurige Wahrheit, die Samira ungern zugeben mag, denn alles lief anders als geplant. Aber Cassandra lächelt weiterhin zuversichtlich und stupst sie mit ihrer Nase spielerisch an. Wie in alten Zeiten, nur mit dem Unterschied, dass die eisige Kälte weiterhin an ihr haftet.
„Riona wird sich fügen.“
Die versteckte Kälte hinter den Worten beunruhigt Samira. Cassandra verändert sich negativ. Spekulieren tut Samira wie wild. Vielleicht verschuldet durch die Schwesterliebe oder womöglich tiefer Groll, der langsam herausbricht. Wie würde Samira auf ihren Mörder reagieren? Interagiert Cassandra möglicherweise zu viel in kürzester Zeit. Ihr müder Zustand ließ sich nicht leugnen. Interaktionen mit den Lebenden kosten sicherlich unfassbar viel Energie.
„Cassy?“ Eines muss dringend geklärt werden. Etwas, das der kleinen Schwester Magenschmerzen bereitet. Der Mund der Toten öffnet sich leicht, als hält sie den Atem vor Neugier an. „Sag, wirst du noch heute verschwinden?“
Der verwunderte Ausdruck endet und die Mundwinkel heben sich traurig.
„Ich denke schon.“
Wie kann Cassandra dies mit einem Lächeln bestätigen? Der Gedanke daran ist so schmerzlich, dass Samira rückwärts läuft und still Tränen verliert. Bockig schüttelt sie den Kopf.
„Ich bin nicht gewillt, dich erneut zu verlieren. Auch wenn ich mir denken kann, dass dein Geister-Dasein nicht gut für uns beide sein wird. Aber allein dich sehen und sprechen zu hören, lindert meinen Kummer.“
Schniefend legt Cassandra den Kopf schief, im nächsten Moment liegt ihre Hand über Samiras Herzen.
„Ich lebe weiter, sofern du mich nicht vergisst.“
Vor Empörung öffnet Samira ihren Mund. „Wie könnte ich? Ich liebe meine große Schwester doch schließlich.“
„Liebe.“ Cassandra breitet die Arme freudig aus und tänzelt rückwärts. Ihr Kopf schwenkt rüber und Samira folgt dem Blick, der am Ende auf Riley ruht, der gefasst den stillen Beobachter spielt, während die Zwillinge offensichtlich miteinander streiten. Denn zu wild und impulsiv sind ihre Bewegungen. Zu rot ihre Gesichter. Aber Cassandra lässt sich daran nicht stören und betrachtet ihn Freund mit einem Blick voller Dankbarkeit. „Liebe ist ein mächtiges Werkzeug.“
Milde lächelt Samira. Ihre Schwester hat einen guten Geschmack. Ihre Beschützer lagen also richtig. Aber das bedeutet, Cassandra war nie ganz ehrlich. Traurig schluckt Samira den bitteren Kloß hinab.
„Du hattest nie erwähnt, Sir Riley zu lieben.“
Die Augen ihrer Schwester weiten sich vor Schreck. Die Arme sinken hinab und die Hände legen sich fest auf den Mund.
Keine Geheimnisse daran hielt sich Samira eisern. Vielleicht sollte sie ihrer Schwester dankbar sein, denn das Rittersein hat sicherlich auch viele unschöne Seiten. Vielleicht hat sich Cassandra geschämt, denn als Königstochter sei ihr keine Liebe mit einem Ritter gegönnt. Vielleicht wollte Cassy auch nur Riley beschützen. Vielleicht bekäme Samira hier und jetzt eine Chance auf Antworten, aber die Zeit wird Cassandra auslaugen. Daher tritt Samira an die Elfe, die trotz hängendem Kopf und leerem Blick weiterhin sagenhaft schön aussieht.
„Riona– ein schöner Name. Seid Ihr nun gewillt, mit mir zu sprechen?“
Tatsächlich hebt die Elfe den Kopf und ihre glanzlosen Augen richten sich auf sie.
„Ich habe Thorbens Kinder unterschätzt. Eure Schwester macht rasante Fortschritte als Geist und erlangt unfassbare Macht in kürzester Zeit. Ein kleines, teuflisches Genie wie ihr Vater.“
„UNTERSTEHT EUCH!“ Wer über Cassandra spottet, erntet Samiras Zorn. „Bezeichnet meine Schwester nicht als Teufel!“
Leise kichert Riona und hebt eine Pflanzenschlinge auf Augenhöhe, die sich um ihre Handgelenke geschlungen hat und von den Freesien geschmückt ist.
„Nur der Teufel würde mir befehlen, mein Volk den Menschen zum Fraß hinzuwerfen. Elfen in anderen Städten werden versklavt und schlecht geredet. Euer Königreich wird eine Gleichbehandlung belächeln und bespucken. Es gibt keinen Frieden auf langer Dauer!“




























Kommentare