Kapitel 21 – Trügerische Leere

Zögerlich erwacht das Bewusstsein Stück für Stück. Zu kurz, um sich ein Bild über die Lage zu machen. Raum und Zeit liegen im Ungewissen. Stimmen klingen verschmolzen und in weiterer Ferne. Die Augen reagieren empfindlich auf die helle Umgebung. Samira zwingt sich, gegen das Licht zu blinzeln, aber ihre Sicht bleibt auf ungewisse Zeit verschwommen. Ab und zu klärt sich die Sicht und Samira meint Cassandra zu sehen. Die neugierigen Smaragde. Voller Freundlichkeit und Wärme. Das lange rubinrote Haaren, für das Samira ihre Schwester beneidet. Das zauberhafte Lächeln. Voller Ehrlichkeit und Zuversicht. Begleitet von dem zarten Duft der Freesie.

 

Das Herz liegt im Kummer, denn Cassandra wirkt fern. Der Gedanke, von ihrer Schwester getrennt zu sein, quält den Geist mit Fieberträumen. Hitzewallung und bibbernder Kälte reichen sich abwechselnd die Hand. Eine innere Unruhe droht Samira zu zerfressen. Der Schlaf wirkt alles andere als erholsam. Bis zu jenen Moment, als jemand ihre Hand ergreift und sanften Druck ausübt.

„Sei unbesorgt. Ich bin hier“, meint sie Cassy flüstern zu hören.

Ein Stückchen Sicherheit. Unbekümmert reist der Geist durch neue Türen. Eine jede offenbart eine neue Welt voller Farben. Die Erkundung des Waldes auf einem Pferderücken bereitet Samira besonders viel Freude. Im Schein der Abendsonne belohnt ihr Traum sie mit einer Fuchssichtung. Rotfüchse – zum Greifen nah.

Ein Déjà-vu?

Nein!

Eine Erinnerung!

 

Ein Schnelldurchlauf der letzten Ereignisse und Samira erinnert sich an den Abschied zu ihrer Schwester. Ein viel zu schneller Abschied. Mit viel Hektik und Drama. Beunruhigt schlägt das Herz laut und furchterfüllt, als Samira ihre Augen öffnet. Auf der Suche nach ihrer Schwester. Ihr Blick fällt auf die umklammerte Hand und fast hätte sie beruhigt die Augen geschlossen. Aber Cassys Hand ist kleiner. Mit angehaltenem Atem zieht Samira ihre Hand fort und erhebt sich. Die Welt um sie herum dreht sich leicht und doch kommen ihr die Umrisse der Räumlichkeit bekannt vor. Automatisch wandern die Hände hinauf zum Kopf und die Finger verhaken sich im Schopf. Sie hört ihren Namen. Die Stimme klingt vertraut und beunruhigt. Männlich. Aber zu jung für ihren Vater.



 

Die kräftigen Hände umfassen ihre Arme und geben Samira in all dem Schwindel Halt.

„Vielleicht solltest du dich hinlegen?“

Der Vorschlag klingt absurd. Samira schüttelt den Kopf. Ihr Geist mag endlich erwachen und ihre Glieder sind ganz steif.

„Ist sie also wach!“

Der nächste Besucher hat Kraft in der Stimme und wenig Geduld. Samira hört die lauten Schritte, die wie laute Erschütterungen klingen. Ihr Gegenüber löst eine Hand, um diese von sich auszustecken. Eine stille Bitte, sich zu gedulden. Aber der Besuch übt sich schlecht darin und tritt näher heran. Samira blinzelt und macht ein bekanntes Gesicht aus. Noch etwas verschwommen, aber Ava sticht überall hervor. Besonders mit dem langen Schatten, den ihre große Gestalt wirft. Die Augenbrauen hängen nah beieinander und treffen sich schon fast. Der Blick, der Samira zugeworfen wird, steckt voller Tadel und Vorurteile.

 

Gnadenlos wird Samira hinabgedrückt. Nicht von Ava selbst, sondern vom anderen Besucher. Zu schwach ist der Körper, um sich dagegen zu wehren. Das verräterische Kissen fühlt sich an wie eine Wolke. Fast, aber nur fast, fielen der Prinzessin die Augen zu. Bis sie im Hintergrund Ava toben hört.

„NEIN! WAS ERLAUBT IHR EUCH EIGENTLICH?“

„Verflucht mich, wenn es Euch damit besser geht! Aber für ihre Genesung werfe ich euch raus! Beruhigt Euch und klärt Euer Anliegen, sobald sich Samira von den Strapazen erholt hat!“

„Dein Amt als Paladin verleiht dir falschen Mut, RILEY! ICH BIN NOCH IMMER TEIL IHRER LEIBGARDE!“

„Wohl wahr! Zu ihrem Schutz, der durch Eure Laune gefährdet wird! Geht und schlagt meinetwegen auf den nächsten Pfeiler ein. Benennt ihn gern nach mir, wenn es Euch damit besser geht!“

Samira schafft eine Rolle zur Seite und sieht aus dem Augenwinkel die beiden Streithähne. Avas Gesicht gleicht einer Tomate. Mit ihrer wutverzerrten Fratze hebt sie bedrohlich den Finger, als sie sich hinab beugt. Aber Riley verharrt furchtlos an Ort und Stelle. Samira hätte ihn fast nicht wiedererkannt, denn er entschied sich für leichte Kleidung statt seiner Rüstung. Eine eintönige Garderobe und doch hochwertig genug für den Palast. Ein hellblauer Seidenstoff, der fast ins Silber übergeht und am Kragen kunstvoll bestickt wurde.



„Das wird ein Nachspiel haben, Riley!“

Mit Ach und Krach schlägt Ava die Türen zu. Samira zuckt instinktiv zusammen und fürchtet um ihre geliebte Zimmertür, worauf sie den See vom Schlossgarten malte. Mit glänzenden Farben, die ihr lieber Vater als Geburtstagsgeschenk vom Nachbarland organisierte. Noch immer streicht Samira ungläubig bei jeder Gelegenheit über die wenigen Glitzerflächen, was bislang keine Farbe zustande brachte.

 

Ava mag gegangen sein und doch wuschelt sich Riley unsicher durch die wilde Mähne. Er schluckt und versteckt kurz sein Gesicht, als müsse er sich mental vor dem anstehenden Gespräch wappnen. Zeit, die Samira nutzt, um sich hochzuhieven. Auf dem Nachtisch findet sie den Grund für Cassandras Duft. Eine Vase mit einem prächtigen Strauß Freesien. Samira würde sich gern freuen, nur fürchtet sie, woher die Pflanzen stammen. Beunruhigt dreht sie sich um, denn sie braucht Gewissheit.

„Sind das die Blumen aus Cassys Zimmer?“

Rileys Arme sinken hinab und kurz beginnt er zu starren. Große Augen voller Fassungslosigkeit.

„Nein…nein, das würde ich mir nicht erlauben. Etwas außerhalb des Schlosses gibt es einen Platz, wo die Freesie wächst. Dort begegnete ich Cassandra zum ersten Mal.“

Samira bläst beleidigt die Wangen auf. „Wieso weiß ich nichts davon? Cassy hat wirklich viele Geheimnisse vor mir!“

„Hatte…“

Rileys Blick fällt hinab. Zögerlich nähert er sich dem Bett und greift gedankenverloren zu, um einen weißen Morgenmantel an die Prinzessin heranzutragen. Ein Blick hinab und Samira sieht das Nachtkleid, was sie trägt. Ihr Körper ist noch immer verschwitzt und heiß von dem Fieber und der Mund trocken. Daher schüttelt sie den Kopf, als Riley ihr den Mantel anbietet. Die Karaffe ist neben der Vase schnell gefunden, aber die Hände zittern noch zu stark. Riley erkennt ihr Vorhaben und eilt zur Hilfe. Statt ihr einen Becher Wasser zu reichen, setzt er ihr diesen zum Trinken an. Zu durstig ist Samira, um zu widersprechen. Daher leert sie den Inhalt in nur wenigen Zügen.

 

Schon seit dem Erwachen meidet Riley den Blickkontakt und betrachtet Samira nie länger als nötig. Seine Verlegenheit macht ihn zwar umso sympathischer, aber erschwert das Voranschreiten des Gespräches. Bewusst schnappt sich Samira seine Hand, weil sie auf den gewünschten Augenkontakt hoffte.



„Riley, deine Gefühle mir gegenüber ehren mich und doch gibt es keinen Grund, schüchtern zu werden.“

Er zieht scharf die Luft ein und ist mit einem Satz schnell auf den Beinen.

„Nein…da… das ist nicht der Grund.“ Ihre Konzentration schwindet, was das Zuhören bei seinem Gestammel erschwert. „Ich hatte gehofft, meine Gefühle bleiben auf ewig geheim. Nur hat etwas anderes gerade Vorrang…“

Seine Beine tragen ihn quer durch ihr Zimmer. Samira entdeckt per Zufall ein nasses Tuch auf ihrer Matratze. Sicherlich um das Fieber zu senken. Schnell ist der Schweiß aus dem Gesicht gewischt, da gesellt sich Riley erneut zu ihr. Aufdringlicher. Ihr Herz macht einen Aussetzer, als er sich hinab beugt, um ihre Hände zu umfassen. Er ruft ihren Namen streng, als bahne sich eine Katastrophe an.

 

So schnell Riley den Mut nahm, so schnell wurde er auch davon verlassen. Samira sieht sein Zögern. Erneut meidet er den Blickkontakt.

„Sprich, Riley“, fordert sie ihn erschöpft auf.

Ihre Stimme hat an Kraft verloren. Vielleicht zögert er deswegen das Unvermeidliche heraus, aber Samira wünscht sich Antworten.

Der Paladin nickt und schwenkt den Kopf rüber. Samira folgt seinem Blick zu einer verdeckten Leinwand, die auf einer Staffelei ruht. Nachdenklich kräuselt sie die Stirn und wundert sich laut: „Ich erinnere mich nicht, ein neues Gemälde angefangen zu haben.“

Hinzu kommt die Sauerei auf dem Boden. All die heruntergelaufene Farbe. Eine schwarzrötliche Pampe. Ungewöhnlich dickflüssig. Wie in Trance erhebt sich Samira und nähert sich Schritt für Schritt der Staffelei. Das Blut rauscht immer lauter in ihren Ohren, je mehr sie sich nähert. Wie Trommelschläge klopft das Herz im Takt und kalter Schweiß läuft die Stirn hinab, als ihre Finger die steife Decke umfassen. Das Herz zieht sich schmerzhaft zusammen, als Rileys Hand auf ihre landet und bestimmend den Kopf schüttelt.

„Ich halte das für keine gute Idee.“

Er wirkt ganz steif und blickt grimmig, als besitze er das Wissen, was sich hinter dem Tuch befindet.

 

Das Gemälde mag verhüllt sein und doch spürt Samira starkes Unbehagen. In ihrem hellen und farbenfrohen Zimmer fühlt sich dieses Stück fehl am Platz an. Eine verschlingende Dunkelheit, die ihr Furcht entlockt. Geheimnisse sind Samira zu wider, daher packen ihre Finger fester zu und obwohl ihr Körper zu zittern beginnt, enthüllt sie eine Leere aus ihrem Kopf. Erwartungsvoll begutachtet Samira ausgiebig, was sich ihr offenbart. Der Unglaube weicht dabei nicht aus ihrem Gesicht. All die viele Farbe am Boden. Getrocknet und zu einer wirren Mischung geformt. Die Leinwand hingegen wirkt unbenutzt. Weiße Leere begrüßt sie trügerisch. Samiras fürchtet, getäuscht zu werden. Daher streichen die Finger über die raue Fläche. Auf der Suche nach der Wahrheit. Der Verstand mag ihr einen Streich spielen, denn die Oberfläche wirkt verändert und schlägt wie Wasser Wellen bei einer Berührung. Kleine Schwingungen, die ihr kleine Details offenlegen. Schwarze Konturen mit nur wenig roten Farbklecksen. Samira macht mehr als eine Person aus.



 

Keuchend weicht Riley zurück. Der Blick starr auf die Leinwand, als sei er ebenfalls Zeuge der Illusion. Wehmütig hält Samira inne, als sie das geliebte Schwert ihrer Schwester erkennt. Eine Meisterklinge. Ein Unikat mit der Blütengravur auf dem Griff. Aber die Waffe liegt nicht in Cassandras Händen. Zu kurz ist das Haar für ihre Schwester. Samira schüttelt hektisch den Kopf, als sie glaubt, sich auf dem Gemälde zu erkennen. Kaum stolpert sie ungläubig in den Hintergrund, wischt Riley gezielt zu der zweiten Person. Eine Elfe. Nicht irgendeine…

„Riona.“

Der Name spukt noch Sekunden später ehrfürchtig in ihrem Kopf. Riley nickt und tritt von dem Gemälde fern.

„Ich sah dich nachts, wie du mit den Fingern hektisch die Farben auf der Leinwand verteilt hast.“

„Nein!“ Der Wahnsinn lacht aus Samira. Aber das alles klingt nicht nach ihr und eher nach einem bösen Traum. Doch kein Zwicken in den Arm lässt sie erwachen. „Ich male mit Pinseln!“

Aber Riley blickt überzeugt und beginnt lange zu starren, bevor er sich dazu äußert: „Eine Beobachtung, die deine Schwester und ich über Jahre hinweg machen konnten.“

Ungläubig blinzelt Samira. Die Beine geben nach und so plumpst ihr Körper aufs Bett. „Unmöglich!“

Riley massiert sich die Schläfen, bevor er berichtet: „Zuerst dachte ich ans Schlafwandeln, aber die Botschaft deiner Gemälde und dein Verhaltensmuster sprechen dagegen. Zumal dieses Werk sehr speziell ist. Es wechselt den Standort.“

 

Ein Pochen kündigt die Kopfschmerzen an. Der Schmerz verbreitet sich rasant vom Auge bis hin zum Hinterkopf. Wie ein Helm. Begleitet vom Schwindel. Und doch will Samira das Rätsel lösen.

„Was meinst du damit, es wechselt den Standort?“

Riley seufzt dezent. Zögerlich begibt er sich zur Wand, um einen kleinen kunstvollen Spiegel abzunehmen. Mit Leichtigkeit trägt er ihn zu Samira heran. Gegen ihre Erwartung richtet er diesen nicht auf die Leinwand, sondern auf sie selbst. Er schluckt merklich und eine leichte Röte macht sich auf seinen Wangen breit.

„Dein Rücken, Samira. Das Gemälde befindet sich bei Tag auf deinem Rücken.“

Seine Worte sickern ganz langsam in ihr Bewusstsein. Starr und unfähig stiert sie ihr Gegenüber an. In der Hoffnung, es folge eine rasche Entschuldigung für den blöden Scherz. Aber Cassys Freund blickt zu ernst. Ungeduldig wiegt er den Spiegel in seinen Händen, woraufhin sie sich dreht und das Haar über die Schulter wirft. Ein Blick auf ihren Rücken und sie erkennt bereits am Nacken die Farbe. Zögerlich löst sie das Nachtkleid und entblößt ihren Rücken, um dort ein Blick auf das große Ganze zu bekommen, was sie auf der Leinwand nur Stück für Stück aufdecken konnte. Samira entweicht der Atem. Zweifel gegenüber Riley, Zweifel gegenüber dem Spiegel, Zweifel gegenüber jenen Moment beginnen zu keimen.



 

„Sag, dass das ein schlechter Witz ist!“

Die Stimme zittert und Tränen bahnen sich hinaus. Aus Furcht vor diesem dunklen Mysterium. Riley stellt den Spiegel eilig hinab, um sich ihr zu nähern und sie eng in seine Arme zu ziehen. Seine Körperwärme geht direkt auf sie über und vertreibt sämtliches Kältegefühl. Trotz körperlicher Anstrengungen achtet Riley auf ein gepflegtes Äußeres. Er duftet herb und dank seinem Mitbringsel haftet ein winziger Hauch der Freesien an ihn. Der nötige Halt, der mit Cassys Verschwinden verloren ging, kehrt heim. Samira erlaubt es sich, die Augen zu schließen und Kraft an seiner Seite zu tanken. Kraft für die kommenden Prüfungen.

„Cassandra sprach immer von einer Gabe. Sie nannte dich eine Prophetin. Aber sie ahnte, dass du Furcht empfinden würdest, wenn du die Bilder zu Gesicht bekommst.“

„Die Bilder.“ Mehrzahl? Riley erwähnt es bereits, aber erst jetzt findet Samira Zeit für dieses entscheidende Detail. „Wo sind die anderen?“

Seine Muskulatur versteift sich augenblicklich.

„Vielleicht solltet wir die Sache schonend angehen. Du bist erst kürzlich erwacht. Überfordere dich nicht, Samira.“

Ein Vorschlag, den sie belächelt. Denn die Zeit tickt im Hintergrund. Noch weiß Samira zu wenig über den Stand der Dinge nach ihrem Zusammenbruch und nun erfährt sie von dieser unheilvollen Sache, der sie sich wohl oder übel irgendwann stellen muss. Je schneller, desto besser!

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