EZC – Kapitel 4
Mit Tränen in den Augen eilte Aschenputtel zum Grab ihrer Mutter. Die Eltern und ihre Stiefschwestern waren vergnügt zum Ball des Königs aufgebrochen. Heute war der letzte Abend vom großen dreitätigen Fest. Danach würde der Königssohn seine Braut wählen. Natürlich hoffte die Stiefmutter, dass eine ihrer beiden Töchter die neue Königin würde.
Aschenputtel sah sich immer wieder um. Niemand durfte bemerken, wie sie das Haus verließ. Alle sollten glauben, dass sie einsam zu Hause verharrte. Die Stiefmutter hatte ihr so viele Arbeiten aufgetragen, dass sie diese kaum bewältigt bekam. Aber sie war fleißig und hatte emsig geputzt und gefegt. Und so hatte sie es schlussendlich geschafft. Denn ihr Herz schlug nur für den Königssohn. Sie sehnte sich danach, erneut mit ihm zu tanzen, seine liebevollen Augen auf sich ruhen zu fühlen, seine wunderbare Stimme zu hören, die ihr Komplimente zuflüsterte. So hatte sie sich sehr beeilt. Es drängte sie geradezu, so schnell wie möglich zu ihm zu gelangen. Auch jetzt verlor sie keine Zeit.
„Liebe Mutter, bitte verzeiht mir, dass ich mich nicht lang aufhalten kann“, begann sie, als sie sich ans Grab unter den Haselbaum stellte. „Ich werde Euch ein anderes Mal alles erzählen, was mir alles in den letzten Tagen widerfahren ist.“ Dann atmete sie tief ein und hob den Kopf.
„Bäumchen, rüttel dich und schüttel dich,
wirf Gold und Silber über mich!“
So rief sie wie an den Tagen zuvor mit ihrer hellen, klaren Stimme. Und der Vogel, der im Haselbäumchen war, warf Aschenputtel ein Kleid herab, das prächtiger als die Kleider der zwei anderen Abende war, es glänzte im abendlichen Schein und war aus dem feinsten Stoff, den ein Schneider nur in Händen halten konnte. Dazu bekam sie feine goldene Pantoffel, die so klein und zierlich waren, dass sie sich perfekt an ihre Füße schmiegten. Nie hatte sie etwas Schöneres getragen.
Mit zitternden Fingern schlüpfte sie aus ihrem alten grauen Kittelchen und hinein in die kostbaren, reich bestickten Kleider. Sie sah so schön aus wie nie zuvor und fühlte sich beschwingt und voller Vorfreude. Eilig machte sie sich auf den Weg zum Schloss. Bald sah sie ihren Königssohn!
Oh, was war sie aufgeregt. Ihr Herz schlug so heftig und schnell, dass sie schon fürchtete, es würde ihr aus der Brust springen, als sie das hell erleuchtete Schloss erblickte. Es sah alles so prachtvoll aus und noch schöner als die Abende zuvor. Es schien, als wolle der Lichterglanz des Königshauses mit Sonne und Mond zugleich wetteifern. Ganz gewiss war das zauberhafte Kleid für diesen festlichen Abschlussball genau das Richtige.
Ein Lächeln huschte über Aschenputtels Gesicht, als sie sich erinnerte, wie die Stiefmutter und die Stiefschwestern die letzten beiden Abende ungläubig auf sie gestarrt hatten. Sie wussten sofort, dass diese wunderschöne, fremde Prinzessin ihnen den Königssohn streitig machte – und sie ahnten nicht, dass es sich um das verachtete Aschenputtel handelte. Und der Königssohn hatte nur Augen für sie gehabt. Jeden Tanz hatte er allein für sie reserviert. Denn durch die wunderschönen Gewänder von Zauberbaum und Zaubervogel war sie die prächtigste und schönste Jungfer von allen. Das Herz des Königssohns gehörte gewiss allein ihr. Endlich gab es einen, der nur sie liebte und allein auf sie voller Zuneigung sah.
Hurtig eilte Aschenputtel die steinerne Treppe hinauf. Nur ein klein wenig hob sie das bauschige, glitzernde Ballkleid an. Ach wie frohlockte ihr Herz beim Anblick der goldenen Pantoffeln. Nie sah sie feinere und kostbarere Tanzpantoffel. Sie waren wirklich einer Prinzessin würdig. Nie käme jemand auf den Gedanken, sie könnte eine andere sein, ein unscheinbares, schmutziges Aschenputtel. Sicherlich staunten alle, wenn sie diese funkelnden, schönen Gewänder sahen, wie es sie noch keine Jungfer zuvor getragen hatte. Aschenputtel staunte ja selbst über sich.
All die Jahre, die sie am Grab ihrer Mutter geweint und ihr Leid beklagt hatte, schienen ein Ende gefunden zu haben. Denn ihr größter Wunsch, einen lieben Mann zu bekommen, der sie aus dem Elend befreite, wurde nun erfüllt. Bald konnte die böse Stiefmutter ihr nichts mehr antun. Und die bösen Stiefschwestern hätten keinerlei Möglichkeit mehr, um sie zu verspotten und zu quälen. Noch konnte sie nicht so ganz begreifen, wie das alles geschah. Nie hatte sie erwartet, dass sie einmal mit so viel Glück beschenkt werden könnte. Aber dieses perlenbestickte, herrliche Kleid, die glänzenden goldenen Pantoffel – es war alles echt. Sie sah aus wie eine anmutige Prinzessin. Und sie war sicher, tief in ihrem Inneren fühlte sie sich auch genauso. Alles in ihr war beschwingt und leicht, obwohl sie eigentlich vor Aufregung vergehen müsste.
Die zierlichen Tanzpantoffeln machten kein Geräusch auf dem kalten Steinboden, der bis hin zum Tanzsaal führte. Die Wachposten standen stramm und ließen sie ungehindert hindurch. Als ob sie wirklich dazugehörte. Ihr Herz schlug schneller, je näher sie dem Saal kam. Die großen Türen waren bereits geschlossen. Ob sie wohl noch hereingelassen wurde? Ein klein wenig Unsicherheit durchströmte sie. Sie war später eingetroffen, als sie geglaubt hatte. Dabei hatte sie sich so bemüht, nicht als Allerletzte zu diesem großartigen Fest zu kommen.
Kurz vor den Türen verharrte sie. Konnte ein Herz in der Brust zerspringen? Wenn es so war, würde es genau jetzt geschehen. Da war sie ganz sicher. Ihr schwindelte ein wenig vor Aufregung. Und doch zog es sie in diesen Saal, wo die Musik so herrlich spielte.
Die Wachen öffneten die Tür, und sie trat mit einem seligen Lächeln hindurch in den hell erleuchteten Festsaal. Sie wurde sofort bemerkt, und die Musiker hörten auf zu spielen. Selbst das Lachen und Plaudern verstummte. Peinlich berührt blieb Aschenputtel stehen. Verlegen blickte sie an sich hinunter. Stimmte etwas nicht? Hatte sie auf dem Weg hierher ihr kostbares Gewand beschmutzt?
Und dann sah sie ihn – und er sah sie. Der Königssohn eilte auf sie zu mit leuchtenden Augen. Oh, Himmel, er sah einfach fantastisch aus! Sein königliches Gewand glitzerte golden und dunkelblau, weiß umsäumt und edel verziert. Vor Aufregung atmete sie schneller und öffnete leicht den Mund, sog die Luft heftig ein. Ein Kribbeln glitt über ihre Haut und bis in den Bauch hinein. Ihr wurde schwindlig, und es war ihr unmöglich, auch nur einen Schritt zu machen.
„Da seid Ihr ja“, begrüßte er sie und streckte ihr die Hand entgegen. „Ich habe Euch sehnsüchtig erwartet.“
Aschenputtel legte ihre leicht zitternden Fingerspitzen in seine dargebotene Hand und versank in einem tiefen Knicks. „Hoheit, es ist mir eine Ehre, auch heute an Eurem Ball teilnehmen zu dürfen.“
„Die Ehre und Freude liegt ganz bei mir.“
Kaum hatte sie sich aus dem Knicks erhoben, zog er sie bereits zur Tanzfläche. Mehrere Paare standen dort und blickten ihnen mit offenen Mündern entgegen. Es machte Aschenputtel unruhig. Doch dann setzte die Musik ein. Schon tanzten die beiden, und alles andere war vergessen. Aus den Augenwinkeln sah sie die Stiefmutter, die eifrig mit den Stiefschwestern tuschelte. Ob sie heute erahnten, wer die bezaubernde Prinzessin war? Ach, da brauchte sich das Aschenputtel keine Sorgen machen. Sie glaubten, sie läge vor dem Kamin, über und über mit Asche bedeckt. Nie kämen sie dazu, zu erahnen, dass sie solch ein wunderschönes, feines Gewand tragen könnte.
Der Königssohn wirbelte das Aschenputtel herum. Er lachte mit ihr, und alles war wundervoll. Doch auch andere Herren begehrten, mit der reizenden Prinzessin zu tanzen. Der Königssohn aber ließ die Hand seiner Tanzpartnerin nicht los und sagte einem jeden: „Das ist meine Tänzerin.“ Wie froh machte sie dies, und sie strahlte ihn entzückt an.
Wie die Abende zuvor neigte sich der Ball leider viel zu rasch seinem Ende entgegen. Aschenputtel sah ihn an, ihren wunderschönen Königssohn, und flüsterte: „Verzeiht, Eure Hoheit, doch ich muss nun gehen.“
„Ich begleite Euch“, sprach er, wie bereits gestern und vorgestern.
Das konnte sie abermals nicht zulassen. Er durfte nicht sehen, wie sie das Kleid zum Grab ihrer Mutter zurückbrachte und sich geschwind vor den Kamin im Haus der Eltern legte. Also entzog sie ihm ihre Hand und eilte davon. So schnell, wie sie nur konnte, lief sie hinaus aus dem Saal und wusste, alle Blicke folgten ihr. Hurtigen Schrittes kam sie bei der Treppe an. Doch kaum setzte sie den linken Fuß auf die erste Stufe, geriet sie ins Straucheln. Oh, nein! Was war nur los? Wieso musste sie ausgerechnet jetzt stolpern? Unbeholfen stürzte sie vornüber. Durch das schwere, bauschige Kleid konnte sie sich nicht abfangen. So fiel sie.
Hörte sie etwas Knacken? Spürte sie Schmerz? Sie wusste es nicht. Doch eines wusste sie, eine Dunkelheit umfing sie. Wärme hüllte sie ein, und danach war alles nur noch still und schwarz.






























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