Kapitel 6 – Der königliche Löwe

Die Pflicht ruft. Zu lange dominierte das Herz über den Verstand. Sämtliche Spuren eines Gefühlsausbruchs sind beseitigt und auch die am Boden liegende Tasse liegt feinsäuberlich auf dem Tablett. Mit einem durchgestreckten Rücken und getrockneten Tränen schreitet Samira hinaus. Ein flüchtiger Blick auf den Stand der Sonne und auf das geschäftige Treiben im Palast verrät ihr, was in ihrem strengen Terminplan als Nächstes in Anspruch genommen wird. Ihre Rückkehr in den Alltag bleibt dem Personal nicht verborgen. Die Dienstmädchen pausieren ihre Arbeit und es wird hinter hervorgehaltener Hand getuschelt. Samiras Fokus liegt jedoch auf die Leibgarde, die still und geduldig im Hintergrund verbleibt.

 

Drei Leibwächter, darunter eine fähige Frau. Eine bessere Schwertkämpferin und Strategien als die beiden Zwillinge. Jared und Savas sind sich wie aus dem Gesicht geschnitten, beide haben das dunkle Haar ihres Vaters und tragen es lang und teilweise gebunden. Jeder Bruder hat seine ganz eigene Frisur. Selbst entworfen. Die beiden investieren viel Zeit für Körperpflege und einem makellosen Auftreten. Sie sind modebewusst und haben neben dem unverschämten Charme auch viel Humor. Ihre Art zu kämpfen ist sehr eigen und doch überzeugend. Sie bedienen sich gern vielen Tricks und Ablenkungen, während Ava als stärkstes Mitglied der Leibgarde heraussticht. Allein durch ihre ungewöhnlich Größe und den breiten Rücken.

 

Ein kräftiger Faustschlag gegen Jareds Schulter reicht aus, damit der Grünäugige ein gebogenes Messer im Waffengürtel verstaut. Ava sieht die beiden Brüder nicht gern mit spitzen Gegenständen spielen. Beide sind zwar sehr geschickt, aber gern auch unvorsichtig. Ava fühlt sich oft bestraft, die Spaßbremse zu spielen. Aber niemand anderes hat die beiden Brüder besser in Griff als sie. Wofür Samira wirklich dankbar ist, denn im Streit oder bei ihren Albernheiten dringt die Prinzessin selten zu den Jungs durch. Neugierig sind beide von Natur aus. Sie begutachten die Königstochter bereits aus der Ferne und reimen sich sicherlich zu viel zusammen. Es ist Ava, die entschlossenen Schrittes Samira entgegenkommt, noch während sie sich das lange Haar streng zubindet. Nicht eine einzige pechschwarze Strähne lässt sich in ihrem Gesicht finden. Was Samira sehr schade findet, denn das seidig, lange Haar schimmert besonders traumhaft schön, wenn dieses offen getragen wird. Die Spitzen ihrer weiblichen Beschützerin erreichen dabei fast die die Kniekehlen. Eine beneidenswerte Haarlänge. Ava mag einen kräftigen Körperbau haben, denn sie ist von athletischer Statur und doch eine kriegerische Schönheit mit den wasserblauen Augen.



 

„Seid gegrüßt, Prinzessin. Zu Eurem Schutz besteht Euer Vater auf die Anwesenheit der vollständigen Leibgarde. Es werden keine Ausnahmeregeln geduldet.“

Die Entscheidung wurde sicherlich mit der Gefangennahme der Elfin getroffen. Vielleicht fürchtet der König weitere Anschläge. Damit sind die Freiheiten und heimlichen Ausflüge vorerst dahin.

Wie nervig! Aber Befehl ist Befehl. Ihr Vater hat einen höheren Stellenwert und sein Wort ist Gesetz. Daher nickt die Prinzessin knapp ab und schreitet an Ava vorbei. Nach einem langen Gespräch oder einer Diskussion ist ihr heute nicht, daher liegt der Fokus auf anderen Dingen.

 

Die vielsagenden Blicke zwischen den Zwillingen bleiben Samira unterwegs nicht verborgen. Die beiden Brüder kommunizieren auf ihre ganz eigene Art und scheinen ihr Verhalten merkwürdig zu finden. Noch seltsamer als ohnehin schon. Nicht verwunderlich. Samira ist für gewöhnlich fröhlicher und offener. Diese stille und nachdenkliche Seite tritt nur dann kurz in Kraft, wenn sie sich in ihrer Kunst verliert. Ihre steife Art muss ebenfalls befremdlich auf die Welt wirken.

 

Für gewöhnlich stört sich Samira nicht daran, wenn sämtliche Augenpaare auf ihr ruhen. Als Mitglied der Königsfamilie steht sie seit Geburt im Mittelpunkt, aber die Lage hat sich geändert. Sorge und Mitleid halten ihr nun immer vor Augen, dass ihre innere Welt zerbricht. Die Starke zu spielen gehört nicht zu ihren Kompetenzen. Umso schneller schreitet die Prinzessin durch die hellen Gänge aus Marmor und Stein. Begleitet von duftenden Blumen, die in Vasen und kleinen Beeten gehalten werden. Die Bibliothek versteckt sich in der hintersten Ecke des Schlosses und wird leider zu wenig besucht. Vaters Königreich wird für die fähige Armee aus talentierten Soldaten gefürchtet. Talent hat einen hohen Stellenwert, sodass Wissen und Kunst leider untergehen. Die meisten Kinder sehen sich in der Zukunft als fähige Kämpfer, die das Land bereichern. Daher wird die gewaltige Bibliothek nur von vier Leuten belegt, was den Staub in vielen Regalen erklärt. Samira ärgert sich insgeheim, Anna nicht mitgenommen zu haben. Während der Anwesenheit der Prinzessin wäre das Dienstmädchen sicherlich eine große Unterstützung für die Säuberung der Räumlichkeit. Vielleicht bei der nächsten Sitzung, wenn Samira sich mit Geschichte und Politik auseinandersetzt.



 

Die Stille und Leere in den Fluren verrät, dass Samira zu früh in der Bibliothek eintreffen wird, was ihr ganz gelegen kommt, denn so findet sich etwas Zeit, Nachforschungen zu betreiben. Aus Gewohnheit überspringt Samira mit Anlauf die letzten Stufen vor der Bibliothek. Im freien Fall fühlt sie sich frei und ungebunden. Ein winzig kleiner Teil ihrer Abenteuerlust und Freude kehrt zurück und lässt ihre Mundwinkel euphorisch zucken. Darauf konzentriert, sicher zu landen, ignoriert sie Avas lautes Seufzen. Jared und Savas sind für jeden Spaß zu haben und messen sich wie üblich mit ihr im Weitsprung. Savas hat wie immer die Frechheit, ihnen die Zunge rauszustecken. Der Weitsprung ist schließlich seine ungeschlagene Königsdisziplin. Niemand hat so viel Kraft in den Beinen wie er und legt solche beachtlichen Distanzen hin. Von ihm hat sie sich jedoch abgeschaut, auf dem polierten Boden zu schlittern, und um somit noch etwas zu tricksen. Außer Atem und mit angestiegenem Adrenalinspiegel bremst sie gekonnt den Flug ab und kichert sogar leise vor Erheiterung. Bis sie Jared bemerkt, der an ihr vorbeizischt und sich dreht. Sein Grinsen verblasst in dem Moment, als er die Arme ausbreitet und dabei ins Straucheln kommt. Samira sieht das Unglück kommen und eilt zur Hilfe. Leider zu später, wenige Millimeter vor ihrer ausgestreckten Hand fällt er um. Sein Zwilling lacht ihn aus der Ferne aus, als wüsste er ganz genau, dass Jared hart im Nehmen ist und solch ein Sturz ihm nichts ausmacht.

 

Avas schwere Rüstung klimpert laut und kündigt sie an. Sie beugt sich über Jared, der noch im selben Moment seinen Sturz selbst belacht. Was ihm an Schmerzen glücklicherweise entgangen ist, holt Ava jedoch mit einem Faustschlag nach. Er keucht und krümmt sich unter ihrem Zorn, während sein Bruder sich feige hinter eine Säule versteckt. Nur ist Ava zu aufmerksam. Ihr tödlicher Blick bohrt sich durch sein Versteck und verrät ihn mit einem mädchenhaften Aufschrei.

 

Mental wappnet sich Samira für die Standpauke, als sich Ava mit glühendem Blick umdreht. Ihr Schweigen ist jedoch schlimmer als ihr lautes Organ. Nur kurz wird die Prinzessin tadelnd angesehen, bevor sich das Monster von Frau hinabbeugt und Jared mit einem Zug auf die Beine reißt und die Faust gegen seine Schulter donnert. Für ihre Verhältnisse nur ein leichter Stoß und doch pustet ihr Treffer ein Fliegengewicht wie Jared mit der kurzen Berührung fast um. Etwas, das Ava immer aufs Neue unangenehm wird. Denn ihre Wangen röten sich, was auf ihrem dunklen Teint umso schöner aussieht. Ihre Kraft ist für das Königreich ein Segen, für sie hingegen ein kleiner Fluch. Die Kombination aus ihrer Stärke und dem strengen Blick sorgt unfreiwillig für Distanz. Die Leute suchen bereits aus der Ferne eine Fluchtroute oder verstecken sich. Kaum jemand hält ihrem glühenden Blick lange stand und fühlt sich schon zum Anfang des Gespräches eingeschüchtert von ihrer Aura. Auch der König hält die Gespräche mit ihr immer kurz und führt mit seiner eingeschüchterten Version oft danach Selbstgespräche. Seine Töchter hingegen kennen Ava nicht anders und Samira will sie nie missen. Die Leibwächterin wird oft missverstanden und ihre Verwirrung ist wahrlich zuckersüß, wenn sie von den Prinzessinnen akzeptiert und gewöhnlich behandelt wird.



 

„Du verstehst keinen Spaß, Ava!“ Jared findet Mut, sich zu behaupten. Leider zu kurz, denn kaum sehen sich die beiden in die Augen, schluckt er hörbar und fixiert stattdessen den Boden vor seinen Füßen an. Seine Stimme wird daraufhin ganz leise und zahm. „Ich meine ja nur.“

Samir vermisst die Standpauke. Über all das, was hätte schiefgehen können. Meist steigert sich Ava zu stark hinein und die Prinzessin beklagt sich am Ende über Kopfschmerzen. Aber heute schweigt ihre Freundin zur Abwechslung, sodass Samira sich lieber schnell aus dem Staub macht. Diese Stille fühlt sich noch unheilvoller an, als der Ausbruch eines Vulkans. Die großen Flügeltüren zur Bibliothek sind schnell in greifbarer Nähe.

 

Samira betrachtet immer aufs Neue das große Kunstwerk auf dem weißen Holz. Es war das erste gemeinsame Projekt mit Cassandra, woran die Schwestern tagelang saßen. Ihre kindliche Kunst von süßen Tieren in einer kleinen Bücherei weckt schöne Erinnerungen. Cassandra trug damals einmal ein weißes Kleid. Neben den vielen Farbklecksen lehnte sie sich gegen den Löwen, der noch nicht ganz getrocknet war und am Ende zur Hälfte auf ihrem Kleid prangte. Ein großer Schrecken für ihre Mutter, die das Kleid gern an Cassandra sah. Beide Schwestern hingegen fanden, dass die bunte Veränderung gut zum Outfit passte und sogar verschönerte. In diesem Projekt gab Samira ihrer großen Schwester vielerlei Ratschläge und zeigte ihr kleine Maltechniken, die Cassandra ständig bei Gelegenheit übte.

 

Der niedliche Löwe mit Lesebrille und einem Buch zwischen den Pfoten, der der Maus laut und mit einem Ausdruck von unerschütterlichen Selbstvertrauen vorliest, bekam von Samira am Ende die fehlende Farbe zurück. Die bunte Leinwand hat alle Schlossbewohner stolz gemacht und auch im Hier und Jetzt streichen Samiras Finger glücklich über die Mähne des Löwen. Cassandras kindliche Erinnerung mit dem Pinsel und dem Farbklecksenkleid steht dabei direkt neben ihr. Damals hatte Cassandra die Haare seitlich hochgebunden und mit einen Seidenschal zu einer Schleife verknotet. Der Anblick zaubert ihr immer aufs Neue ein verträumtes Lächeln, das ihr in dem Moment vergeht, als sie eine Person an der Tür zur Bibliothek ausmacht. Genau dort, wo Cassandras Echo stand. Ganz verlegen schlägt die Prinzessin die Augen nieder und tritt vom Löwen fern. Immer aufs Neue verflucht sie ihre Träumerei, die sie des Öfteren in solche Situationen bringt. Ein paar Atemzüge später findet sie den Mut, den Kopf zu heben, um die Person auszumachen, die sie so dämlich angegrinst hat, weil sie sich an Cassandras kindliche Version erinnerte. Unbeabsichtigt. Der Schrecken ist groß, als sie jene Person wiedererkennt.



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