EZC – Kapitel 3

„Oh, nein. Oh, nein“, erklang eine helle, aufgeregte Stimme.
„Oh, nein. Oh, nein“, kam es von einer ebenso aufgeregten, aber eher zwitschernden Stimme.
„Da hat bestimmt Malefiz ihre Finger im Spiel!“ Diese Stimme klang so hell wie die anderen, jedoch eher aufgebracht, statt aufgeregt.
Mühsam öffnete ich meine Augen. Es war dunkel, und eine wohltuende Wärme waberte um mich herum. Sie machte es mir schwer, mich zu konzentrieren.
„Sonnenschein“, erklang eine der hellen Stimmen, „du sollst diesen Namen nicht sagen!“
„Ja, das bringt Unglück …“
„Doch nicht Unglück“, unterbrach die erste Stimme die zweite entrüstet.
„Aber warum darf sie dann nicht den Namen sagen?“
Ein Stöhnen erklang, und ich war mir sicher, dass die Angesprochene gerade mit den Augen rollte. Was mich zu der Frage brachte, wer da sprach? Ich drehte meinen Kopf und hatte dabei das Gefühl, als wollte er nicht so, wie ich es mir vorstellte. Außerdem geisterte sofort die nächste Frage durch meine Gedanken: Warum war es so dunkel? Und wo war ich? Na gut, das waren zwei Fragen. Ich war mir sowieso sicher, dass bald noch weitere dazukämen. Deshalb war es egal, ob ich im Moment eine oder zwei hatte.
„Wer seid ihr und wieso sehe ich nichts?“, fragte ich. Oder, nein, versuchte ich zu fragen. Tatsächlich kam kein Laut aus meinem Mund, was mich natürlich noch mehr verwirrte.
„Viel wichtiger ist doch“, erklang die dritte Stimme mit sehr viel Nachdruck, „was wir jetzt mit ihr machen? Hierbleiben kann sie nicht. Sie bringt doch nur alles durcheinander.“
„Aber wo soll sie denn hin? Ich meine, immerhin ist sie hier einfach so aufgeploppt …“
„Aufgeploppt! Wie kommst du nur auf so ein unanständiges Wort? Aufgeploppt! Sie ist aufgetaucht oder erschienen. Da hat nichts Plopp gemacht.“
„Ja, ja, ja“, nörgelte die Ermahnte herum, „immer meckerst du nur. Dabei finde ich, sie ist wirklich wie ein kurzer, wirkungsvoller Plopp hier aufgetaucht.“
Und jetzt machten alle drei Stimmen mehrfach Plopp, als wollten sie es ausprobieren oder den Klang testen. War ich in einer Nervenheilanstalt? Irgendwie machte das Sinn, immerhin waren Malefiz und Sonnenschein ganz sicher keine gewöhnlichen Namen. Die kamen eher aus einem Spiel – vielleicht für kleine Kinder? Ich hob meine Hand, um an meinen Kopf zu fassen. Vielleicht trug ich eine Augenbinde, die es mir unmöglich machte, etwas zu sehen. Das könnte auch der Grund dafür sein, dass ich die Augen kaum geöffnet bekam.




Nervös schluckte ich, als ich merkte, dass ich keine Hände hatte, die ich kontrollieren konnte. Nun machte sich doch ein klein wenig Panik in mir breit. Konnte es sein, dass irgendetwas mit mir nicht stimmte? Ich versuchte krampfhaft, mich zurückzuerinnern. Da war ein Streit mit meinem Vater gewesen, mit dem ich mich normalerweise nie stritt. Ein grünes Augenpaar blitzte in meinen Erinnerungen auf. Es dauerte einen Moment, bis mir der Name dazu einfiel: Mara. Die neue Freundin von meinem Vater. Und jetzt strömten die Erinnerungen geradezu auf mich ein. Ich war wütend aus dem Haus gerannt, hatte nicht auf den Verkehr geachtet und war von einem Auto angefahren worden.
„Bin ich tot?“
„Ah! Sie kann reden!“ Drei bestürzte, helle Stimmen fingen an, wild durcheinander zu plappern, singen, zwitschern, so schnell, dass ich nichts mehr verstehen konnte. Zumindest wusste ich jetzt, dass diese drei Worte tatsächlich aus meinem Mund gekommen waren und ich wohl doch nicht tot war. Aber wo war ich und warum sah ich nichts?
Ich beschloss, es mit einer anderen Frage zu versuchen.
„Wo bin ich?“
Abrupt verstummte der aufgeregte Zwitscher-Sing-Sang.
„Sie weiß es nicht“, flüsterte ein Stimmchen. Wahrscheinlich hoffte die Sprecherin, dass ich sie nicht hörte. Aber taub war ich nicht, selbst wenn ich blind zu sein schien. Hatte das Auto mich so heftig erwischt, dass ich gelähmt war und sogar erblindet?
„Wir müssen es ihr sagen“, sagte die zweite Sprecherin.
„Gar nichts müssen wir“, widersprach die erste, „vielleicht verschwindet sie wieder von ganz allein.“
„Ich glaube immer noch, dass Malefiz …“
„Shh!“, kam es von den anderen beiden.
„Oh, jetzt stellt euch nicht so an! Die böse Hexe ist augenblicklich ganz woanders beschäftigt.“
Böse Hexe? Malefiz? Eine Erinnerung dämmerte in mir. Auch wenn fast nur noch der Name „Maleficent“ bekannt war, so handelte es sich um die böse Fee bei Dornröschen. Und eine der guten Feen hieß – Sonnenschein. Das musste ein Scherz sein, ein sehr schlechter Scherz. War ich gar nicht von einem Auto angefahren worden? War der Streit mit meinem Vater nur ein Albtraum, der jetzt in einem skurrilen Märchen von Dornröschen weiterging?
„Ich bin dafür, dass wir sie ignorieren“, sagte die erste Stimme, „wir ignorieren sie, bis sie weg ist. Vielleicht kann ich ein wenig putzen oder …“




„Oder wir finden heraus, was sie hier macht“, fiel Sonnenschein, die so gern den Namen Malefiz aussprach, ihr ins Wort. „Es muss ja einen Grund dafür geben, dass sie hier gelandet ist.“
Langsam fühlte ich mich genervt. Wieso ignorierten die drei mich? War es tatsächlich zu viel verlangt, wenn ich meine Fragen beantwortet haben wollte?
„Wo bin ich?“, sagte ich darum etwas lauter und mit mehr Nachdruck. Zumindest versuchte ich es. Aber in meinen eigenen Ohren erklangen meine Worte eher gehaucht, so wie vorhin. Fehlte es sogar meinen Stimmbändern an Kraft?
„Was glaubst du denn, wo du bist?“, fragte mich die erste Person. Sie klang ziemlich sarkastisch. Oder bildete ich mir das nur ein?
„Im Märchen von Dornröschen“, antwortete ich, obwohl ich genau wusste, dass das Unsinn war. Darum wunderte es mich auch nicht, dass alle drei lachten.
„Im Märchen …“, gluckste die erste, „…von Dornröschen …“, kicherte die zweite, „… glaubt sie“, lachte die dritte.
Sie nahmen mich offensichtlich nicht ernst. „Wo soll ich denn sonst sein? Wo soll es sonst eine Malefiz und eine Sonnenschein geben?“
„Bei allen guten Feen!“, keuchten alle drei erschrocken auf und eine schickte bestürzt hinterher: „Sie hat meinen Namen zusammen mit Malefiz genannt! Das bringt garantiert Unglück!“
„Den du selbst zu verantworten hast“, sagte die erste, „so oft, wie du die böse Fee mit Namen nennst!“
„Das ist etwas ganz anderes“, ereiferte sich Sonnenschein, „das weißt du genau, Flora. Ich käme nie auf die Idee, deinen Namen gleichzeitig mit ihrem Namen zu nennen.“
Jetzt reichte es mir. „Fauna, Flora und Sonnenschein, wenn ihr nicht wollt, dass ich die böse Fee gleichzeitig mit eurem Namen ausspreche, dann sagt ihr mir jetzt, wo ich bin!“
„Sie kennt meinen Namen“, kam es verwirrt von einer der zwitschernden Stimmen, „woher kennt sie meinen Namen?“
„Aurora muss ihn ihr verraten haben“, erklärte Flora. „Nun, vielleicht sollten wir den Bann von ihr nehmen. Es hat ja keinen Sinn, uns länger vor ihr zu verbergen, wenn sie ohnehin längst weiß, wer wir sind.“
„Nicht so has…“, begann Sonnenschein, doch zu spät, wie es schien.
Mit einem Schlag war die Dunkelheit um mich herum verschwunden. Ich saß an einem Baum gelehnt in einem Blütenmeer aus duftenden Waldblumen. Überall um mich herum glitzerte und funkelte es. Rasch schloss ich die Augen, so überwältigend hell und bunt war alles. Vorsichtig machte ich sie wieder auf. Nahm alles mit offenem Mund wahr und konnte es nicht glauben. War das der Himmel? Aber weshalb sollten die Dornröschen-Feen im Himmel sein?




„Das war zu früh!“, beschwerte sich Sonnenschein, und nun sah ich sie. Drei pummlige Feen schwirrten vor mir in der Luft herum. Glitzernde Funken wirbelten um sie herum, und mit einem Mal waren sie so groß wie ich. Sie sahen aus wie aus einem Zeichentrickfilm, einem sehr alten Zeichentrickfilm von Disney. Ich hatte mir mal alle Filme mit den Disney-Prinzessinnen angesehen, weil ich Märchen über alles liebte. Deshalb kannte ich sie auch. Aurora, Schneewittchen, Cinderella. Ebenso Rapunzel, Arielle und Die Schöne und das Biest. So beschwingt und wundervoll bunt diese Filme aus dem Studio von Disney auch waren, an mein Lieblingsmärchen Aschenputtel kamen sie nicht heran. Dieses herzzerreißende Märchen war meine absolute Lieblingsgeschichte. Mir hatte immer gefallen, dass die Stiefmutter und die Stiefschwestern nicht einfach so davonkamen. Mein kindliches Herz fühlte sich besänftigt, weil das Gute belohnt und das Böse bestraft wurde. Und insgeheim wünschte ich mir auch heute noch, dass es so wäre.
Allerdings erklärte das nicht, wieso ich in einem Wald auf einer blumenübersäten Lichtung saß, die, wie mit Glitzerdiamanten übersprüht, funkelte. Und weshalb drei seltsame Zeichentrickfeen vor mir standen. Das sah so … surreal aus.
Ich richtete mich auf und erkannte bestürzt, dass ich gar keinen Körper hatte! Ich war irgendwie – durchscheinend. Klang deshalb meine Stimme so gehaucht? Weil ich selbst nur ein Hauch war? Wie ein Luftzug, eine Windbö? Das musste ein Traum sein! Ein unschöner, immer schlimmer werdender Traum – ein Albtraum!
„Nun, eigentlich kannst du gar nicht hier sein“, erklärte mir Flora mit resoluter Stimme und strich über ihr voluminöses rotes Gewand.
„Auf diese Wiese kommen nur die guten Wesen, die leider viel zu früh verstorben sind“, fuhr Fauna, die Fee mit grünem Kleid, erklärend fort.
„Und du bist kein Wesen aus einem der Märchen“, stellte Sonnenschein fest, die kleinste und pummeligste der drei Feen. Sie trug ein blaues Kleid, genau so wie im Film. Jede der drei hatte einen farblich passenden Umhang und Spitzhut, der durch ein breites Band, das unter dem Kinn entlanglief, gehalten wurde. Es sah irgendwie niedlich aus. Oder besser: Es würde niedlich aussehen, wenn ich mir einen Zeichentrickfilm aus dem letzten Jahrtausend ansehen würde und nicht hier in dieser sonderbaren Welt gelandet wäre und es live erleben müsste.




„Es muss etwas falsch sein“, nahm Flora wieder das Wort auf. „Menschen, echte Menschen, gehören nicht hierher.“
Mein Herz schlug schneller, oder vielmehr hatte ich eine solche Unruhe in mir, dass es sich so anfühlte. Ein Blick an mir hinunter bewies mir nämlich, dass ich durchscheinend war und keine inneren Organe zu haben schien. Meine Kontur war erkennbar, doch eigentlich sah ich eher wie ein Nebelhauch aus, nicht wie ein bekleideter Mensch. War das hier so eine Art Hölle?
„Wir müssen sie unbedingt loswerden!“ Sonnenschein schwebte aufgebracht hoch und runter. „Wenn nun ein wirkliches Märchenwesen erscheint? Was geschieht dann?“
„Oh, da denke ich lieber nicht drüber nach“, erwiderte Fauna bestürzt, schlug sich auf die Wangen und flog nun auch aufgeregt hin und her.
„Beruhigt euch, wir bekommen das schon hin!“
„Könnte es nicht sein“, mischte ich mich in das Gespräch, „dass ich hier bin, um eine zweite Chance zu bekommen?“
„Zweite Chance?“, echoten alle drei und starrten mich ungläubig an.
„Ja, ich bin schließlich nicht freiwillig hier. Es gab einen hässlichen Streit. Mit meinem Vater.“ Ein erschrockener Ausruf der drei brachte mich kurz aus dem Konzept. Doch ich sprach weiter. „Seit er seine neue Freundin hat, läuft alles schief. Sie schikaniert mich …“
„Cinderella“, rief Sonnenschein dazwischen, was ein „Shh“ von Fauna und Flora auslöste.
„Und vorhin war ich so wütend, weil sie mich nicht gehen lassen wollte. Dabei wollte ich doch nur in den Klub, um Elio …“
„Der Ball mit dem Prinzen“, entfuhr es nun auch Fauna und ihre Augen leuchteten erwartungsvoll. Flora rollte nur stöhnend mit den Augen.
„Kein Prinz“, korrigierte ich, „ein Mitschüler von mir. Den alle Mädchen bewundern. Und ich wollte unbedingt in den Klub. Also bin ich davongelaufen und gegen ein Auto.“
„Eigentlich läuft Cinderella vom Ball weg und nicht zum Ball hin“, erklärte Sonnenschein stirnrunzelnd.
„Ja, sie hat das Märchen falsch gelebt“, stimmte Fauna zu. „Das heißt nämlich Schloss und nicht Klub.“
„Sie ist ein Mensch!“, brachte Flora mit Nachdruck hervor und fuchtelte energisch mit ihrem Zauberstab in der Luft herum. „Also kann sie gar nichts falsch gelebt haben. Sie ist keine Märchenfigur und gehört nicht hierher.“




„Da stimme ich dir zu, Flora.“ Ich nickte eifrig, hörte aber sofort wieder auf. Ein nickender Nebelhauch hatte ganz bestimmt nicht meine erwünschte Wirkung. „Das muss ein Versehen sein. Könnt ihr mich nicht zurück in meinen Körper schicken? Wenn ihr mich ein paar Minuten vor dem Unfall zurückschickt, dann werde ich mich auch nicht mit meinem Vater streiten, sondern zu Hause bleiben und mich brav benehmen.“
Die drei Feen blickten mich bedauernd an, und ich wusste sofort, was das zu bedeuten hatte.
„Okay, wenn nicht ein paar Minuten vor dem Unfall, dann eben nach dem Unfall. Ich bin doch nicht tot, oder? Wenn ich tot wäre, dann wäre ich nicht hier. Bitte, ihr müsst mich zurückschicken. Ich werde auch nie mehr davonlaufen oder mich mit meinem Vater streiten.“
Wieder nur dieser bedauernde Blick. Wenn ein Nebelwesen so etwas wie Atemnot oder Herzbeklemmung spüren konnte, dann kam es dem sehr nahe, was mich gerade überfiel. Steckte ich jetzt etwa in dieser bizarren Märchen-Totenwelt fest? So hatte ich mir das Ende von meinem Leben ganz bestimmt nicht vorgestellt.
„Ihr seid Feen und habt Zauberstäbe, bitte, ihr müsst doch etwas tun können.“ Hätte ich einen Körper, würden jetzt die Tränen fließen. So aber hauchte ich meine Worte nur verzweifelt vor mich hin. „Bitte, ich flehe euch an! Gebt mir eine zweite Chance. Ich bin doch kein schlechter Mensch. Bitte, bitte!“
Die drei Feen schwirrten in einen Kreis und steckten die Köpfe zusammen. Sie flüsterten so schnell miteinander, dass ich erneut nur einen Zwitscher-Sing-Sang vernahm. Nach einer endlos erscheinenden Zeit wandten sie sich mir wieder zu.
„Nun gut …“, sagte Sonnenschein, „… da du so darum bittest …“, sprach Fauna weiter, „… gewähren wir dir eine zweite Chance“, vollendete Flora den Satz.
„Danke, danke, danke!“, rief ich freudestrahlend und schwebte auf die Feen zu, hielt aber inne, weil ich sie in meiner Nebelgestalt gar nicht umarmen konnte. Ich war nicht einmal sicher, ob sie mein freudiges Gesicht erkennen konnten.
„Aber …“, begann Fauna, „… beschwere dich hinterher nicht …“, fuhr Sonnenschein fort, „… wenn es dir nicht gefällt“, vollendete erneut Flora den Satz.
Danach schwangen alle drei ihre Zauberstäbe. Ein Regen an silbrigen und goldenen Funken fiel auf mich herab und hüllte mich ein. Der Feenglitzer wurde immer dichter, bis die funkelnde Wiese verblasste, die bunten Gewänder der Feen hinter einer flirrenden, silbrigen Wand verschwanden und mich erneut vollkommene Stille und Dunkelheit umfingen.




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