Kapitel 4 – Freund oder Feind?
Die wohltuende Stille wird von Schritten unterbrochen, dabei hörte Samira kein Türklopfen. Leise wie eine Maus schleicht sich jemand an das Bett. Der Kopf erinnert sich mit Furcht an den erschrockenen Besucher, der vom Fenster zurückwich, als sich die Prinzessin im Schlossgarten befand. In all dem Wirbel vergaß Samira ihre Entdeckung. Cassandras Raum wirkt mit einem Mal umso bedrohlicher. Die Absichten des Eindringlings sind ihr fremd. Bei so viel Kälte und Dunkelheit in der Stimme der Elf erhalten die Worte mehr Gewicht. Noch atmet Samira, was Cassandras Mörderin zu wider scheint.
Wer garantiert mir, ob die Elfe im Alleingang handelt?
Jede Zelle im Körper wird geflutet von Todesangst. Dabei war sie am Grabe ihrer Schwester bereit, abzuleben, denn ohne Cassandra fühlt sich ihr Dasein nicht lebenswert an. Doch die Elfe öffnete ein Fass und Samiras Neugier über die Vergangenheit ihres Vaters wächst zur Ungeduld. Die fremde Präsenz nähert sich, denn sie bringt Kälte mit sich. Kaum fokussiert sich Samira, nimmt sie den Atem eines anderen wahr. Die Matratze neben der Prinzessin sinkt ganz langsam ein. Beunruhigt erhebt sich Samira. Bereit, einem Attentat zu entkommen. Ein Blick über die Schulter und sie sieht eine ausgestreckte Hand nach ihr greifen. Mit Panik in den Augen schlägt sie diese von sich und rutscht eilig bis zum anderen Ende des Bettes. Ihre Finger krallen sich dort im Bettlaken fest, als gäbe der Stoff ihr Halt für den Abstieg. Das erste Bein berührt den Boden, als die Prinzessin mit Unglauben die anmutige Gestalt ihrer Schwester erblickt.
Cassandras smaragdgrünen Augen weite sich ebenfalls vor Schreck, wenn auch nur kurz. Denn kaum halten die beiden Schwestern Blickkontakt, lächelt der Rotschopf herzallerliebst. Samira klatscht sich die Hände gegen die Wangen, denn sie muss sich vergewissern, dass es um keinen Traum handelt.
„Cassy?“ Viel Zeit verstrich, seit Samira auf den Spitznamen zurückgriff. Immer dann, wenn sie nicht weiter weiß und verunsichert wird. „Bist du es wirklich?“
Zur Antwort neigt ihre Schwester den Kopf und ihr Lächeln gewinnt an Wärme, als sie die Augen glücklich zukneift. Als feiere der Wind ihr Wiedersehen, tragen seine zarten Böen ein paar Blumenblätter heran und spielen mit Cassandras roten Strähnen.
„Unmöglich!“
Vor Samiras inneren Auge wiederholen sich die grausamen Minuten, als ihre Schwester im Hinterhalt erstochen wurde und mit einem vor Schreck geöffneten Mund zu Boden ging. Samiras kauernde Gestalt spiegelte sich in der roten Pfütze und die aufgeschlagenen Knie beim Fall spürte sie erst Stunden später. Eine quälende Zeitspanne, indem viele Menschen um das Wohl ihrer Prinzessin gebangt haben, um dann die erschütternde Nachricht vom Verlust zu erfahren. Samira befand sich noch bis spät in die Nacht bei ihrer erkalteten Schwester, dessen Blässe sie veränderte. Die Gestalt von Cassandra, die sich in diesem Augenblick hingegen in ihrem Zimmer befindet, lässt den körperlichen Verfall vergessen. Die Haut wirkt gesund und nicht mehr totenblass. Zwar hat Cassandra schon immer einen hellen Teint und doch lässt dieser ihre glänzende Mähne noch farbenfroher erstrahlen. Die Augen glänzen voller Leben. Leuchtend wie Smaragde. Anders als am Sterbebett, wo diese an Glanz verloren haben und milchig wurden. Nun aber erinnert die Prinzessin an die schönste Knospe. Kurz vor dem Öffnen.
Kaum setzt sich Cassandra in Bewegung, befördert Samira beunruhigt das andere Bein auf den Boden. Ihr Körper bleibt im Fluchtmodus, dabei protestiert das Herz. Schließlich hat sich Samira nichts mehr gewünscht, als das sie ihre Schwester zurückbekommt. Nur wirkt ihr der Moment nicht geheuer. Denn Tote erwachen für gewöhnlich nicht. Als wüsste Cassandra, dass ihre Schwester Zeit braucht, nähert sie sich ganz langsam wie eine Raubkatze auf Beutezug. Samira begutachtet ihr Gegenüber bis aufs kleinste Detail ab. In Sorge, vor ihr befindet sich eine Nachahmerin, aber je mehr Zeit verstreicht, umso weniger kann Samira ihre Schwester leugnen. Cassandra genießt ihr vollstes Vertrauen, daher lässt Samira ihr Gegenüber gewähren. Auch heute wird sie nicht enttäuscht, denn ihre Schwester streichelt sanft über Samiras Gesicht, bevor sie die kleine Brünette einfängt und feste in ihre Arme zieht. Hoch aufs Bett. Ein paar Wimpernschläge später und Samira löst sich aus ihrer Starre. Zögerlich erwidert sie die Umarmung. Kaum öffnet sich die Kleinste, steht dem Glück nichts mehr im Weg. Samiras Griff liegt eng um ihre Schwester. Aus Sorge, sie könne ihren geliebten Menschen erneut verlieren. Ihr Herz schlägt laut und voller Freude. Nach all der stressigen Zeit findet der verletzte Geist Ruhe und Linderung. Vielleicht nur kurz und sicherlich nicht für die Ewigkeit, aber für Samira zählt gerade der Moment. Sorgen um die Zukunft will sie sich keine machen, sondern die Wiedervereinigung in vollen Zügen genießen.
In einer Woge aus Liebe und Geborgenheit verliert Samira das Zeitgefühl. Die Arme sind ganz steif und auch der Rücken meldet sich, dennoch will sich die kleine Prinzessin nicht lösen. Auch, wenn sich einige entscheidende Details langsam, aber sicher, nicht mehr ignoriert lassen. Die fehlende Körperwärme bereitet Samira besonders Magenschmerzen. So wie der fehlende Herzschlag. Ihr Ohr liegt an Cassandras Brust und doch vernimmt die Prinzessin keinen Laut.
Mutig hebt die kleine Schwester den Kopf. „Cassy?“
Die geschlossenen Augen ihres Lieblingsmenschen öffnen sich zu einem Schlitz. Cassandra scheint die Umarmung ebenso sehr zu genießen, wenn Samira die Gesichtszüge richtig deutet. Denn ihre Schwester strahlt vor Freude und selbst durch die kleine Öffnung funkeln die Augen. Auffordernd stupst die Totgeglaubte Samira spielerisch mit der Nase an. Daher fasst sich Samira ans Herz. Auch wenn es bedeuten würde, den wundervollen Moment zu vernichten.
„Ist dir kalt, Cassy? Du bist ganz kühl.“
Kaum ausgesprochen schwindet Cassandras Lächeln und die Traurigkeit spiegelt sich in den Augen wieder. Cassandra dreht gerade den Kopf fort, da keimt Panik in ihrer Schwester auf. Blitzschnell schnappt sich Samira die Übergangsdecke und hüllt das kalte Fleisch in dem weichen Stoff ein. Eine Geste, die Cassandra kurz innehalten lässt in ihrer Bewegung. Zögerlich dreht sie sich zurück zu Samira, nachdem sie eilig eine Träne fortstreicht und sie dankbar seufzt. Bislang sprach die Totgeglaubte keinen Ton, was nicht ungewöhnlich für die Thronerbin war. Cassandra war schon immer still. Sie beobachtete ihre Umgebung gern und wählte ihre Worte mit Bedacht. Nun aber zeigt sich, dass die Stimmbänder angegriffen sind. Die kläglichen Laute lassen Cassandra ebenfalls zusammenschrecken und wieder still werden. Aber auch dafür hat Samira eine Lösung und erhebt sich eilig. Zu schnell, denn der Schwindel kündigt sich an. Die kleine Prinzessin droht gerade wegzubrechen, da eilt ihre Schwester zur Hilfe und stützt sie mit einem sorgenvollen Blick.
„Uff, danke dir. Das war ungeschickt.“ Nun kichert Samira, denn das klingt nach ihr. Tollpatschig und verträumt. „Warte kurz, Cassy. In meinem Zimmer steht ein Wasserkrug. Ich hole dir etwas zu trinken, dann geht es gleich wieder mit deiner Stimme.“
Aber Cassandra fängt beunruhigt ihre Hand ein und blickt, als fürchte sie sich davor, verlassen zu werden. Samira teilt ihre Sorge, denn wer garantiert ihr, dass dieses Zimmer nicht leer sein wird, wenn sie den Raum wechselt. Daher schweifen ihre Augen um her. Auf der Suche nach einem Wasserkrug.
Mit einem Klopfen tritt das Dienstmädchen Anna hinein. Wenn sich Samira nicht irrt, ist sie gerade Mal zwei Jahre älter als Cassandra und ebenfalls voller Tatendrang. Mit dem goldenen Haar sticht die Dienstmagd unter all den Leuten ebenfalls heraus und ihre liebevolle, fast mütterliche Art, wissen alle im Schloss zu schätzen. Sorgenvoll tritt Anna heran. Ihre blauen Augen kleben auf Samira, was die Prinzessin stutzig macht. Denn Cassandra befindet sich vor Ort und doch reagiert Anna nicht auf ihr Dasein.
„Wie fühlt Ihr Euch, Prinzessin?“
Das Dienstmädchen tastet sich vorsichtig heran und läuft in kleinen Schritten voran. Samira befürchtet, ihre Flucht hat sich bereits rumgesprochen und ihre Augen sind noch immer angeschwollen. Dennoch sieht sie eine Chance, ihrer Schwester Wasser zu organisieren, ohne den Raum zu verlassen.
„Mir geht es wieder gut. Danke der Nachfrage. Anna, wärest du so nett und könntest du mir einen Wasserkrug und einen Becher bringen?“
Kurz atmet Anna auf und legt die gefalteten Hände an die Brust.
„Ich könnte Euch auch einen Tee aufsetzen. Eine Sorte, die Körper und Geist entspannen lässt.“
Der Vorschlag zeigt erneut ihre mütterliche Sorge und wärmt Samiras Herz. Ein Blick auf Cassandra und sie nimmt Spuren von Erschöpfung wahr. Der Kopf hängt und die die Augen drohen zuzufallen. Vielleicht wäre ein Tee die bessere Variante.
„Hilft der Tee auch, wenn die Stimmbänder angeschlagen sind, Anna?“
Verwirrt legt das Dienstmädchen den Kopf schief. Verständlich. Samiras Stimme klingt nicht angeschlagen, daher räuspert Samira auffällig und tastet über den Hals, als bahne sich eine Erkältung an. Daher folgt ein kurzes Nicken seitens des Dienstmädchens.
„Ich gebe etwas Honig in den Tee, das wird sicher helfen.“
Freudig klatscht Samira die Hände zusammen. „Wunderbar.“
Ein wenig konfus tritt Anna hinaus. Nicht ein einziges Mal sah sie Cassandra an, woraufhin Samira ihre Schwester konfrontiert, nachdem sich die Tür schließt und Annas Schritte sich von dem Zimmer entfernen: „Sehe ich das richtig und kein anderer kann dich wahrnehmen, Cassy?“
Die Augen weiten sich und das Gesicht bekommt eine unnatürliche Blässe. Statt zu antworten, starrt Cassandra. Samira mag ihre Schwester so nicht sehen und sie wollte auch nicht die Stimmung zerstören. Daher streichelt sie über Cassandras Kopf und dreht den Spieß um, denn jetzt schenkt sie ihrer Schwester ein hoffnungsvolles Lächeln.
„Alles gut, Cassy. Ich bin einfach nur froh, dich zu sehen.“
Ihr Trostversuch glückt. Die Miene ihrer Schwester hellt auf und ohne Vorwarnung zieht sie Samira zurück in ihre Arme. Dankbar drückt sie ihre kleine Schwester und der Duft der Freesie wird stärker. Glücklich schließt Samira ihre Augen. In der Hoffnung, niemals mehr von ihrer Schwester getrennt zu sein.




























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