Kapitel 10: Leora
Am Abend, als ich mit allem fertig war, konnte ich nicht einschlafen. Die Gedanken an die beiden Räume, die ich entdeckt hatte, ließen mich nicht los. Also griff ich nach dem Buch über Vampire, das ich am Vormittag mitgenommen hatte und schlug es auf. Natürlich kannte ich die typischen Legenden über Vampire – das Sonnenlicht, die Fangzähne, das unstillbare Verlangen nach Blut.
Doch wirklich tief hatte ich mich nie mit dem Übernatürlichen beschäftigt. Warum auch? Es war schließlich nichts weiter als Fantasie. Außerdem hatte ich genug eigene Probleme, um mir über solche Märchen Gedanken zu machen. Und doch… irgendetwas an diesem Buch zog mich in seinen Bann.
Ich schlug das Buch irgendwo in der Mitte auf und las mir durch was da stand.
Vampire verfügen über außergewöhnliche körperliche Fähigkeiten. Sie sind weitaus stärker und schneller als normale Menschen und besitzen eine erhöhte Ausdauer. Ihre Sinne – Sehen, Hören und Riechen – sind in einem solchen Maß verstärkt, dass sie die Umgebung in einer Tiefe wahrnehmen können, die Menschen nicht begreifbar ist.
Besonders auffällig ist ihre Fähigkeit zur Regeneration. Verletzungen, die für Menschen tödlich wären, heilen bei Vampiren schnell und ohne Narbenbildung. Diese Fähigkeit ist jedoch von einem entscheidenden Faktor abhängig: dem regelmäßigen Konsum von Blut.
Durch Berührungen von einem Warmen Lebewesen, werden ihre Instinkte stärker, da sie das Blut in ihren Adern fließen Spüren. Dabei bedeutet das nicht immer gleich, dass sie einen Angreifen.
Auch wenn all das faszinierend klang und die Liste ihrer übermenschlichen Fähigkeiten scheinbar kein Ende nahm, konnte ich nicht anders, als die Augen zu verdrehen. Wer glaubte bitte an so einen Unsinn? Schnellere Reflexe, übermenschliche Kraft, ewiges Leben – das klang wie etwas aus einem schlechten Film.
Trotzdem konnte ich nicht aufhören zu lesen. Vielleicht würde weiter hinten im Buch etwas stehen, das weniger nach Märchen klang und mehr Sinn ergab. Also blätterte ich weiter, mein Herz schlug dabei ein wenig schneller, obwohl ich mir selbst nicht erklären konnte, warum.
Seit Jahrhunderten existieren geheime Orden und Gruppen von Vampirjägern, die sich dem Schutz der Menschheit vor diesen übernatürlichen Wesen verschrieben haben. Die Rolle des Vampirjägers ist gefährlich und oft von Einsamkeit und Misstrauen geprägt. Die meisten Jäger leben im Verborgenen, da die Bevölkerung selten von der Existenz von Vampiren weiß oder daran glaubt.
Fast nichts kann einen Vampir töten, weshalb ein Vampirjäger für genau so etwas ausgebildet wurde.
Menschen, die mit Vampiren in Kontakt kommen – insbesondere diejenigen, die nicht ausreichend über ihre Natur informiert sind – leben in ständiger Gefahr. Viele Jäger berichten von Fällen, in denen Menschen von Vampiren manipuliert, verletzt oder gar getötet wurden, weil sie die Bedrohung unterschätzt haben. Deshalb ist es für Jäger von größter Wichtigkeit, potenzielle Opfer zu schützen und die Kontrolle über die Vampire niemals zu verlieren.
Was für ein Schwachsinn. Genervt klappte ich das Buch zu und legte es beiseite. Das hier war doch nicht ernst gemeint – es las sich eher wie ein Märchenbuch für Kinder. Glaubten die beiden etwa wirklich an Vampire? Und hielten sie sich möglicherweise selbst für Vampirjäger? Der Gedanke allein war absurd… und ein wenig beunruhigend. Solche Leute waren doch eine Gefahr für die Menschheit. Umso erleichterter war ich, dass ich mit ihnen nicht viel zu tun hatte.
Ein müdes Seufzen entkam mir. So sehr mich all das beschäftigte, der Tag war lang gewesen und meine Augenlider wurden schwer. Es hatte keinen Sinn, sich weiter mit diesem Unsinn aufzuhalten. Also entschied ich mich, endlich schlafen zu gehen.
Also entschied ich mich, endlich schlafen zu gehen.
…
Fünf Tage waren vergangen. Gestern hatte uns Tom mit neuen Vorräten versorgt und ich hatte mich eine Weile mit ihm unterhalten – eine willkommene Abwechslung auf dieser einsamen Insel. Trotzdem hatte ich kaum Zeit gehabt, die Umgebung zu erkunden. Einmal war ich kurz am Strand gewesen, doch ins Wasser hatte ich es noch nicht geschafft.
Die Morgende verliefen mittlerweile in einer festen Routine: Ich frühstückte, gab Eryon sein Essen, wusch ihn und half ihm, sich frisch zu machen. Danach kümmerte ich mich um die Tiere, den Garten und brachte das Haus in Ordnung. Wenn ich endlich fertig war, war es meist schon Nachmittag – die Zeit, die ich immer mit Eryon verbrachte.
Und ich musste zugeben, es machte mir nichts aus. Im Gegenteil. Ich hatte das Gefühl, dass er sich seit meiner Ankunft verändert hatte, zum Positiven. Er wirkte glücklicher, lebendiger. Sogar seine Bewegungen wurden allmählich besser. Einmal hatte er es geschafft, seinen Arm für eine Weile leicht anzuheben. Es war nur eine kleine Geste, aber für ihn ein großer Fortschritt. Außerdem erkannte ich Tag für Tag einen neuen Ausdruck in seinen Augen. Es sah aus wie Hoffnung und Freude.
Die Nachmittage mit ihm vergingen wie im Flug. Wir schauten Filme, ich las ihm aus dem Buch vor, das ich gerade selbst las, wir hörten gemeinsam Musik und spielten kleine Spiele – soweit es seine Einschränkungen zuließen. Es war nicht viel, aber es war genug. Und manchmal, wenn ich ihn ansah und dieses leichte Glitzern in seinen Augen bemerkte, fragte ich mich, ob er sich genauso auf diese Stunden freute wie ich.
Heute war ein wirklich anstrengender Tag gewesen. Ich hatte viel geputzt, kaum Pausen gemacht und obendrein noch schlecht geschlafen. Meine Energie war am Ende. Deshalb beschloss ich, dass wir uns einfach mal wieder einen entspannten Film-Marathon gönnen sollten.
Doch irgendwann musste ich wohl wieder eingeschlafen sein, genau wie beim ersten Mal. Ich wurde erst wach, als ich eine sanfte Bewegung spürte. Blinzelnd schaute ich nach draußen – es war bereits stockdunkel.
Noch etwas benommen senkte ich den Blick und bemerkte, dass seine Hand – genau wie damals – auf meinen Arm gefallen war, direkt auf meine behandschuhte Hand. Seltsam. Sonst passierte das nie. Nur dann, wenn ich hier einschlief.
Vorsichtig hob ich den Kopf und traf direkt auf seine dunklen, warmen Augen, die mich still und aufmerksam beobachteten. Ein Kribbeln lief mir über die Haut und für einen Moment schien die Zeit stillzustehen.
Müde, aber sanft, nahm ich seine Hand und legte sie zurück auf das Bett. Seine Augenbraue zuckte leicht, als hätte ihn meine Berührung überrascht – oder vielleicht sogar etwas anderes.
„Ich muss wohl mal wieder eingeschlafen sein“, murmelte ich verschlafen und rieb mir die Augen. Nicht einmal meinen Job konnte ich vernünftig machen, wenn ich nicht einmal wach bleiben konnte.
Mein Blick wanderte zur Uhr – und mein Herz setzte einen Schlag aus. 21 Uhr.
Panik schoss durch mich. Ich hatte noch kein Abendessen gemacht und auch die Medikamente völlig vergessen.
„Scheiße“, flüsterte ich mehr zu mir selbst, während ich hektisch aufsprang. Dann sah ich wieder zu ihm. Seine dunklen Augen folgten jeder meiner Bewegungen, als würde er spüren, wie sehr mich meine Nachlässigkeit ärgerte.
„Ich komme gleich mit Essen wieder! Es tut mir leid, dass du so lange warten musstest.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, stürmte ich aus dem Zimmer und lief in die Küche. Mein Kopf arbeitete auf Hochtouren – etwas Schnelles … Pfannkuchen!
Sofort machte ich mich ans Werk. Nudeln hatten wir erst und obwohl ich wusste, dass er eigentlich keine süßen Speisen essen sollte, konnte ich nicht anders. Er liebte alles, was ich ihm in den letzten Tagen gebracht hatte. Besonders Honig.
Ein kleines Lächeln huschte über meine Lippen, als ich mich entschied: Honig-Pfannkuchen.
Vielleicht war es nicht das beste Abendessen, aber wenn es ihm schmeckte und ihn ein kleines bisschen glücklicher machte, dann war es das wert.
Schnell aß ich zwei Pfannkuchen für mich selbst, bevor ich mit drei weiteren – zwei süßen mit Honig und einem herzhaften mit Käse und Wurst – nach oben eilte. Schon halb zehn. Na ja, besser spät als nie.
Als ich die Tür leise öffnete, erwartete ich, ihn schlafend vorzufinden. Doch zu meiner Überraschung war er noch wach. Seine dunklen Augen ruhten auf mir, als hätte er mich die ganze Zeit über erwartet.
Sonst schlief er immer früh wieder ein, doch in den letzten Tagen war mir aufgefallen, dass er eher ein Nachtmensch war. Ganz im Gegensatz zu mir – ich brauchte meinen Schlaf dringend.
Ich wusste, dass ich ihm die Medikamente regelmäßig geben sollte. Normalerweise bekam er sie gegen 19 Uhr, aber es würde wohl nicht schaden, sie ihm heute etwas später zu verabreichen. Trotzdem wollte ich warten, bis er gegessen hatte. Wenn ich es ihm gleich geben würde, wäre er sofort wieder müde.
„Da es schnell gehen musste, gibt es heute Pfannkuchen. Ich denke, darüber wirst du dich nicht beschweren“, sagte ich schmunzelnd, während ich das Essen vorsichtig abstellte und mir die Handschuhe überzog.
Gerade als ich ihm den ersten Pfannkuchen reichen wollte, stockte ich. Er bewegte seine Hand.
Zitternd hob er sie an – langsam, mühsam, als würde es ihn jede Menge Kraft und Konzentration kosten. Doch dieses Mal… dieses Mal schaffte er es. Fasziniert beobachtete ich, wie seine Finger sich um den Pfannkuchen mit Käse und Wurst schlossen. Seine Bewegungen waren unsicher, aber dennoch entschlossen. Und dann – mit einer Ruhe, die mich den Atem anhalten ließ – führte er ihn tatsächlich zu seinem Mund und nahm einen Bissen.
Mein Herz machte einen kleinen Sprung.
Er hatte es geschafft. Ganz allein.
Ich wusste nicht, ob es an den letzten Tagen lag, daran, dass er mehr aß, dass wir so viel Zeit miteinander verbrachten – aber irgendetwas hatte sich verändert. Und während ich ihn beobachtete, wie er mit aller Konzentration weiter aß, konnte ich nicht anders, als leise zu lächeln.
„Ich weiß nicht, wie du das gerade machst oder warum es auf einmal klappt, aber ich bin so stolz auf dich“, sagte ich leise, noch immer völlig verwirrt – und doch glücklich.
Seine Augen fanden meine und für einen Moment hielt ich den Atem an. Dann geschah etwas, womit ich nicht gerechnet hatte.
Seine Lippen verzogen sich zu einem kleinen, fast scheuen Lächeln. Mein Herz setzte einen Schlag aus.
Vielleicht lag es daran, dass er wirklich ein Nachtmensch war und abends mehr Energie hatte… aber das konnte doch nicht sein, oder? Als er den ersten Pfannkuchen gegessen hatte und zum zweiten griff, wurden seine Bewegungen bereits flüssiger, sicherer – fast so, als würde er langsam wieder Kontrolle über seinen eigenen Körper gewinnen.
Und dann machte es in meinem Kopf klick.
Etwas war anders als sonst. Eine einzige Sache hatte sich verändert – ich hatte ihm schon länger nicht mehr die Medikamente gegeben.
Mein Magen zog sich zusammen. Was, wenn das der Grund war, warum es ihm plötzlich besser ging? Ich musste unbedingt herausfinden, was genau ich ihm da immer spritzte.
„Ich bin gleich wieder da, du scheinst das Essen ja gut unter Kontrolle zu haben“, sagte ich sanft und zwang mich dazu, mich von ihm zu lösen.
Kater Lou aufgehalten. Er saß mitten im Flur, sah mich mit seinen großen, fragenden Augen an und ließ ein leises Murren hören. In den letzten Tagen hatten wir uns angefreundet – er folgte mir auf Schritt und Tritt. Abends schlief er oft bei mir und ich war mir sicher, dass er genau darauf jetzt wieder wartete.
„Ich komme gleich“, murmelte ich schmunzelnd und streichelte kurz über sein weiches Fell, bevor ich im Badezimmer verschwand.
Was ich in diesem Moment nicht bemerkte: Lou drehte sich um – und schlüpfte leise in Eryons Zimmer.
Ich holte neugierig mein Handy hervor. Mein Herz klopfte schneller, als ich endlich nach der Flüssigkeit suchte, die ich Eryon jeden Tag spritzte. Ich tippte den Namen ein und wartete.
Dann erschien die Antwort auf dem Bildschirm – und mir rutschte das Handy fast aus der Hand.
Groß und unübersehbar leuchteten mir die Worte entgegen:
HOCHGIFTIG! BETÄUBUNGSMITTEL FÜR TIERE!
Entsetzt starrte ich auf mein Handy. Hatte ich mich vertippt? Doch nein, das hatte ich nicht. Als ich die Symptome für Menschen bei einer geringen Dosis las, schnürte sich mein Magen zusammen: sofortige Einschläferung, Lähmungen, Sprachlosigkeit, bis hin zum Tod. Und ich war mir zu 100 Prozent sicher, dass ich ihm keine geringe Menge gegeben hatte.
Ich hatte diesen Mann, der wahrscheinlich kerngesund war, einfach vergiftet – jedes Mal fast umgebracht. Mein Herz raste, als mir die schreckliche Realität dämmerte. Ich war mir jetzt sicher, dass sie ihn, ihren Neffen – wenn er überhaupt ihr Neffe war – als behindert darstellten, ihn immer wieder lähmten. Wie lange machten sie das schon?
Ich musste unbedingt dafür sorgen, dass er wieder normal wurde und wir diese Insel schnell verließen. Egal wie. Dann mussten wir zur Polizei und er in ein Krankenhaus. Das Geld konnte ich dann vergessen, aber ich würde einen anderen Weg finden, es zu bekommen. Hier ging es um ein Leben – und das durfte ich nicht weiter riskieren.
Ich stellte das giftige Zeug hastig beiseite, meine Hände zitterten vor Aufregung und mit festem Entschluss machte ich mich auf, wieder in das Zimmer zu gehen, um Eryon zu erklären, wie verdammt leid mir das alles tat. Doch als ich die Tür zu seinem Schlafzimmer öffnete und hineinsah, gefror mir das Blut in den Adern.
Blut. Überall Blut. Eryon saß kerzengerade auf dem Bett, seine Hände umklammerten Lou, der verzweifelt zappelte und panisch mauzte. Eryon hatte seine Zähne tief in den Körper des Tieres geschlagen und das Blut tropfte in roten Tropfen auf das Bett.
Der Schrei, der sich in meiner Kehle festsetzte, war ohrenbetäubend und im nächsten Moment ließ er den Kater los. Die Katze, völlig verängstigt, schoss in alle Richtungen, als der Griff sich lockerte. Der Kater versuchte panisch, an mir vorbeizurennen und ich konnte ihn gerade noch fangen, als er in Richtung Tür fliehen wollte. Blut tropfte aus seinen Wunden und bildete dunkle Flecken auf dem Boden.
Gerade als ich mit dem Kater in den Armen ins Bad flüchten wollte, trafen mich seine Augen. Knallrot, glühend und leer. Wie zwei unheilvolle Feuer, die nichts Menschliches mehr in sich trugen. Und dann sah ich sie – seine Zähne, die spitzen, blutigen Fangzähne, die immer noch Tropfen von Lou’s Blut trugen.
In diesem Moment war es, als ob die Welt um mich herum zerbrach.
Ich fing wieder an zu schreien.
































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