Kapitel 8 – Rufe aus der Dunkelheit

Mythen und Legenden lassen sich nur schwer in einer königlichen Bibliothek finden. Die Hoffnung ist groß, in der Kinderabteilung fündig zu werden. Die letzten Treppenstufen sind noch nicht mal erklommen, da empfängt das bunte Licht von dem Rundfenster Samira mit offenen Armen. Die Prinzessin nimmt einen tiefen Atemzug, während sie mit klopfenden Herzen in das kleine Reich eintritt, dessen Wände ebenfalls zu ihrer Leinwand wurden. Auch die stützenden Seiten der Regale sind mit dem Pinsel aus ihrer Hand verziert. Glitzernde Regenbögen, glückliche Sonnen und ihre erste Version einer Mondprinzessin lächeln ihr entgegen. Die Farbe mag an Intensität verloren haben und doch strahlen ihre Kunstwerke im Schein des gefärbten Sonnenlichts.

 

Mit jedem Schritt wirbelt Staub auf. Sicherlich startet die nächste Putzaktion erst, wenn königlicher Nachwuchs in die Welt gesetzt wird. Daher begibt sich die Prinzessin zu den Fenstern, um auch ganz oben die frische Luft einzuladen. An jenen Ort stecken so viele Erinnerungen, dass sich Samira überfordert auf einen Sessel pflanzt und ihren Blick umherschweifen lässt. Ihr Geist driftet in die Vergangenheit ab. Kinderlachen und das Knarren der Dielen erfüllen den Raum. Sie hört Schritte zwischen den Regalen. Die Leiter schleift über den Boden.

 

„Samira!“

Dem Ruf folgend macht sie Cassandra am Ende eines Gangs aus. Erneut blicken sie die großen Kinderaugen an. Der kleine Rotschopf winkt sie ungeduldig heran. Zu echt für eine Erinnerung, denn das kleine Kind übt sich in Geduld, als erwarte sie eine Interaktion mit Samiras Hier und Jetzt. Ungläubig erhebt sich die Schwester und läuft dem Kind entgegen. Nur wenige Schritte entfernt, läuft Cassandra davon. Eilig biegt Samira um die Kurve, um einen leeren Gang vorzufinden. Auch die Geräuschkulisse verstummt und zurück bleibt Verwirrung. Suchend schreitet Samira voran, bis sie Zeuge davon wird, wie sich ein Buch per Zauberhand mittig des Regals langsam rausschiebt und dumpf auf den Boden klatscht. Mit dem lauten Geräusch zieht sich Samiras Herz schreckhaft zusammen. Ihr Körper taumelt zurück, während der Blick auf dem schwarzen Lederband blickt.

 

Rufe aus der Dunkelheit



 

Der Titel kommt Samira bekannt vor. Wage, glaubt sie sich zu erinnern, das Werk im Beisein ihrer Schwester gelesen zu haben. Damals war sie noch ein viel größerer Angsthase als heute und brauchte viel Trost und seelische Unterstützung von Cassandra, um sich ihrer Angst nicht hinzugeben. Die düsteren Botschaften aus dem Werk haben die Prinzessin hingegen geprägt und wachsamer werden lassen.

 

Das am Boden liegende Buch hat eine starke Anziehungskraft. Ehe sich Samira versieht, stoppen ihre Füße vor dem Fund, als plötzlich von der Decke Blüten regnen. Weiße Freesien verdrängen den staubigen Muff an jenen Ort. Das Buch droht in einem Blumenmeer zu versinken. Mit Unbehagen beugt sie sich hinab und befreit den Fund aus dem kleinen Berg. Kaum findet sie den Mut, es aufzuschlagen, sind die Blumen wie vom Erdboden verschluckt. Nur der Duft bleibt zurück und lässt das Herz vor Trauer krampfen. Ehe die Tränen hinaufsteigen, widmet sich Samira den Seiten.

 

Dunkle Schauermärchen finden sich im Werk niedergeschrieben. Eine beachtliche Sammlung, die damals mehr zur Unterhaltung diente. Auf Cassandras Kosten. Samira war es, die immer wieder unter der Bettdecke kauerte und sich zu fürchten begann. Nun aber findet die Prinzessin zwischen den Zeilen beeindruckende Details. Parallelen zu ihrer totgeglaubten Schwester. Kälte, Gerüche und Totenbleiche. Ruhelose Seelen, die sich an ihr altes Leben festklammern und glauben, ihren Sold noch nicht erfüllt zu haben.

Ob es Cassandra ähnlich ergeht? Was könnte ihre Entscheidung für ihr Dasein beeinflusst haben?

Ehe sich Samira versieht, schlägt sie das Buch zu und presst dieses gegen ihre Brust, wo sie es wie einen Schatz wiegt.

 

Der Sessel ist schnell erreicht und die ersten Seiten verschlungen, als sich ein Beben ankündigt.

„Prinzessin Samira!“ Ava klingt tadelnd und ihr Blick glüht, bis sie Samira ausmacht und ihr die Gesichtszüge entgleiten. „Verzeiht doch bitte, falls ich Euch bei Euren Nachforschungen störe. Nur hat Euer Unterricht begonnen.“

Kaum ausgesprochen, schreckt Samira auf und stolpert über ihre eigenen Beine. Mit dem Buch in den Händen taumelt sie voran. Ava sieht das Unglück sicherlich kommen. Mit Anlauf wirft sie ihren Körper zu Boden. Sicher und weich landet die Prinzessin in den starken Armen ihrer Beschützerin. Ein Schreckschrei aus Samiras Mund lockt Jared hinauf. Ein Mann wie er nimmt nicht wie jeder gewöhnlicher Mensch die Treppe, sondern überzeugt mit seiner Sprung- und Klettertechnik. Geklettert über die Balken, und mit einem athletischen Sprung landet er nah bei den beiden Frauen. Sämtliche Sorge weicht aus seinem Gesicht und die Lachtränen kündigen seinen Spott an. Der Leibwächter beginnt sich zu kugeln, was Avas Laune verschlechtert und sie bereits wie ein Bär brummt.



 

„Kommst du überhaupt allein auf die Beine, Ava? Du liegst da wie eine Schildkröte.“

Jareds Provokation lässt ihre Faust wie ein Richterhammer hinunterdonnern und erschüttert erneut die Ebene. Samira betrachtet beunruhigt die Holzbretter, aus Sorge, ihre Beschützerin schlägt gleich alles zu Kleinholz. Schnell erhebt sie sich. Mit dem Ziel, Ava aufzuhelfen und zu besänftigen, bis Jared das Buch ausfindig macht. Sein Gelächter verstummt abrupt und er beugt sich bereits hinab zu dem dunklen Werk. Daher sprintet Samira los, um es ihn vor der Nase wegzuschaffen. Am Ende steht sie verdeckt hinter einem Regal und versteckt den Schatz zwischen anderen Büchern. Jareds steife Haltung und sein ernster Blick lassen ihn wie ausgewechselt wirken. Bis Ava seinen Namen brüllt und die ersten Schritte auf ihn zumacht. Seine Erinnerung an seine Provokation scheint schlagartig heimzukehren, schließlich verschwindet er lachend mit einem Sprung über das Geländer, während Ava frustriert sich am Balken festkrallt und über ihn lautstark flucht.

 

Die Pflicht verblasst und so jagt Ava ihren Gefühlen hinterher. Eilig läuft sie die Treppen hinab, während Samira aufatmet. Erschöpft lehnt die Prinzessin an das Regal und ärgert sich selbst über ihr Verhalten. Sie muss auf Jared verdächtig wirken und eigentlich gäbe es keinen Grund, sich für das Buch zu schämen. Ein winziger Teil in ihr fürchtet jedoch, dass Jared und auch andere Bewohner des Königreiches an sie zu zweifeln beginnen, wenn sie bei solchen Recherchen erwischt wird. Ihr Verhaltensmuster könne für einen labilen Geist sprechen. Unfähig für die Krone. In ewiger Trauer um die Schwester und auf der Jagd nach Hirngespinsten.

 

Cassandras Dasein wirft zu viele Fragen auf. Ihre Sichtung anzuzweifeln wäre nichts weiter als gesunde Skepsis. Daher trägt Samira dieses Geheimnis im Stillen. Der Ruf aus den unteren Etagen erinnert sie an ihre Pflichten. Eine Drehung und Samira stellt erschrocken fest, dass sie ihren kleinen Schatz aus den Augen verloren hat. Der Funke der Verzweiflung wächst zu einem Inferno. Die Finger ziehen an den Rücken der vielen Bücher. Vergebens sucht sie nach dem schwarzen Einband. Aber dieser ist wie vom Boden verschluckt. Sicherlich liegt es daran, dass sie im Eifer der Hektik die Nadel im Heuhaufen übersieht. Zu ihrem Bedauern wird nach ihr verlangt. Ihre Suche muss sie vorerst unterbrechen, auch wenn es ihr widerstrebt.



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