Kapitel 8
Sina schnappt erschrocken nach Luft, als der Betäubungspfeil das Bambusrohr verlässt. Mit Absicht wählte Clive Linus rechte Schulter. Wenn sein Geschoss trifft, dann wird der Schwertarm unbrauchbar. Denn der Alchemist bezweifelt, dass das Betäubungsmittel für solch einen dickköpfigen Söldner ausreichen würde, um seinen Körper zu lähmen. Erneut überrascht Linus den Alchemisten. Diesmal mit hervorragenden Reflexen. Clives Ausbilder hat ihm einen zu talentierten Mann zur Seite gestellt. Clive war sich zu sicher zu treffen, aber Linus fängt den Betäubungspfeil mit seiner freien Hand. Triumphierend blickt sein ehemaliger Wegbegleiter auf und donnert den Pfeil zu Boden. Mit einem Grinsen, das an Überheblichkeit kaum zu überbieten ist.
„Zu langsam, Clive!“
Verärgert schnalzt der Alchemist mit der Zunge. Auf so kurzer Distanz stand die Chance beängstigend niedrig, dass er das Geschoss abfangen konnte. Clive befürchtet, dass sein Gefährte unfassbares Glück hatte.
Sina nimmt ehrfürchtig Abstand. Nichts, was Linus Gehör entgeht. Sein Kopf schwenkt augenblicklich rüber. Mit finsterer Miene schreitet er auf sie zu. Clive beobachtet schockiert, wie Linus sein Schwert schwingt. Zum Glück lässt sich Sina im richtigen Moment fallen, dabei saust das Schwert über ihrem Kopf hinweg. Zeit, die Clive nutzte. Denn der letzte griffbereite Pfeil befindet sich nun auch im Bambusrohr, damit wäre dies nun der letzte Versuch. Der Alchemist handelt, bevor Linus erneut mit dem Schwert ausholt. Verärgert beobachtet er, wie der Söldner den Pfeil zerschlägt. Die Siegeschancen könnten somit nicht schlechter stehen.
„Eine Ranke …Dornenranke“, nuschelt Sina und klatscht ihre Hände auf den Boden.
Den Blick starr und mit flehendem Ausdruck auf das Gestein gerichtet. Eine leichte Vibration unter ihren Füßen gewinnt an Intensität. Clive traut seinen Augen kaum, als sich innerhalb von Sekunden gewaltige Dornenranken aus dem Boden drücken und sie von dem Söldner trennen. Eine Dornenhecke so gewaltig hoch, dass sie selbst die Häuser versteckt, und so lang, dass der Alchemist kein Ende in Sicht sieht. Die Wurzeln haben sich durch die Fugen gedrückt und die Steine aus dem Erdreich befördert. Ein bedrohliches Gestrüpp, dicht bewachsen und von Dornen übersät, sodass kein Weg hindurch führt. Die spitzen Dornen ähneln messerscharfen Zähnen, die nur darauf warten, sich in das Fleisch zu bohren.
Sina betrachtet mit einem schwachen Lächeln ihr Werk und ihre Worte sind für den Alchemisten alles andere als beruhigend: „Es hat geklappt, endlich.“
Endlich?
Also standen die Chancen auf Erfolg nicht sehr hoch.
Zum Glück erhebt sich Sina von ganz allein und gemeinsam hetzen sie davon. Noch einmal werden sie nicht anhalten, um zu verschnaufen. Die Stille zermürbt den Geist, aber keiner der beiden traut sich auch nur einen Laut von sich zu geben. Denn jedes noch so kleine Geräusch lässt sie aufschrecken und erhöht ihren Pulsschlag. Selbst Streuner aus der Ferne oder Gelächter aus einer Taverne wirkt unangenehm. Immer aufs Neue nimmt Clive Schritte unmittelbar hinter sich wahr. Nur selten laufen ihnen einzelne Stadtbewohner über den Weg, darunter ein paar Trunkenbolde, denen sie nur wenig Beachtung schenken.
Die Häuser und Straßen werden immer prachtvoller, desto weiter sie vorankommen. Ein gutes Zeichen. Sie nähern sich dem Anwesen des Grafen. Gerade, als Clive aufatmet und glaubt, das Schlimmste überstanden zu haben, erreicht ihn die Beschwerde eines fremden Mannes.
„Hey! Was läufst du hier mit einer Waffe herum? Steck die Waffe weg! Wenn dich die Soldaten erwischen, …“
Doch der Mann aus der Ferne wird unterbrochen.
„Sei still und kümmere dich um deinen Kram!“
Linus! Ohne Zweifel!
Reflexartig greift Clive nach Sina und drängt sie in eine Nebengasse, Hauptsache fern von der Hauptstraße.
„Endet das nie!“, jammert Sina leise.
Clive mag sie gerade darum bitten, ihre Lautstärke zu drosseln, aber kaum treffen sich ihre Augen, ist der Kopf wie leer gefegt. Sinas Erschöpfung verschlimmert sich. Sie mögen ihrem Ziel so nah sein und doch schwankt sie. Zu einem weiteren Wunder wird die Dame nicht mehr fähig sein, was bedeutet, dass er unweigerlich auf Mittel zurückgreifen muss, die Linus schaden werden. Allein beim Gedanken daran graut es ihm.
Schutz verspricht eine Nische an einem Haus. Eine Säule, woran eine blaue Prunkwinde hochrankt, bietet ein optimales Versteck für Sina. Daher führt er sie rückwärts an jenen Ort, um sie vor Linus zu verstecken. Noch befindet sich der Söldner nicht in Sichtweite. Etwas, das sich schon wenigen Augenblicken ändern wird. Körperliche Anstrengung sucht Clive vergebens bei dem Söldner. Linus wirkt auf den Alchemisten, als könne er noch Bäume ausreißen.
Kaum befindet sich Sina hinter der Säule versteckt, reicht ein Schulterblick, um dem Schrecken ins Gesicht zu blicken. Linus schreitet an ihnen vorbei. Seine großen Schritte überwinden in Windeseile große Distanzen. Clive traut sich kaum zu atmen, als er seinen Kumpel anvisiert. Der Schutz der Nacht mag ihn für Linus unsichtbar werden lassen. Für einige Minuten steht der Alchemist wie festgefroren. Sein Herz schlägt verdächtig laut. Linus entfernende Schritte hallen noch lange in der Gasse nach.
Als Clive glaubt, es wäre sicher, spricht er leise zu ihr: „Ich gehe nachsehen, ob die Luft rein ist. Warte hier.“
Er spürt, wie sie sich schüttelt, bevor sie ihn anfleht: „Nein, bitte bleib bei mir. Lass mich dich begleiten.“
„Das ist zu gefährlich.“
„Wir sind doch ein Team oder etwa nicht?“
Ein Argument, das den Alchemisten innehalten lässt. Denn bislang wirkte Sina misstrauisch und distanziert ihm gegenüber. Ihr Flehen kommt unerwartet. Sie spielte immer die Starke, aber Linus macht es ihr auch schwer. Er zeigte, dass sie ihn niemals unterschätzen sollte. Jung und schon so talentiert. Linus wird sicherlich viele Leute verängstigen.
„Also gut“, kaum spricht Clive die Worte aus, hört er, wie sie erleichtert aufatmet.
Er nimmt sie erneut an die Hand und sie schreiten leise zurück zur Hauptstraße. Aufmerksam und wissbegierig saugt Clives sämtliches Wissen auf. Auch von Linus. Sich aufs Gehör zu verlassen rettet ihm in dem Moment das Leben, als er ein leises Surren vernimmt. Ein Sprung zurück und er entkommt dem Tod haarscharf, als die gefährliche Schwertklinge um die Ecke saust. Zu seinem Glück wird der nächste Schwerthieb gebremst, bevor der Alchemist auf offener Straße enthauptet wird. Sein Retter eilt aus dem Nichts herbei und entwaffnet Linus innerhalb weniger Schwerthiebe.
Auch ohne Waffe gibt sich Linus nicht geschlagen. Ein Angriff mit der blanken Faust täuscht Clives Retter erfolgreich. Dabei bricht Linus den Angriff ab und ein akrobatischer Sprung bringt ihn direkt zu seinem verloren gegangenen Schwert, das er während einer Rolle aufhebt und schließlich in den Stand wechselt. Bevor sein Angreifer ihm diesen Erfolg versemmelt, begibt sich Linus auf Abstand, von wo er eine stabile Kampfhaltung annimmt.
Ein Schritt voran ins Mondlicht und ihr Retter entpuppt sich als Cuno. Allein der Blick des Paladins zeigt, dass ihn diese Wendung nicht überrascht. Fokussiert behält er Linus im Auge.
„Ich wusste doch, du bereitest Ärger“, richtet der Paladin seine Worte an Linus.
Statt sich auf ein Wortgefecht einzulassen, springt Linus voran und lässt mit dem Paladin die Klingen kreuzen. Cuno hält den Respekt gegenüber Linus Fähigkeiten nicht geheim, seine Augenbraue hebt sich vor Überraschung und mit großer Neugier verfolgt er aufmerksam das Bewegungsmuster seines Gegners. Für einen Moment wirkt es auf Außenstehende, als wären die beiden ebenbürtig. Dabei verschafft Cuno sich nur einen Überblick über die Fähigkeiten seines Gegenübers. Beim Kräftemessen scheint Linus bewusst zu werden, dass er keine Chance gegen den Paladin hat. Cuno schwingt sein Schwert meisterhaft. Seine Waffe ist kein Werkzeug, sondern ein verlängerter Arm. Immer wieder muss Linus einstecken. Keine tödlichen Schnittwunden, doch die Menge und der Blutverlust könnten das schnell ändern. Cuno gibt Linus kaum Zeit, für eine Strategie oder einen Gegenschlag.
Als Linus keuchend auf die Knie fällt, blickt Cuno voller Abscheu auf ihn herab. Der Söldner befindet sich in seiner eigenen Blutlache und seine Hände drücken sich gegen die tiefsten Schnitte. Doch ohne Behandlung wird Linus am Blutverlust sterben. Seine Kurzatmigkeit und die auffällige Blässe fordern Clive zum Handeln auf. Doch ein einziger Schritt und Cuno drückt ihn konsequent in den Hintergrund.
„Erklärst du mir dein Verhalten, Söldner?“, hinterfragt er kühl.
Linus lächelt verärgert, bevor er dem Paladin vor die Füße spuckt.
„Der König wird von eurem Verrat erfahren und dann seid ihr Todgeweihte. Ich habe meine Treue unter Beweis gestellt und sterbe ohne Reue. Schande über euch! Ihr, die einer Hexe verhelft!“
„Wie schade“, brummt Cuno mit gebleckten Zähnen.
Clive bedauert, wie die Reise mit dem Söldner endet. Er hat Linus lachen und scherzen gehört, auch wenn der Söldner sparsam mit Informationen um sich Schmiss und ein gesundes Misstrauen hegte, so hatten die beiden eine Menge Spaß bislang. Sie wären zwar keine besten Freunde geworden und doch bereut Clive diese Bekanntschaft nicht. Trotz diesem bitterem Ende.
Ein Schulterblick, der genug verkündet. Allein die erste Hilfe zu verhindern ließ Clive Böses ahnen. Die plötzliche Kälte in Cunos Blick spricht für eine Hinrichtung. Ein Anblick, dem der Paladin ihnen ersparen mag. Daher handelt Clive und schnappt sich Sina. Er führt sie fort von der Hinrichtung und fordert sie auf, nicht zurückzublicken, komme, was wolle. Gewissenhaft verkündet Cuno das Urteil. Ungeachtet von Linus bissigen Zwischenrufen und seinem Lachen voll Wahn und Rebellion. Das Schwert des Paladins trifft wenig später auf Widerstand und vibriert laut. Daraufhin kehrt unheilvolle Stille ein. Clive erschaudert unweigerlich und spürt den Kloß im Hals. Er konnte nichts tun für Linus. Ihn nicht aufhalten und überzeugen. Zurück bleibt ein bitterer Nachgeschmack und ein Gefühl von Reue, das sich anfühlt, als leben Käfer in seinem Bauch und wühlen in seinen Gedärmen und zerfressen ihn von innen. Eine unsichere Zukunft liegt vor ihnen. Sowie ein Begräbnis.




























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