Kapitel 1: Erste Schatten
                            Till Brübach war dreizehn Jahre alt, als ihn die Nacht holte.
Er stapfte über den Schotterweg, die Hände tief in den Taschen seiner zu großen Jacke vergraben. Der Waldpfad hinter den alten Minen war sein Revier – hier war es ruhig, hier redete niemand, hier konnte man denken. Oder eben nicht denken. Das war auch gut so.
Ein Windstoß fuhr durch die Bäume und ließ das Laub wie Schneeflocken tanzen. Till hielt kurz inne und beobachtete das Schauspiel. Eine Krähe tapste vor ihm über den Weg. Als er näherkam, flog sie auf, als hätte sie es sich anders überlegt.
Er mochte die Stille. Und den Wald. Die Bäume schienen ihn nicht zu verurteilen, nicht zu fragen, wie es in der Schule lief oder ihn wegen seiner mittelmäßigen Noten zu tadeln. Sie standen einfach da. Schweigend. Standhaft. Irgendwie beruhigend.
Es war ein milder Oktoberabend, aber die Sonne sank schneller, als er gedacht hatte. Das Licht war goldfarben, beinahe weich – doch mit jeder Minute kroch etwas Kaltes in die Schatten. Unmerklich zuerst, dann spürbar.
Gedanken drängten sich durch die Rinde seines Schweigens.
Mama hat den Wald geliebt. Ich auch. Vielleicht bin ich deswegen immer hier – weil es der letzte Ort ist, wo ich sie noch spüren kann.     
Zwei Jahre. Zwei verdammte Jahre.
Ich war da, als sie gegangen ist. Ich hab ihre Hand gehalten. Ich hab nichts gesagt. Ich wusste nicht, was ich sagen soll.           
Papa ist eh nur noch ein Schatten. Entweder auf der Arbeit oder am Flaschenhals.       
Früher haben die Leute gefragt, ob ich klarkomme. Heute tun sie so, als wär alles normal. Ist es aber nicht. Nichts ist normal.   
Er seufzte leise und setzte sich auf einen moosbedeckten Stein unter einer alten Buche. Das Licht fiel durch die Äste wie durch Kirchenfenster. Es roch nach nassem Holz, Pilzen und Erde. Er schloss die Augen. Nur für einen Moment.
Dann wurde es still. Zu still. Der Wind legte sich. Kein Rascheln. Kein Zwitschern. Als hätte der Wald den Atem angehalten.
Eine Gänsehaut kroch über seinen Nacken.
Knacken.
Ein Rascheln. 
Wieder.
Er öffnete die Augen. Drei Krähen saßen nun regungslos in den Ästen über ihm. Schwarze Tropfen im goldenen Laub. Sie sahen ihn an. Zumindest fühlte es sich so an.
    
    
        
        
„Was wollt ihr denn?“, murmelte er leise.
Wieder knackte es. Diesmal hinter ihm. Er drehte sich nicht sofort um. In ihm spannte sich etwas an. Nicht Angst – eher eine Art… Vorahnung.
Ein Flüstern schlich durch die Äste. Kaum hörbar. Wie Worte ohne Sprache.
„Hallo?“ Seine Stimme klang klein. Fast kindlich.     
Keine Antwort. Nur das Krächzen der Krähen.
Till stand auf. Der Wald wirkte… verändert. Die Farben waren noch da, aber sie hatten etwas verloren – an Wärme, an Leben. Die Schatten bewegten sich anders.
Er drehte sich um. Da war nichts. Nichts außer Wald. Und Dunkelheit, die nicht mehr warten wollte.
Till spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. Etwas stimmte nicht. Nicht nur die Stille war falsch – es war, als hätte der Wald … ihn bemerkt.
Er stand nun völlig still. Lauschte.
Das Knacken kam wieder. Ein Ast, der brach. Kein Wind. Etwas trat auf. Langsam. Schwer. Nah.
Sein Blick huschte über den Pfad, auf dem er gekommen war. Aber irgendetwas war anders. Die Schatten – dichter. Dunkler. Näher.
Die Krähen flatterten auf. Nicht hektisch – sondern gleichzeitig. Als wäre es ein Zeichen.
Er fröstelte.
„Ich geh jetzt,“ flüsterte er. Ob für sich selbst oder für das, was da draußen war, wusste er nicht. Die Worte gingen im Laub verloren.
Er machte einen Schritt. Dann noch einen. Der Schotter knirschte kaum – und doch war jedes Geräusch zu laut.
Noch ein Knacken. Hinter ihm. Sein Herz begann schneller zu schlagen.
Er ging nicht mehr. Er rannte.
Nicht, weil er wusste, was ihn verfolgte. Sondern weil sein Körper längst entschieden hatte, dass es Zeit war zu fliehen.
Zwischen den Bäumen schien das Licht zu kippen. Dämmerung.
Sein Atem dampfte, obwohl es gar nicht so kalt war. Oder war es das?     
War es nur in ihm so kalt geworden?
Er drehte sich nicht um. Kein einziges Mal.
Denn da war dieses Gefühl. Wenn er sich umdrehte – dann würde er es sehen.
Und wenn er es sah, würde es ihn sehen. Ganz. Wirklich. Endgültig.
Er rannte. Der Ausgang des Waldes lag hinter der alten Mine.       
    
    
        
        
Wenn er es bis dahin schaffte – vielleicht würde alles gut.
Vielleicht. Wenn der Wald ihn ließ.
Die Mine war fast in Sicht. Noch hundert Meter. Vielleicht weniger. Till stolperte, fing sich, rannte weiter. Die Welt war nur noch Atem und Herzschlag, Laub und kalte Schatten.
Hinter ihm knackte es erneut.
Schneller.
Schritte. Zwei. Nicht seine. Er wagte es nicht, sich umzudrehen.
Der Pfad wurde schmaler, dichter. Die Äste griffen nach ihm wie Finger, rissen an seiner Jacke, strichen über seine Wangen. Ein Dorn riss seine Haut auf. Er spürte es kaum.
Dann – Stille. Absolute Stille.
Sein Schritt verlangsamte sich für den Bruchteil einer Sekunde.     
Keine Schritte mehr hinter ihm. Kein Knacken. Kein Wind. Kein Atem.      
Nur er.
Oder?
Etwas zog an der Luft. Nicht laut. Kein Geräusch. Aber spürbar.     
Wie ein Vakuum. Als würde die Welt den Atem anhalten. Er blieb stehen.
„Hallo?“ keuchte er.
Stille.
Dann – ein Flüstern. Kein Wort. Nur Klang. Feucht. Warm. Viel zu nah. Direkt an seinem Ohr. Er fuhr herum.
Nichts. Wald. Nebel. Nacht.
Und dann: Ein Schatten. Kein Tier. Kein Mensch. Etwas Dazwischen. Falsch im Wesen. Falsch in der Welt.
Tills Mund öffnete sich. Ein Schrei formte sich – laut, schrill, voller nackter Angst – und brach abrupt ab.
Ein Flattern. Eine Krähe stieg auf, schrie, als würde sie das Echo seines Verschwindens mitnehmen. Ihre Flügel schnitten durch die Luft, schwarz wie Tinte im verblassenden Licht.
Der Wald lag still da. Unberührt. Nichts zu sehen. Kein Blut. Keine Spur. Kein Junge.
Nur Dunkelheit. Und irgendwo – ein Nachhall. Wie das Echo eines Traums, den man nicht behalten darf.
***
Eine Woche später
Magnus Adrian riss die Augen auf und fuhr im Bett hoch. Schweiß auf der Stirn. Das T-Shirt klatschnass. Sein Atem raste, als wäre er gerannt – doch er lag, reglos.
Für einen Moment wusste er nicht, wo er war.
Die Dunkelheit seines Zimmers wirkte fremd.          
Kälter und stiller als sonst.
Ein Blick auf den Wecker: 3:33.         
    
    
        
        
Er schluckte. Wieder dieser Alptraum. Seit Tagen verfolgte er ihn. Und immer ließ er ihn zurück – mit dieser Kälte in der Brust. Nicht eisig. Nicht greifbar.
Eher wie Rauch. Ohne Feuer. Etwas, das sich ausbreitete, langsam, lautlos.
Er setzte sich, ließ die Füße auf den Boden gleiten. Draußen trommelte Regen gegen die Fensterscheibe, gleichmäßig, fast beruhigend.
Fast.
Magnus schüttelte den Kopf. Versuchte, sich zu sammeln. Aber da war etwas. Ein Nachklang. Etwas blieb. Nicht das Bild. Nicht der Klang. Nur ein… Gefühl.
Er stand auf, trat ans Fenster. Der Himmel: wolkenverhangen.
Schwarz auf Schwarz. Nur die Straßenlaternen warfen bleiches Licht auf den nassen Asphalt. Magnus atmete tief durch.
Nur ein Traum. Ein blöder Traum.
Aber der Gedanke, sich wieder hinzulegen, beunruhigte ihn mehr als der Traum selbst.
Irgendetwas war wach geworden. Und es blieb. Still. Lauschend. Wartend.
Irgendetwas kam zurück.
				
				




























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