Bloody Mary

Die Bar war leer, bis auf die Schatten. Truly stand am Tresen, das Herz schwer vom Nachklang der Mitternacht. Die Gläser waren längst abgeräumt, die Musik verstummt, und doch lag der Geruch von Kräutern und Salz noch immer in der Luft.

Hayes war bei ihr, die Hände in die Taschen geschoben, das Gesicht angespannt. »Jemand war hier. Jemand wollte diese ganze Stadt zum Ritual machen. Aber wer?«

Truly starrte auf die Scherben am Boden. ›Jemand, der nah genug war, um unauffällig zu wirken. Jemand, den niemand verdächtigen würde.‹

Die Antwort kam schneller, als sie gedacht hätte.

Die Tür öffnete sich. Schritte, ruhig, selbstsicher. Der Barkeeper aus der Indigo Bar trat ein, in makelloser Kleidung, ein Lächeln auf den Lippen.

»Was für ein Chaos«, sagte er, als wäre er nur zufällig hereingekommen. »Schon wieder Drinks, die mehr töten als trösten.«

Hayes spannte sich, griff instinktiv an die Innentasche seines Mantels. »Sie.«

Der Barkeeper hob die Hände, als sei er beleidigt. »Oh, bitte. Ich? Nur ein armer Mann, der Cocktails mixt.«

Truly spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte. Die Nervosität, die er am ersten Abend gezeigt hatte. Die Art, wie er das Glas aufgewischt hatte, noch bevor die Polizei die Symbole sah. ›Er war von Anfang an dabei.‹

»Sie waren es«, flüsterte sie. »Der erste Drink. Der Bloody Mary. Sie haben sie vergiftet.«

Seine Augen blitzten. Kein Dementi. Nur Stolz.

»Endlich erkennt jemand meine Arbeit«, sagte er leise. »Sie wissen, wie viele Jahre ich darauf gewartet habe?«

Hayes trat einen Schritt näher. »Warum? Warum die Frau, warum der Cafébesitzer, warum all das?«

Das Lächeln des Barkeepers wurde bitter. »Weil ihre Blutlinien Schuld tragen. Weil ihre Vorfahren meine Familie zerstört haben.«

Er griff in die Tasche, zog einen kleinen Beutel hervor, öffnete ihn. Dunkles Pulver rieselte in seine Handfläche.

»1648«, fuhr er fort. »Die Prozesse. Meine Urgroßmutter stand vor dem Gericht. Unschuldig. Sie haben sie verbrannt. Wissen Sie, wie es ist, wenn ein ganzes Erbe im Rauch vergeht? Wenn Generationen in Scham leben?«

Truly spürte, wie ihr Herz hämmerte. ›Rache. Ein uralter Fluch.‹

»Also haben Sie beschlossen, Nachkommen zu töten«, sagte sie.



»Nicht zu töten«, korrigierte er. »Zu opfern. Ihr Blut nährt den Kreis. Mit jedem Schluck, mit jedem Herzschlag nähere ich dem Moment, an dem das Siegel bricht.«

Er streute das Pulver über den Tresen. Es leuchtete grünlich, Linien bildeten sich – ein neues Symbol, größer, komplexer.

»Und dann«, flüsterte er, »wird meine Familie zurückkehren. Frei von Ketten. Frei von Schande.«

Hayes zog die Waffe, doch bevor er sie heben konnte, schlug der Barkeeper die Hand auf das Symbol. Ein Schock ging durch den Raum, die Lichter flackerten, Gläser klirrten.

»Sie sind zu spät«, zischte er.

Truly griff in ihre Tasche, zog ihr Amulett hervor. »Nicht, wenn ich noch stehe.«

Er lachte. »Sie? Ein Mädchen mit ein paar Kräutern? Sie wissen nicht, was Sie gegen mich ausrichten können.«

»Ich weiß genug«, erwiderte sie. Sie nahm ein Glas vom Tresen, füllte es mit Wasser aus der Karaffe, griff nach Salz vom Regal. Mit schnellen, geübten Bewegungen umrundete sie den Rand, flüsterte Worte. Das Wasser begann zu schimmern.

»Eine Bloody Mary ist nur so stark wie die Hände, die sie mischen«, sagte sie. »Und meine Hände gehören zu einem alten Erbe.«

Sie schleuderte das Glas gegen das Symbol. Es zersprang, Wasser und Salz spritzten über die Linien. Das Leuchten flackerte, erlosch für einen Moment.

Der Barkeeper fauchte, hob beide Hände. Schwarze Flammen schossen hervor, peitschten durch den Raum. Truly duckte sich, spürte die Hitze knapp über ihrem Kopf.

Sie griff nach einem zweiten Glas, diesmal ein echtes Cocktailglas, das noch hinter dem Tresen stand. Sie füllte es mit den Resten eines Rotweins, zog eine Zitrone aus ihrer Tasche – eine Zutat, die sie immer bei sich trug – und presste sie hinein. Ihre Stimme bebte, als sie Worte sprach, die ihre Großmutter sie gelehrt hatte.

Das Glas begann zu glühen.

»Sie können mich nicht aufhalten«, schrie der Barkeeper. »Mein Blut ist stärker als Ihres!«

»Mag sein«, keuchte Truly, »aber ich habe gelernt, dass Drinks mehr als nur Gift sein können.«

Sie schleuderte das Glas direkt auf ihn. Es zerbarst an seiner Brust, die Flüssigkeit sog sich in seine Kleidung. Ein Aufschrei, als das Licht ihn umhüllte, ihn zurückwarf.



Er taumelte, versuchte, das Symbol zu berühren, doch es zerfiel, brach auseinander, als wäre es nie da gewesen.

Sein Körper zitterte, dann sank er zu Boden.

Stille. Nur das Tropfen des zerbrochenen Glases, das sich langsam über die Fliesen verteilte.

Hayes trat vor, die Waffe noch erhoben, doch er senkte sie, als er sah, dass es vorbei war.

Truly stand keuchend, das Herz raste, ihre Hände zitterten. Sie hatte gewonnen – fürs Erste.

Doch als sie auf den am Boden liegenden Mann blickte, sah sie nicht nur einen Mörder. Sie sah eine Tragödie, geboren aus Flammen, aus Jahrhunderten von Hass und Verlust.

Und sie wusste, dass dies nicht das Ende war.

Hayes legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Es ist vorbei.«

»Nein«, flüsterte sie. »Es fängt gerade erst an.«

Draußen begann die Sonne über den Häusern aufzugehen, warf schwaches Licht durch die Fenster. Ein neuer Morgen. Doch in Trulys Brust blieb das Gefühl, dass sie nur die erste Schlacht gewonnen hatte.

Und dass der Zirkel noch lange nicht fertig war.

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