Kapitel 9 – Erschütterung

Schwer wie ein Anker versinkt Samira in einem tiefen Meer aus gemischten Gefühlen. Negativen Empfindungen. Das Buch ließ sich nicht mehr auffinden. Blamiert hat sich die Prinzessin im Unterricht. Statt von der Weisheit eines Gelehrten zu profitieren, kreisen sich ihre Gedanken fern um Cassandra. Frühzeitig entlassen stürmt sie voran. Einfach fort aus dem Blickfeld des alten Mannes, der sie unterrichtete und ihr Verhaltensmuster falsch einschätzte. Mitleid und Sorge nimmt sie von ihrem Umfeld wahr und kann es kaum länger ertragen. Der Tag ist gelaufen. Samira sieht keine Besserung in Sicht und bevorzugt es, sich allein im Zimmer einzuschließen. Ava ist nicht dumm und erkennt, welchen Weg sie einschlagen.

„Eure Pflichten?“

„Sind mir egal!“

Die Antwort folgt trotziger als gedacht. Ava setzt zum Widerspruch an, bringt jedoch nur ein Aber heraus, da schickt Jared die pflichtbewusste Schwertkämpferin zum König. Ava lässt sich tatsächlich darauf ein und so erreicht Samira im Handumdrehen ihr Zimmer mit den Zwillingen. Der Türknauf ist zum Greifen nah, da ändert sich ihre Meinung und Samira schreitet zu Cassandras Zimmer. Savas spricht sie fragend an, aber ohne Umwege begibt sie sich in das Reich ihrer Schwester. Die Tür ist fast geschlossen, da schiebt Jared seinen Fuß dazwischen und drängt sich kompromisslos hinein. Sein Bruder zieht scharf die Luft an, aber bevor er sich dazu äußert, tritt Jared allein ein und schließt die Tür.

 

Der Kopf qualmt noch immer. Eine Unterhaltung mit diesem lächerlichen Frauenheld kann und will Samira gerade nicht führen.

„Geh!“, zischt sie die Warnung durch die Zähne, aber Jared belächelt ihr Verhalten und tritt näher.

Er fährt sich lässig durch die Haare und lächelt erheitert. Künstlich, wie sich im nächsten Augenblick zeigt, denn plötzlich ändern sich seine Züge und Sorge blickt durch seine Augen.

Ein Schnippen und er setzt sich die Maske eines Barden auf. „Eine kleine Geschichte für unsere verehrte Prinzessin. Möge sich Ihre Laune daraufhin bessern.“

„Ich bin nicht in Stimmung!“

Aber Riley verbeugt sich übertrieben mit ausgebreitenden Armen und zieht von irgendwo einen Hocker her, um sich direkt vor ihr zu platzieren.



„Ein Junge verirrte sich im Wald. Genervt von seinem Bruder trottete er immer tiefer ins Dickicht. Aus der Ferne nahm er Schritte wahr. Äste brachen. In der Annahme, sein nerviger Bruder sei ihm gefolgt, dreht er sich zähnefletschend um. Was er dort sah, lief geduckt wie ein Tier, hatte Konturen wie ein Mensch. Augen groß und leuchtend wie bei Katzen in dunkelster Nacht. Nicht bereit, sich mit seinem Verfolger auseinanderzusetzen, eilte der verlorene Sohn zurück. In die Richtung aus der er kam. Das Wesen lauerte ihm gefährlich auf. Je näher es kam, umso animalischer verhielt es sich. Es knurrte, sodass sich sämtliche Haare des Jungen sträubten. Verängstigt und in Panik verfallen lief der Junge seinem Bruder per Zufall in die Arme. Die Entschuldigung blieb den Finder im Halse stecken, als er die Furcht seines Gegenübers zu sehen bekam. Es bedarf kein Wort der Erklärung, denn auch er wurde auf den Schatten aufmerksam. Zum Glück wusste er sich zu orientieren und so entkamen beide wie durch ein Wunder, denn am Waldrand endete die Verfolgung. Mit einem Schrecken davon gekommen, welch ein Glück.“

 

Nach einer kurzen dramatischen Pause macht Samira seine Showeinlage komplett zu Nichte, denn sie hinterfragt trocken: „Willst du mir sagen, dass du und dein Bruder tatsächlich ein Monster gesichtet habt?“

Jareds Kopf sinkt hinab. Erschöpft seufzt er.

„Kein Beifall? Kein Wort der Anerkennung für die schaurige Geschichte?“

Unbeabsichtigt prustet sie los.

„Schaurig? Das ist ein Scherz oder?“

Kaum ist es ausgesprochen, kugelt sich die Prinzessin vor Lachen. Zu still wird ihr Gegenüber. Zu ernst blickt ein Mann wie Jared. Erneut. Eine Seite, die sie von ihm nicht kannte. Ein Verhalten, woraufhin ihr Lachen verstummt und Reue aufkommen lässt.

 

Die unbehagliche Stille unterbricht Jared in jenen Moment, als er sich mit prüfendem Blick vorbeugt. „Was jagt dich, Samira?“

Kurz verschlägt es ihr die Sprache. Sie ahnte bereits, dass ihr Verhalten verdächtig wirkt, aber nicht, dass auch nur irgendeiner der Wahrheit zu schnell auf die Schliche kommt.

Nur mit einem großen Unterschied, den sie auch sofort kundtut: „Ich werde nicht gejagt.“




Es klingt eingeschnappter, als beabsichtigt, sodass Samira einmal kurz tief Luft holt und sich zu einem Lächeln zwingt.

„Deine Sorge ist rührend, Jared. Aber sie ist unbegründet.“

Ihr Beschützer fährt sich seufzend durchs Haar und senkt den Kopf, als wolle er nachgeben. Vorerst. Bis sich Schritte aus dem Hintergrund melden und eine Hand auf Samiras Schulter hinabfällt. Der sanfte Druck gibt der Prinzessin Kraft, denn der Duft der Freesie verrät Cassandra. Um den Schein zu wahren, konzentriert sich die kleine Schwester auf ihren Leibwächter. Seine Gesichtszüge hingegen entgleiten ihm. Die Pupillen sind vor Schrecke geweitet und sein Teint nimmt eine kränkliche Farbe an. Nur kurz, denn die Furcht wird vom Pflichtgefühl verdrängt und so erhebt sich Jared in Windeseile, um an Samira vorbei zu eilen. Ein Sprung direkt auf Cassandra zu. Die Totgeglaubte weicht erschrocken zurück, womit ihre Erscheinung verfehlt wird. Für Jared keinen Grund aufzugeben, denn er bremst den Flug schnell ab und dreht sich mit Wucht um, sodass der Windzug Samira ihm Gesicht trifft. Seine Finger drohen Cassandra zu berühren, zur Abwehr streckt sie ihre Hände heraus und befördert den jungen Mann mit starken Winden von sich fort.

 

Verängstigt tritt Samira in den Hintergrund. Die Hände vor dem Mund gepresst, um ihr Entsetzen zu verbergen. Darauf konzentriert, ruhig zu atmen. Jared überschlägt sich mehrere Male, aber bei seinem akrobatischen Können federt er sich vom Boden ab, um mit einem Sprung in den sicheren Stand zu kommen. Seine Kriegsflamme wurde entfacht, wie sein wachsamer Blick zeigt. Cassandra hingegen blickt voller Unglaube auf ihre Finger und taumelt wenige Wimpernschläge später verängstigt in den Hintergrund. Vorbei an ihrem Bett, zur hintersten Ecke, wo sie sich hinkauert und ihren Kopf hinter ihren Armen versteckt. Ein Moment der Schwäche, den Jared riecht und sich zum Vorteil machen möchte, doch Samira stürmt los und stellt sich schützend vor ihre verängstigte Schwester. Tatsächlich bremst ihr Beschützer ab, auch wenn er verärgert schnaubt.

„Raus! Auf der Stelle!“ Samira deutet auf die Tür. „Du hast genug angerichtet!“

„Ganz sicher nicht!“ Entschlossen schüttelt er den Kopf. „Ich lasse Euch doch nicht mit diesem Ding allein!“



Erbost verengen sich ihre Augen. „Wie kannst du es wagen, so über meine Schwester zu sprechen?“

„Das?“ Er deutet ungläubig und mit einem verzweifelten Lachen auf Cassandra. „Das ist nicht Eure Schwester, sondern ein Monster!“

Ein Monster?

Solch eine Aussage verschlägt ihr kurz die Sprache. Cassandras Schönheit ist kaum zu übertreffen. Sowohl innerlich, als auch äußerlich. Ihr Herz ist rein und der Geist noch immer in Sorge um das Wohl ihrer Familie.

 Wie kann er solch fürchterliche Worte nur von sich geben?

Noch ehe Samira zu schimpfen beginnt, beginnt ihre Schwester zu wimmern und die Atmosphäre erbebt. Eine kurze Erschütterung von nicht mal einer Minute. Und doch reicht es aus, um Porzellan und Bücher zu Boden werfen. Vasen und Geschirr gehen zu Bruch und verteilen sich klirrend auf den Dielen.

 

Jareds Fangversuch entzieht sich Samira im letzten Augenblick. Kopfschüttelnd weicht sie in den Hintergrund zu der verängstigten Seele und befiehlt ungeduldig: „Verlasse auf der Stelle dieses Zimmer.“

Der Lärm und die Gefahr locken seinen Bruder hinein. Savas tritt an die Seite seines Bruders, aber er scheint Cassandra nicht auszumachen.

„Bist du wohl auf, Samira?“

Sein Auftritt kommt ihr gelegen, denn sie bittet ihn streng: „Schaff mir Jared auf der Stelle hier raus.“

„Unterstehe dich, Bruder.“ Jared springt wie eine Katze in Sicherheit. „Siehst du das Monster nicht?“

Savas Blick folgt seinem ausgestreckten Arm. Nur einen kurzen Augenblick bangt Samira und sie fürchtet, beide Brüder gehen auf Cassandra los. Doch gegen ihre Erwartung packt Savas im nächsten Moment konsequent zu, um seinen Zwilling zur Tür zu zerren.

„Bist du bescheuert? Du kannst Samira doch nicht als Monster betiteln!“

Jareds verzweifelte Versuche, sich loszureißen, scheitern. Im nächsten Augenblick springt die Tür zu und Samira hat endlich Ruhe und Zeit für ihre Schwester.

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