EZC – Kapitel 5

„Oh, nein. Oh, nein“, rief Fauna bestürzt und starrte auf die junge Frau, die auf der glitzernden Blumenwiese auftauchte.
„Oh, nein. Oh, nein“, klagte Flora und schlug beide Hände an ihre Wangen, „das kann doch nicht wahr sein!“
„Da hat Malefiz ihre Hände im Spiel“, jammerte Sonnenschein.
„Sonnenschein“, riefen Fauna und Flora empört, „du sollst diesen Namen nicht sagen!“
„Aber wenn es doch wahr ist! Noch nie haben wir Cinderella bei uns gesehen.“
„Ich bin Aschenputtel“, meldete sich diese zu Wort. „Wer ist Cinderella? Und wo bin ich?“
„Na, seht ihr?“, ereiferte sich Sonnenschein. „Sie ist nicht einmal Cinderella, also gehört sie hier noch viel weniger hin.“
„Aber das hat doch nichts mit … ihr … zu tun.“ Flora schüttelte abwehrend den Kopf.
„Ha, mit wem denn sonst?“
„Woher soll ich das wissen? Ich bin hier schließlich nicht für die magischen Märchenlinien zuständig.“
„Eine billige Ausrede“, empörte sich Sonnenschein und blickte Flora mit gerümpfter Nase an.
„Könnt ihr aufhören, zu streiten?“, versuchte Fauna zu schlichten. „Hier geht es doch um so viel mehr, als einige verirrte Märchenlinien.“
„Ach, um was dann? Wenn es nicht Malefiz ist und keine falsche Magiemärchenlinie, was beschert uns dann ständig falsche Märchenfiguren in unserer Welt?“
„Darf ich …“, setzte Aschenputtel an, zu sprechen.
„Nein!“, antworteten alle drei Feen und blickten sie entrüstet an. Allerdings nur sehr kurz – für höchstens eine Sekunde. Dann drehten sie sich wieder weg und diskutierten eifrig weiter.
„Du weißt schon, Sonnenschein, dass das Mädchen vorhin keine Märchenfigur war?“
„Und Aschenputtel …“ Alle drei Feen blickten so heimlich wie möglich zu der Person hinüber, die ein glitzerndes, voluminöses Ballkleid trug, wie es nur eine echte Prinzessin tragen konnte. „… sieht auch nicht wirklich nach einer unserer Märchenfiguren aus. Vielleicht stammt sie aus derselben Welt wie die vorherige Person“, schloss Flora ihre Bemerkung.
„Aber Aschenputtel ist doch kein Name. Wie klingt das denn? Ich kenne keine Mutter, die ihr Kind so nennen würde.“ Sonnenschein verschränkte die Arme vor ihrer Brust, wobei ihr Zauberstab ein wenig im Weg war. Aber dann gelang es ihr und sie sprach weiter. „Hans, Kai, Gerda, Anna, Elsa – das sind Namen von echten Menschen. Aschenputtel muss eine Märchenprinzessin sein, aus irgendeinem falschen Märchen, das Malefiz durcheinandergebracht hat.“




„Sonnenschein, hör endlich auf, den Namen zu sagen!“, mahnte Flora, obwohl sie wusste, es war vergeblich. Eine Weile schwiegen sie und flogen nachdenkend ein wenig umher. Dann aber blickten sie alle drei gleichzeitig zur jungen Frau hinüber. Sie schüttelten ihre Köpfe und seufzten. Es blieb ihnen wohl nichts anderes übrig, als mit dieser zweiten falschen Person ins Gespräch zu kommen.
Sie schwebten zu dem geduldig wartenden Mädchen und beäugten es wie eine gefährliche Frucht.
„Woher kommst du“, fragte Flora geradeheraus und schwebte etwas dichter heran.
„Ich war soeben auf dem Ball von unserem König. Ich habe mit dem Königssohn getanzt.“ Aschenputtel bekam einen verklärten Gesichtsausdruck mit einem leicht entzückten Lächeln. „Als ich kurz vor Ende des prächtigen Balls nach Hause geeilt bin …“
„Hast du deinen gläsernen Schuh auf der Treppe verloren!“, riefen die drei Feen und machten große Augen. Das klang doch alles sehr nach dem Märchen von Cinderella.
„N… nein“, stotterte Aschenputtel verwirrt und schüttelte den Kopf. „Ich bin seltsamerweise auf der Steintreppe ausgerutscht. Oder hängengeblieben? So genau weiß ich es gar nicht. Auf jeden Fall stolperte ich sie hinunter. Dann war alles dunkel, bis ich hier in diesem glitzernden Farbenmeer aufwachte.“ Sie blickte nachdenklich und hob einen Finger an ihr Gesicht. Damit tippte sie auf die Unterlippe, ehe sie rasch hinzufügte: „Und gläserne Schuhe gibt es gar nicht. Ich trug goldene Tanzpantoffel. Glasschuhe würden doch zerbrechen.“
Fauna, Flora und Sonnenschein flogen ein wenig von dem seltsamen Geschöpf weg und flüsterten miteinander.
„Es gibt hier ein großes Problem“, erklärte Flora.
„Ja, da stimme ich zu“, sagte Fauna.
„Ich auch“, sagte Sonnenschein, „und deshalb ist Malefiz die Ursache. Nichts anderes könnte hier alles so durcheinander bringen. Wir hatten noch nie Menschen in unserer Welt. Wo sollen wir Aschenputtel denn hinschicken? Es gibt kein Märchen, in das sie passt.“
„Wenn ich es mir recht überlege“, meinte Flora und tat so, als hätte Sonnenschein gar nichts gesagt. Solange sie die böse Fee nannte, kam sowieso nichts Hilfreiches aus deren Mund. Also war es besser, sie einfach zu ignorieren. „… dann müsste diese Aschenputtel unsere Cinderella sein.“




Ein empörter Ausruf der beiden anderen Feen unterbrach sie kurz. Alle drei blickten zu der bezaubernd anzusehenden jungen Frau. Ihr Liebreiz war wirklich unübersehbar. Es gab eigentlich niemanden, der noch anmutiger aussehen konnte. Vielleicht war sie wirklich Cinderella? Oder eine Schwester von ihr? Sie seufzten und Flora sprach weiter.
„Cinder ist ein anderes Wort für Asche. Ich denke nicht, dass das ein Zufall ist. Zudem kommt sie …“
„Von einem Ball!“, fiel Fauna mit großen Augen ein. „Sie hat mit dem Königssohn getanzt. Genauso wie unsere Cinderella!“
„Aber sie hat keine gläsernen Schuhe“, wandte Sonnenschein mürrisch ein. Sie zupfte an ihrem blauen Kleid und flog aufgeregt hoch und runter und hin und her. „Sie kann nicht …“
„Sie kann doch“, unterbrach Flora rigoros. „Sie kommt sicherlich aus einem Märchen. Vielleicht erzählt man sich in einem anderen Land die Geschichte von unserer Cinderella ein klein wenig anders.“
Wieder linsten alle drei hinüber. Sonnenschein unterbrach dafür sogar ihr aufgeregtes Herumfliegen. Schließlich nickten sie bekräftigend. Das konnte der Lösung für ihr Problem sicherlich nahekommen.
„Sie ist für einen Menschen viel zu ruhig und gesittet“, erklärte Flora weiter.
„Ja, da hast du recht.“ Fauna stimmte eifrig zu. „Ich habe nie einen Menschen erlebt, der so lange so geduldig herumsitzt.“
Sonnenschein schüttelte unmutig den Kopf und schwirrte, den Zauberstab schwenkend, umher. „So ein Unfug, du hast überhaupt noch nie einen echten Menschen gesehen. Und nun sag nicht, das Mädchen vorhin sei ein echter Mensch gewesen. Sie war doch nur eine Nebelgestalt. Sie zählt nicht.“
Flora machte ein knurrig-stöhnendes Geräusch und wirbelte mit ihrem Zauberstab herum, sodass ein Glitzerregen über sie alle hinunterfiel. Und schon verloren alle drei Feen ihre Flügel und plumpsten zu Boden.
„Was soll das denn?“, fragte Fauna erstaunt.
„Ja, das wüsste ich auch gern“, schimpfte Sonnenschein und rieb ihre Kehrseite. „Uns einfach so fallenzulassen. Das ist unhöflich.“ Sie richtete sich auf und strich den Schmutz von ihrem hübschen blauen Kleid.
„Ihr sollt aufhören, zu streiten“, erklärte Flora mit Nachdruck. Auf ihrer Stirn hatte sich eine unschöne Zornesfalte gebildet. „Vielleicht hilft es euch beim Denken, wenn ihr wie Menschen auf der Erde herumspazieren müsst. Und jetzt lasst uns überlegen, ob vielleicht unser Zauber vorhin der Grund für Aschenputtels Erscheinen ist.“




„Unser Zauber?“ Sonnenschein klang empört.
„Unser Zauber?“, sagte auch Fauna, doch sie klang nachdenklich.
„Ja, unser Zauber. Vielleicht haben wir das mit der Bitte um eine zweite Chance ein wenig falsch ausgelegt.“ Floras Wangen färbten sich dezent rot. Es war ihr peinlich, dass sie unter Umständen selbst an diesem Chaos verantwortlich waren.
„Aber was machen wir denn jetzt?“, fragte Fauna bestürzt. „Vielleicht ist es besser, wir ignorieren sie und warten ab?“
„Abwarten? Dass noch mehr passiert?“ Sonnenschein lief unwillig hin und her. Dabei verfingen sich ihre Schuhe in Gräser und kleine Zweige, die auf dem Boden lagen. Als sie fast hinfiel, blieb sie stehen und stemmte die Arme in die Seiten. „Nicht mit mir!“, rief sie aufgebracht und wedelte mit ihrem Zauberstab herum und schon hatte sie wieder ihre geliebten Flügel. „Ich muss fliegen. Sonst kann ich nicht richtig nachdenken. Zu Fuß laufen, so ein Unsinn. Feen können doch nicht besser denken, wenn ihnen die Füße schmerzen vom vielen Laufen und sie über alles stolpern, was auf dem Boden herumliegt. Und Abwarten können wir nicht. Nachher haben wir hier ein ganzes Schloss voller falscher Personen. Nicht auszudenken, wenn mit einem Mal dutzendweise Cinderellas aus fremden Ländern hier auftauchten!“
„Nun, so ganz schlecht ist Faunas Vorschlag nicht“, erklärte Flora. „Nörgle nicht immer gleich, Sonnenschein. Vielleicht sollten wir wirklich warten. Immerhin ist Aschenputtel keine Nebelgestalt. Das ist schon einmal ein gutes Zeichen und eine Verbesserung zu dem Mädchen vorher.“
„Ja, da stimme ich zu!“ Fauna wirkte erleichtert. „Warten ist sicherlich die allerbeste Möglichkeit, um dieses Problem zu beseitigen.“
„Warten“, schimpfte Sonnenschein ungeduldig, „darauf hofft Malefiz doch nur, dass wir nichts tun. Ich auf jeden Fall warte nicht. Ich überlege jetzt, wie wir Aschenputtel wieder loswerden.“ Und damit flog sie hoch und runter und hin und her. Dabei versprühte sie so viel Feenglitzer, das sie bald in einer bunten Wolke verschwunden war.
Fauna und Flora sahen einander an. Schließlich zuckten sie mit den Schultern und eilten zu Aschenputtel hinüber. Vielleicht konnten sie mit ihr gemeinsam abwarten. Oder auch bei einer vollmundigen Tasse Tee besprechen, wie sie weiter vorgehen sollten. Und wenn es dazu ein wenig Gebäck gäbe, wäre das auch nicht schlecht. Ein nettes Plauderstündchen und viel Geduld brachten sicherlich einiges wieder in Ordnung. Und falls nicht, nun, vielleicht hatte Sonnenschein sich bis dahin eine andere Lösung ausgedacht.




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