Der Schatten im Archiv

Die Tür zum Archiv fiel hinter ihnen ins Schloss. Ein dumpfer Ton, der nachhallte wie ein finales Urteil. Die Luft war kühler hier unten, feuchter. Riley fröstelte, obwohl ihre Hände noch warm waren von der Aufregung, vom festgepressten Griff um das Notizbuch, das sie nun wie ein totemisches Relikt unter dem Arm trug. Mia trat vor, tastete nach dem Lichtschalter – klack. Die Neonröhren flackerten über ihnen auf, doch nur zwei funktionierten richtig. Der Rest blieb in ein nervöses Zucken aus Licht und Schatten gefangen. Es war, als wehrte sich das Archiv selbst gegen ihre Anwesenheit. „Wir waren schon mal hier… warum fühlt es sich jetzt so anders an?“ flüsterte Mia. Riley antwortete nicht sofort. Sie ging ein paar Schritte, ließ die Finger über die Rücken der Aktenordner wandern, als könnten sie ihr erzählen, was Izzy hier gefunden hatte. Alles fühlte sich elektrisch aufgeladen an – als hätte jemand tief unter ihren Füßen eine Spannung entkorkt, die jetzt anstieg. „Vielleicht, weil sie uns jetzt wirklich sieht“, murmelte Riley. Sie wusste nicht, ob sie „sie“ als eine Person meinte – oder etwas anderes. Etwas, das älter war als dieses Archiv. Etwas, das nicht vergessen hatte. Der Satz auf dem Notizbuch brannte in ihrem Hinterkopf: Sie sieht uns jetzt.

 

Ein leises Kratzen unterbrach die Stille. Mia hielt inne. „Was war das?“

„Vielleicht nur… Mäuse?“

„Du hast das selbst nicht geglaubt.“

Das Geräusch wiederholte sich. Kratzend. Schabend. Langsam. Wie Fingernägel auf Holz – aber nicht hektisch, nicht tierisch. Sondern rhythmisch. Geplant. Es kam aus der hintersten Ecke des Raums, wo das Licht am schwächsten war. „Wir sollten nachsehen“, sagte Riley, obwohl jeder Teil ihres Körpers dagegen protestierte. Aber sie musste. Izzy hätte es getan. Sie schlichen durch die Reihen, Schatten huschten über ihre Gesichter, wurden zu Silhouetten, die an den Wänden klebten wie Erinnerungen. Und dann… fanden sie es. Ein schmaler Spalt, fast unsichtbar. Zwischen zwei Regalen, hinter einem verschobenen Schrank. Als hätte jemand absichtlich versucht, ihn zu verstecken – oder nur aus Versehen den Zugang verraten. Es war keine Tür im klassischen Sinne. Eher… ein Riss in der Wandverkleidung. Und aus diesem Spalt kam die Kälte. Nicht einfach kühle Luft. Sondern etwas, das innerlich fror. Ein frostiger Hauch, der Riley das Gefühl gab, jemand flüstere ihr direkt ins Herz „Das kann nicht… echt sein“, murmelte Mia. Doch es war echt. Greifbar. Und – das war das Schlimmste – es wartete. Riley griff in ihre Tasche, zog ihr Handy hervor und schaltete die Taschenlampe ein. Der Strahl fraß sich in die Dunkelheit hinter dem Spalt. Sie konnte nur wenige Meter weit sehen – staubige Wände, ein Boden, der wie Beton wirkte, und Spuren. Schlieren. Als wäre etwas über den Boden gezogen worden. Kein Mensch. Kein Tier.



Etwas anderes.

Mia flüsterte: „Wir sollten zurückgehen. Jemandem Bescheid sagen. Der Polizei… oder—“ „Und dann? Sie würden uns auslachen.“ Riley trat einen Schritt näher. Ihr Licht huschte über etwas an der Wand. Schrift.

 

Tiefer gehen, um sie zu verstehen. „Izzy war hier. Ich weiß es.“ Mia packte ihren Arm. „Vielleicht hat sie das nicht freiwillig getan, Riley! Vielleicht war sie—“ Ein Knacken unterbrach sie. Kein Geräusch von draußen. Sondern von drinnen. Von hinter dem Spalt. Dann ein Flüstern. Keine Worte, nur Lautfragmente, wie Atemzüge, die zu sprechen versuchten. Riley leuchtete erneut in den Spalt – und das Licht veränderte sich. Es flackerte, obwohl der Akku voll war. Und dann… war da etwas. Eine Gestalt. Für den Bruchteil einer Sekunde. Verschwommen. Kaum zu fassen. Ein Spiegelbild, das sich zu schnell bewegte. Sie riss das Handy hoch – doch da war nichts mehr. Nur ein dunkler Gang..„Ich kann das nicht“, sagte Mia. Ihre Stimme war kaum mehr als ein heiserer Hauch. „Das ist kein Ort für Menschen, Riley. Das ist ein… Schlund.“ Riley wollte widersprechen, doch dann bemerkte sie etwas Seltsames: Der Gang im Spalt… spiegelte ihr Licht zurück. Es war, als würde sie in eine Art verzerrten Spiegel sehen. Der Boden. Die Wände. Alles schimmerte leicht. Flüssig. Als wäre die Realität hier… dünner. Dann vibrierte das Notizbuch in ihrer Hand. Sie schrie leise auf und ließ es fast fallen – doch es öffnete sich wie von selbst. Eine Seite flatterte hervor. Und auf ihr stand, mit dunkler, beinahe eingedrückter Tinte:

Die Tür ist offen.

Die Worte sickerten in ihren Kopf, wie Öl in Stoff. Unaufhaltsam. Unwiderruflich.

Hinter ihr stieß Mia ein Geräusch aus – ein unterdrücktes Schluchzen. „Da ist was… da ist was, Riley. Es ist nicht nur ein Gang. Es sieht uns. Und jetzt… jetzt weiß es, dass wir es sehen.“

Ein plötzliches Klopfen ertönte.

Nicht laut.

Nicht panisch.

Ein einziges Mal. Direkt aus dem Spalt.

Wie ein Signal.

Ein Gruß.

Oder eine Einladung. Riley trat zurück. Ihre Hand zitterte. Das Notizbuch schloss sich wieder – diesmal ohne ihr Zutun. „Lauf“, flüsterte Mia. Ihre Augen waren weit aufgerissen. „Riley… lauf!“

Und diesmal zögerte sie nicht. Sie rannten. Durch die Reihen. Vorbei an den uralten Akten, an Zeitungen, an Geistern, die nie einen Namen bekommen hatten. Die Lichter über ihnen flackerten wütend, dann erloschen sie ganz. Die Tür knarrte, als hätte sie gezögert, sie gehen zu lassen. Erst draußen, unter den blassgelben Campuslaternen, hielten sie an.



Keuchend.

Zitternd.

Das Archiv hinter ihnen war dunkel. Tot.

Oder: wach. Riley blickte auf das Notizbuch in ihrer Hand. Ein neuer Satz war erschienen, in derselben Handschrift wie zuvor:

Sie ist jetzt wach.

 

Wie gut gefällt dir dieses Buch?

Klicke auf einen Stern zum bewerten.

Durchschnitt 0 / 5. Anzahl: 0

Bisher keine Bewertungen

Kommentare