DBdD-Kapitel 2

»Du siehst müde aus«, begrüßte Ilan seine langjährige Freundin und Königin, als er in ihr Büro trat. Obwohl er ebenso erschöpft war, hielt er sich aufrecht. Wären die dunklen Schatten unter seinen Augen nicht, hätte nichts darauf hingedeutet, dass die letzten Tage ihm sehr viel abverlangt hatten.
Zunae musterte ihn von Kopf bis Fuß. Ihr entging weder seine dreckige Uniform noch seine zerzausten Haare. Außerdem wirkten seine sonst so aufgeweckten, braunen Augen müde, was jedoch nicht jedem sofort auffallen würde. Zunae sah es nur, weil sie ihn wirklich schon lange kannte.
»Das kann ich nur zurückgeben«, erwiderte Zunae, die ihm deutete, sich an einen kleinen Tisch zu setzen, auf dem bereits mehrere Platten und zwei leere Teller standen. Ein einladender Duft von süßem Gebäck und Pasteten stieg in die Luft.
Dieser stand in dem Bereich ihres privaten Arbeitszimmers, der eher für familiäre Gespräche genutzt wurde. Für sie gehörte Ilan zur Familie und so wie sie ihn kannte, hatte er noch nichts gegessen oder sich ausgeruht. Darum wollte sie sichergehen, dass er etwas zu sich nahm, solange er ihr Bericht erstattete.
Ilan ließ sich nieder, ohne sich besondere Gedanken über seine Kleidung oder generell sein Auftreten zu machen. Er machte sich nicht die Arbeit, seine Uniform zu richten oder Höflichkeit auszustrahlen. Stattdessen ließ er sich auf den Stuhl fallen, wie er es als Junge schon ganz oft getan hatte. Immer dann, wenn er sich in ihrer Nähe entspannen wollte. Und er konnte auch erkennen, dass sie jetzt eher eine Schwester war, die dafür sorgen wollte, dass ihr heimgekehrter Bruder sich nicht noch mehr überarbeitete.
Dieser ließ den Kopf in den Nacken fallen, schloss einen Moment die Augen und lockerte seine Schultern. Noch immer hallten die Stimmen der Adligen in seinem Kopf. Wie Geier, die um ihre Beute kreisten, aber keiner den Mut fand, den ersten Schritt zu machen und die Probleme direkt zu adressieren. Wie anstrengend und unnötig.
Nicht alle von ihnen waren so anstrengend, doch Ilan sah es nur selten ein, ein Problem nicht direkt zu adressieren und aus Höflichkeit darum herum zu tanzen. Daher stieß er die Adligen oft vor den Kopf, was er sich nur durch seinen Status als rechte Hand der Königin leisten konnte.
»Du warst lange weg«, bemerkte Zunae, während sie einen Teller für Ilan vorbereitete. Dabei ging sie geschickt vor, denn sie wusste genau, was er gern aß. Trotzdem konzentrierte sie sich auch darauf, wie sie die Dinge anrichtete. Es half ihr, ihre eigenen Gedanken zu sortieren und im Hier und Jetzt zu bleiben. Dazu mussten ihre Finger etwas zu tun haben.
Ilan blieb das nicht verborgen, da es so wirkte, als würde sie seinen Blick meiden und stattdessen den Teller anstarren.
»Du hattest wieder eine Vision«, stellte er fest, denn er kannte Zunae zu gut, um die Verbindung nicht zu ziehen. Nach ihren Visionen brauchte sie immer eine Weile, um diese zu sortieren. Ihre Finger krampften sich um den Löffel und ihr Blick ging ins Leere. Ilan brauchte nicht mehr sehen, um zu wissen, was er musste.
Mit einem leichten Nicken gab sie ihm zu verstehen, dass es stimmte. Allerdings wollte sie nicht darauf eingehen, was sie gesehen hatte. Das tat sie nur selten. Nicht einmal Ilan wusste von all ihren Träumen und Visionen. Vor allem von einer nicht. Eine, die ihr ganzes restliches Leben bestimmen würde und entschied, ob ihr Volk weiterleben durfte oder nicht.
Zunae ballte ihre Hände zu Fäusten und presste die Lippen aufeinander. Das war ihre Bürde. Ihr Schicksal. Niemand sollte mit dieser Schuld und den Konsequenzen leben müssen.
Als Zunae fertig damit war, Ilans Teller herzurichten, schob sie ihm diesen zu, nur um ebenfalls einen zu bekommen.
Ihr Gesicht lief rot an, als sie sah, dass Ilan ihr ebenfalls etwas zusammengestellt hatte. »Danke«, murmelte sie peinlich berührt und nahm den Teller entgegen, bevor sie eines der Reisbällchen mit den Fingern griff.
Aktuell waren bei ihnen Speisen beliebt, die man mit den Fingern essen konnte. Zumindest innerhalb der Familie. Bei Banketten wurde mehr auf die Etikette geachtet, doch im Moment brauchte sie das nicht. Daher nahm sie eine kleine Pastete, lehnte sich zurück und knabberte daran herum.
»Du siehst auch aus, als hättest du Tage nichts gegessen«, bemerkte er nüchtern. Ilan wusste sehr gut, dass für sie andere Regeln galten. Als direkte Nachfahrin der Götterfamilie und mit einer Gabe gesegnet, verbrannte ihr Körper Nahrung in ganz anderen Mengen. Der gefüllte Teller würde Ilans Hunger stillen, doch für Zunae wäre er nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.
»Die Visionen werden mehr«, gestand sie und nahm einen Gemüsespieß, um mit den Fingern eine Tomate von diesem zu ziehen und sich in den Mund zu schieben. Nicht unbedingt, weil sie Hunger hatte, aber um Ilan zu beruhigen. Manchmal fiel es ihr schwer, zu essen. So wie auch heute. Zumindest hatte sie es dieses Mal nicht vergessen.
»Ein Zeichen für Probleme?«, fragte er, denn so war es in der Vergangenheit oft gewesen.
Sie alle schätzten ihre Königin für ihre Gabe und verließen sich besonders im Krieg darauf. So hatten sie schon viele Male ein Unentschieden errungen, doch für einen Sieg hatte es bisher nicht gereicht. Was durchaus von Zunae gewollt war. Ein Sieg würde ihnen nicht das bringen, was sie wollten. Es gab also keinen Grund, diesen zu erzwingen. Was sie jedoch bewusst verschwieg.
»Ich denke nicht. Es ist mehr … etwas ist in Gange.«
Ilan nickte verstehend und griff nach einer Pastete in Form einer roten Blume. Sie war gefüllt mit leuchtend gelber Creme, die in den Südlanden sehr beliebt war und einen angenehmen Zitronenduft verströmte. Er biss hinein und kaute gedankenverloren. Der süß-bittere Geschmack breitete sich auf seiner Zunge aus und machte ihn munterer. Sein Blick auf Zunae gerichtet.
»Ich konnte das vermisste Schiff ausfindig machen«, begann er schließlich seinen Bericht, bevor er erneut in die Pastete biss, um Zunae kurz Zeit zu geben, die Informationen zu verdauen.
Diese griff zu ihrem Tee, um einen Löffel Limonenhonig hineinzurühren. »Waren die Informationen richtig?«, fragte sie, konzentrierte sich aber auf den Tee. Es war besser, wenn sie sich nicht erlaubte, ihre Gedanken zu weit schweifen zu lassen. Immerhin wollte sie Ilan zuhören. Die Sache, die er untersucht hatte, war wirklich wichtig.
Seit vielen Monaten gab es Probleme beim Handel mit den Einhorninseln. Es betraf vorrangig ihre Handelsschiffe, doch manchmal auch die der Einhörner.
Aus dem Augenwinkel bemerkte Zunae, dass Ilan sich anspannte und sein Griff sich verfestigte, sodass er die Pastete in seiner Hand eindrückte. Für sie ein Grund aufzusehen und sich ganz darauf zu fokussieren, was er sagte, auch wenn es ihr schwerfiel. Immer wieder schob sich das Bild des Kristallvogels in ihre Gedanken, als würde ihr Kopf ergründen wollen, was er zu bedeuten hatte.
»Das Schiff trieb auf dem Meer. Direkt vor der Grenze«, sagte er angespannt.
»Was ist mit seiner Besatzung?«, wollte Zunae wissen, denn allein, dass er gesagt hat, es treibe auf dem Meer, war für sie Hinweis genug. Sie hatten schon vorher gewusst, dass etwas nicht stimmte, doch jetzt war sich Zunae sehr sicher. Die Frage war nur was.
»Tot«, war die knappe Antwort, die jedoch zusammen mit dem harten Blick Zunae sehr viel mehr Informationen gab. Ilan verschwieg nur selten Details. Es musste also besonders grausam gewesen sein.
»Die Artefaktträger?«, wollte sie wissen, denn für die Schiffe hatte sie extra Menschen ausgewählt, die mit der Gabe gesegnet waren, Artefakte zu nutzen. Sie waren eine sehr gute Kampftruppe. So hatte sie zumindest gehofft.
Ilan zögerte, wandte seinen Blick ab und verkrampfte seine Hände noch mehr. Er musste es ihr erzählen. Außer ihr gab es niemanden, der sich darum kümmern konnte. Sie musste es wissen, um handeln zu können. »Ebenfalls tot«, erwiderte er angespannt. Hoffentlich fragte sie nicht nach Einzelheiten. Das Blutbad und die Grausamkeit, mit der die Angreifer vorgegangen waren, hing ihm immer noch nach. Sobald er seine Augen schloss, waren da Flecken aus getrocknetem Blut, zerfetzte Körperteile und leere Augen. Außerdem glaubte er noch immer die Verwesung riechen zu können, die das Schiff wie einen Schleier umgeben hatte.
»Die Ladung?«, wollte Zunae monoton wissen, da sie versuchte, ihre innere Unruhe nicht nach außen zu tragen. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass es wichtig war, dass sie sich darauf konzentrierte, herauszufinden, was geschehen war. Als würde es mit etwas anderem zusammenhängen, das sie noch nicht verstand. Wenn es nur Seeräuber gewesen wären, hätten die Artefaktträger sie bezwungen. Es gab keine Diebe, die derart mächtig waren.
»Die komplette Ladung ist nicht mehr da. Alles auf dem Schiff, was man mitnehmen konnte, ist weg«, informierte Ilan mit möglichst gefasster Stimme, der sich vor dem letzten Punkt besonders wappnete. Bisher war noch nichts untypisch für Banditen, aber er sah Zunae an, dass sie etwas ahnte. Ihr Bauchgefühl war ähnlich ihren Visionen etwas, dem man vertrauen konnte. Das hatte Ilan schon in jungen Jahren gelernt.
»Was noch?«, fragte sie angespannt, denn sie sah Ilans Miene an, dass er etwas verschwieg. Ein Detail, das ihr vielleicht Aufschluss darüber geben könnte, was vorgefallen war.
An Essen war schon lange nicht mehr zu denken, trotzdem hielt sie noch immer ihren Tee in den Händen. Dabei versuchte sie, die Tasse vor Anspannung nicht zu zerdrücken.
»Die Artefakte sind ebenfalls weg.«
Zunae erbleichte augenblicklich und ihr Atem wurde schneller, während die Tragweite der Information in sie sickerte.
Nur die Auserwählten waren in der Lage, die Artefakte überhaupt zu berühren. Niemand außer Ilan konnte sein Artefakt berühren. Ausnahmen waren die direkten Nachfahren der Göttertiere, wie Zunae eine war.
Aber wie konnte das sein? Sie hatte in diese Richtung keinerlei Visionen gehabt. Nicht einmal hatte sie von den Schiffen geträumt, doch es fühlte sich dennoch bedeutend an. Mit welchen ihrer Visionen hingen die Schiffe zusammen und wie schlimm war es wirklich?
Zunaes Finger zitterten und fühlten sich kälter an, als sie erwartet hatte, als sie sich die Haare aus der Stirn strich. Ein Versuch, sich zu sammeln. »Gibt es Hinweise, dass eine göttliche Blutlinie ihre Finger im Spiel hat?«, fragte sie, wobei sie nicht an die Einhörner dachte. Diese hatten mit einem ähnlichen Problem zu kämpfen. Waren es vielleicht die Seelenkatzen? Aber sie lebten in den Nordlanden und hatten sich auf einen Frieden eingelassen. Dieser war zwar wackelig, doch der neue König schien es ernst zu meinen. Außerdem wäre es sehr schwer, unbemerkt von der nordöstlichen Seite des Seelensandgebiets zur südwestlichen Seite der Drachenklippen zu gelangen. Die Schiffe wären aufgefallen.
»Nein. Aber es gibt Brandflecke, die auf Artefaktträger hindeuten«, erwiderte Ilan, der Zunae genau musterte. Er wartete darauf, dass sie seine Befürchtung bestätigte, doch ihr Blick glitt nachdenklich in ihren Tee.
Zunae ging einiges durch den Kopf. Waren das gezielte Angriffe oder wahllos Plünderungen? Beides würde auf unterschiedliche Parteien hindeuten. »Mach ein Schiff als Köder bereit«, wies Zunae an, da sie ihre Theorie bestätigen wollte. »Wenn wir großes Glück haben, sind es Diebe, die durch Zufall ein Artefakt nutzen können. Wenn nicht … ist der Frieden mit den Nordlanden nur umso wichtiger.«
Zunaes Gedanken rasten, während sie versuchte, die Puzzelteile in Einklang zu bringen. Aber etwas fehlte. Noch wollte es nicht so recht passen.
Sie hob die Hand und legte sie schützend um den Kettenanhänger an ihrem Hals, der ein Muster aus silbernen Ranken mit einzelnen blauen Blumen bildete.
Eine Blume löste sich und schwebte langsam auf den Tisch. Dort breitete sich ein helles Licht aus, das Ilan dazu veranlasste, wegzusehen. Als es wieder verblasst war, hockte dort ein kleiner Kater. Schwarz und mit kleinen Fledermausflügelchen. Seine großen, gelben Augen blickten auffordernd zu Ilan.
»Nimm Chiaki mit. Er wird mir übermitteln, was er sieht«, sagte sie und fuhr dem Kater sanft durch das Fell. Dieser schloss genussvoll die Augen und drückte seinen Kopf ihren Berührungen entgegen.
Ilan, der den Kater schon gut kannte, betrachtete ihn dennoch eingehend.
Er wusste nur, dass er einer von Zunaes Vertrauten war, doch was er alles konnte, erschloss sich ihm nicht. Zunae hüllte sich diesbezüglich in Schweigen.
»Ich werde mich morgen darum kümmern«, versprach Ilan, obwohl er am liebsten sofort aufgebrochen wäre. Allerdings wollte er Zunae nicht verärgern, indem er nicht auf sich achtete. Zunae konnte sehr streng sein, wenn es um das Wohlergehen ihrer Familie ging.
Nur bei sich selbst übersah sie gern die Anzeichen. Er würde also mit gutem Beispiel vorangehen und sich ausruhen, bevor er sich auf den Weg machte, um den Befehl seiner Königin umzusetzen.
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