SdS – Kapitel 2

Der Bus roch nach nassen Jacken und einem Hauch von abgestandenem Kaffee. Ich ließ mich auf einen freien Platz am Fenster fallen, stellte meine Tasche auf den Boden zwischen meine Füße und seufzte leise. Fünfzehn Kilometer. Fünfzehn Kilometer zwischen mir und meiner kleinen Wohnung.
Der Motor brummte, die Türen zischten leise beim Schließen, und der Bus setzte sich ruckartig in Bewegung. Ich zog mein Handy aus der Jackentasche und wischte den Startbildschirm hoch. Drei neue Mails.
Die erste war Werbung für irgendein Abo, das ich längst gekündigt hatte. Wahrscheinlich wollten sie mich zurückgewinnen. Aber meine finanzielle Lage war dafür nun wirklich nicht ausgelegt. Bereits bei der zweiten Kündigung hatte ich geprüft, was ich alles kündigen könnte. Sparen war nun ein wesentlicher Bestandteil meines Lebens.
Die zweite Mail war eine automatische Eingangsbestätigung meiner letzten Bewerbung. Hätte ich die meiner neuen Sachbearbeiterin Frau Behrens zeigen müssen? Wohl eher nicht, immerhin hatte ich mich als Einzelhandelskauffrau in einem Bürofachmarkt beworben. Wenn es nach der Vermittlerin ging, war ich dafür nicht qualifiziert genug. Und wenn ich an die letzten erfolglosen Probezeiten dachte, hatte Frau Behrens vielleicht sogar recht.
Die dritte Mail war von meiner Bank. Sie boten ein Gespräch für die Einräumung eines Kredits an. Wie kamen die auf solch eine Idee? Musste ich mein Konto überprüfen? Ich war doch wohl nicht ungewollt ins Minus gerutscht?
Nervös öffnete ich die Bank-App und versicherte mich mit einem Rundum-Blick, dass niemand zu mir schaute. Auch wenn ich mich so überhaupt nicht mit Datenklau auskannte, wusste ich, dass man in öffentlichen Bereichen sehr vorsichtig sein musste. Es schien sich aber niemand für mich zu interessieren, also gab ich meine Daten ein und prüfte meinen Kontostand. Alles gut. Erleichtert atmete ich auf. Das Gehalt des letzten Arbeitgebers war eingetroffen, ich musste mir keine Sorgen machen. Noch nicht.
Ich schloss die App und öffnete meinen Messenger. Eine Nachricht von meiner Mutter.

Wie lief es heute? Hast du was Gutes gefunden? Ruf mich an! ❤️

Ich seufzte und ließ das Handy sinken. Anscheinend hatte meine Mutter keine Ahnung, was bei so einem Termin mit einer Arbeitsvermittlerin passierte. Woher auch? Sie war seit der Heirat mit meinem Vater Hausfrau und Mutter – jetzt nur noch Hausfrau und Oma. Und mein Vater war seit letztem Jahr in Rente und ein Nur-noch-Opa. Das tat ihm sehr gut. Dumm nur, dass nicht ich für die Enkelkinder gesorgt hatte, sondern meine zwei Jahre jüngere Schwester. Sie war mittlerweile mit dem dritten Enkelkind schwanger. Und ich hatte nicht einmal einen Freund.




Mein Blick glitt nach draußen. Der Regen lief in feinen Bächen über die Scheibe, doch durch die Geschwindigkeit des Busses wurden die Tropfen immer wieder nach hinten weggezogen. Ein endloser Kreislauf. Genau wie mein Leben. Wenn die Tropfen bei einem Halt sauber nach unten rannen, wurden sie kurz nach der Anfahrt aus ihrer Bahn geworfen. Ob sie sich wünschten, einfach gemächlich weiter nach unten rinnen zu dürfen, um dann irgendwann auf den Boden zu tropfen?
Mit einem kurzen Kopfschütteln richtete ich meinen Blick wieder auf das Handy. Was für dumme Gedanken! Als ob Regentropfen denken konnten und Wünsche hatten, ich sollte mich lieber auf meine neuen Aufgaben konzentrieren. Dazu gehörte unter anderem, herauszufinden, was überhaupt so eine Lagermitarbeiterin machte und was die Aufgaben einer Kommissioniererin waren. Das Wort klang auf jeden Fall schon mal sehr wichtig. Obwohl der Job es sicherlich nicht war, sonst hätte mich Frau Behrens nicht dafür ausgewählt.
Ich öffnete einen Browser und tippte ein: was machen lagermitarbeiter.
Ein paar Sekunden später tauchten die ersten Ergebnisse auf.
Lagerhelfer: Verpackung von Ware, Sortierung, Bestückung, Transport, Kommissionieren per Hand, mit Hubwagen oder mit Gabelstapler, Bedienen von Maschinen, Geräten & Warenwirtschaftssystemen, Datenpflege, Bestandskontrolle & Qualitätssicherung, Packlistenbearbeitung.
Da – da war es schon wieder: dieses hochgestochene Wort Kommissionieren. Wobei ich weder einen Hubwagen noch einen Gabelstapler fahren konnte, Maschinen konnte ich dann sicher auch nicht bedienen. Wie kam Frau Behrens auf die Idee, dass ich das besser konnte als im Einzelhandel zu verkaufen, was ich tatsächlich gelernt hatte?
Die nächste Quelle beschrieb es einfacher: Annahme, Lagerung und Weitertransport von Waren. Verpacken von ausgehenden Waren und Versandvorbereitung. Annahme und Überprüfung angelieferter Waren im Wareneingang.
„Okay“, murmelte ich halb laut vor mich hin. „Bei einer großen Firma mit schweren Teilen werden dann wohl mit dem Hubwagen oder Gabelstapler die Waren auf Paletten gepackt und umwickelt für den Versand. Bei einer kleinen Firma werden vielleicht Kleinteile in einzelne Kisten verpackt und versandfertig vorbereitet. Also wird mir Frau Behrens kleinere Firmen herausgesucht haben.“




Mein Traumjob war das natürlich nicht, aber es klang zumindest abwechslungsreich. Und im Verkauf hatte ich schließlich auch Regale befüllen müssen, abgelaufene Produkte aussortiert, Kisten ausgepackt, um die Regale zu bestücken. Das gehörte im Einzelhandel neben Abkassieren ganz normal dazu. Kundenberatung war eher ein Zufall gewesen. Die Kunden kamen mit festen Vorstellungen zum Einkauf und wollten höchstens wissen, wo sie den Käse fanden oder warum ihr geliebtes Brot ausverkauft war.
„Aber was ist Kommissionieren?“ Ich runzelte die Stirn und tippte es als Nächstes in den Browser ein.
„Österreichische Amtssprache?“, las ich irritiert und schüttelte verwirrt den Kopf. Aber gleich darauf las ich, dass es noch eine zweite Bedeutung gab aus dem wirtschaftlichen Teil. Dabei ging es um Lagerarbeiten. „Güter und Waren nach vorgegebenen Aufträgen zusammenstellen.“
Also war ein Kommissionierer nichts anderes als ein Lagermitarbeiter. Frau Behrens sah meine Zukunft im Lager oder an der Seite von Hausfrauen, die mit Regalbefüllung ihr Haushaltsgeld aufbesserten. Meine Mutter hatte das auch einige Zeit gemacht, als die Firma von meinem Vater Konkurs ging und er arbeitslos gewesen war. Doch kaum hatte er einen neuen Job gefunden, war meine Mutter wieder zu Hause geblieben.
Ich stellte mir vor, wie ich in einem riesigen Lager stand, grelles Neonlicht blinkte, um mich herum fuhren Hubwagen, während Männer und Frauen wild durcheinander riefen. Und ich mitten dazwischen mit einem Klemmbrett im Arm, und ich versuchte, die richtige Reihe mit der richtigen Ware zu finden. Wenn ich dann mit dem Scanner über das Paket fuhr, piepste es gnadenlos, weil ich das Falsche herausgesucht hatte.
Ich schluckte. Wollte ich das? Nein. Musste ich das tun? Wahrscheinlich.
Der Bus hielt an der nächsten Haltestelle, und eine größere Gruppe Menschen stieg ein. Ganz kurz überlegte ich, ob ich meine Tasche auf den Sitz neben mich stellen sollte, doch zu spät. Schon hatte sich eine Frau neben mich gequetscht. Ihre nasse Regenjacke drückte gegen meinen Arm, und sofort spürte ich die Kälte bis zu meiner Haut durchdringen.
Ich versuchte, näher an die Buswand zu rutschen, doch es gelang mir nicht. Abgesehen davon war die Fensterfront kalt, vielleicht sogar kälter als die nasse Jacke der Frau neben mir. Wieder einmal wurde mir bewusst, wie dick ich war – ich konnte mich nicht schlank genug machen, dass niemand mich berührte. Mein Körper hatte nicht die Traummaße, wie sie im Internet und auf den sozialen Medien angepriesen wurden.




Die Frau neben mir keuchte und schnaufte laut, schob ihre Kapuze herunter und schüttelte ihre roten Locken. „Scheiß Wetter“, sagte sie vor sich hin schimpfend, ohne mich wirklich anzusprechen.
Ich nickte stumm und verzog mein Gesicht zu einem Lächeln. Dann senkte ich meinen Blick hastig auf mein Handy, dazu drehte ich mich Richtung Fenster. Ich hatte keine Lust zu reden, schon gar nicht über irgendwelche Belanglosigkeiten mit einer fremden Frau. Das Gespräch in der Arbeitsvermittlung hatte mir schon gereicht.
Meine Mutter fiel mir ein. Ich rollte mit den Augen und öffnete meinen Messenger. Wenn ich ihr nicht antwortete, würde sie nicht lockerlassen. Wenn ich richtig Pech hatte, kam sie nachher bei mir vorbei. Das war der Nachteil, wenn man eine kleine Wohnung im gleichen Dorf hatte, wo auch das Elternhaus war. Man konnte jederzeit einen Überraschungsbesuch der Eltern erhalten, wobei eher meine Mutter als mein Vater kam. Der Vorteil war natürlich, dass meine Mutter im Krankheitsfall für mich da war und mich mit Essen, Getränken, Medizin und Taschentüchern versorgte. Also durfte ich mich nicht beschweren. Eigentlich konnte ich froh sein, dass ich auch mit vierundzwanzig Jahren nie wirklich allein war.

War okay. Hab acht Stellenangebote. Kann nicht telefonieren, muss Bewerbungen schreiben.

Ich verzichtete auf ein Emoji. Ich mochte die nicht besonders. Irgendwie fand ich nie das richtige, oder ich interpretierte in diese grinsenden Gesichter etwas anderes als andere Menschen. Besser war es, gar keins zu schicken, dann konnte es auch nicht falsch sein.
Der Bus fuhr langsam die Straße entlang. Durch die dunkelgrauen Regenwolken wirkte es wie später Abend, dabei war es erst sechzehn Uhr.
Draußen trommelte der Regen weiter gegen die Scheibe und wurde vom Fahrtwind weggedrückt, in eine Richtung gezwungen, die er sich nicht aussuchen konnte.
Genauso fühlte ich mich auch.

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